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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Auf den Kopf gestellt Mark Brenner* zum Verhältnis von Gewerkschaften und Occupy Das Verhältnis von Gewerkschaften und Occupy-Bewegung stellt sich in den USA anders dar als in Deutschland. Das hängt sowohl an der jeweiligen Occupy-Bewegung als auch an der jeweiligen Gewerkschaftslandschaft. Wir dokumentieren hier eine – ziemlich euphorische – Einschätzung zum Einfluss der Occupy-Bewegung auf die Gewerkschafts- und Arbeiterbewegung von Mark Brenner und stellen diese der sehr viel skeptischeren Position von Evan Rohar, beide Mitarbeiter bei Labornotes, gegenüber. Anfangs war es nur ein Campieren mehrerer hundert, meist junger Leute in New Yorks Finanzviertel. Inzwischen hat sich die Bewegung zu einem globalen Protest gegen die unkontrollierte Macht der Konzerne und die erschütternde Ungleichheit bei der Verteilung der Einkommen ausgewachsen. In knapp einem Monat wurde Occupy Wall Street zu einem starken Symbol für das, was alles nicht stimmt mit der US-Ökonomie, von hoher Arbeitslosigkeit bis hin zu erdrückenden Schulden der Studierenden. Dank anhaltender Proteste sind die Banker und Milliardäre wieder ins Scheinwerferlicht gerückt – dafür, dass sie den Finanzcrash provoziert haben und nun der Allgemeinheit die Rechnung aufbürden. Im ganzen Land, von Maui bis Maine, finden Occupy-Aktionen statt. Und am 15. Oktober wurde der Protest global – mit abgestimmten Demonstrationen in über 1 000 Städten in 87 Ländern. Viele Gewerkschaften wurden nach zwei Wochen Zögern zu enthusiastischen Unterstützern von Occupy Wall Street. Sie veranstalteten Kundgebungen, organisierten gemeinsame Aktionen und stellten den Occupy-AktivistInnen Essen, Decken und medizinische Versorgung zur Verfügung. »Wir haben Occupy Wall Street unterstützt, weil wir die Aussagen der Protestierenden zu 99 Prozent teilen«, stellt Marvin Holland fest, verantwortlich für kommunale Aktionen beim Local 100 der Transport Workers Union (TWU). Das Local vertritt 38 000 Bus- und U-Bahn-Fahrer. »Sie haben absolut recht: Die Banken haben das Problem verursacht.« Holland betont, dass Teile der TWU-Basis bei den Protesten von Anfang an dabei waren. Seit die Protestierenden am 17. September den Zucotti-Park in New York besetzten, haben die AFL-CIO, gut zwei Dutzend landesweite Gewerkschaften sowie ungezählte lokale Mitgliedsgewerkschaften Occupy Wall Street unterstützt. Der Debatte eine neue Richtung geben Die Arbeiterbewegung hat Occupy Wall Street zu ihrer Herzensangelegenheit gemacht, weil dieser Bewegung gelungen ist, was die Gewerkschaften nicht geschafft haben: die Aufmerksamkeit des Landes wieder auf die zu richten, die den größten wirtschaftlichen Zusammenbruch seit der Großen Depression zu verantworten haben, und auf die Frage, wer dafür bezahlen muss, den Schlamassel aufzuräumen. Zweieinhalb Jahre lang kam die Arbeiterbewegung nicht aus der Defensive heraus: Da waren die staatlichen Finanzspritzen für die Autoindustrie, die Gesundheitsreform und die Rede von den ›gierigen‹ Beschäftigten des öffentlichen Sektors. Die Gewerkschaften haben unter Aufwendung unbezifferbarer Energien und Ressourcen versucht, die öffentliche Meinung in eine andere Richtung zu drehen. Von der Kundgebung »One Nation« im Herbst 2010 bis zu den Solidaritätsaktionen der AFL-CIO mit den Protestierenden von Wisconsin im April 2011 [s. Berichte in express, Nr. 5 und 6/2011] hat die Arbeiterbewegung sich abgemüht, die donnernde Rhetorik vom alternativlosen Sparen und den gierigen Gewerkschaften zum Schweigen zu bringen. Einige Gewerkschaften – allen voran die Service Employees mit ihrer Kampagne »Fight for a Fair Economy« (Kämpft für eine gerechte Wirtschaft) und die Gewerkschaft der Krankenschwestern und -pfleger National Nurses United mit der Kampagne »Main Street Contract for America« (mit Forderungen wie Existenzlöhne, bezahlbare Bildung und Gesundheitsversorgung sowie gewerkschaftliche Organisierung für alle) – haben die Neuorientierung der Debatte über die US-Ökonomie zur zentralen Stoßrichtung ihrer Aktivitäten gemacht. Aber abgesehen von den Unruhen in Wisconsin hat keine der gewerkschaftlichen Bemühungen das Bewusstsein der Menschen im Land so aufgerüttelt wie Occupy Wall Street. »Die Bewegung hat wirklich einen Nerv getroffen und vieles ausgelöst«, sagt Jason Chambers. Er hat zehn Jahre lang in einer Stahlfabrik gearbeitet und ist nun Zeltaktivist der ersten Stunde mit Occupy Boston auf dem Dewey Square. »Die Leute haben einfach genug davon, dass die Banken mit Steuergeld gerettet wurden und jetzt immer noch nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Gleichzeitig stehen im ganzen Land unsere Rechte unter Beschuss.« Angesichts der Occupy-Bewegung mussten sich GewerkschaftsaktivistInnen umstellen. Sie waren das Fehlen klarer Forderungen oder eindeutig identifizierbarer Führungsfiguren nicht gewohnt. Etlichen hat das neue Horizonte eröffnet: »Bei der Vollversammlung von Occupy Boston habe ich zum ersten Mal in meinem Leben echte Demokratie erlebt«, berichtet Chambers, Stahlarbeiter in der dritten Generation, eingefleischter Fan des lokalen Eishockey-Teams und, wie er selbst sagt, »ein ganz normaler Typ«. Die Erfahrung mit der Occupy-Bewegung hat auf ihn und seine Kollegen tiefen Eindruck gemacht: »Meine Entscheidung zählt, und meine Stimme wird gehört. Es ist eine unglaubliche Erfahrung, einen Beitrag leisten zu können.« Perfekte Ergänzung Mit dem meteoritenhaften Aufstieg von Occupy Wall Street wächst der Druck zu klären, wer das Sagen hat und was die Protestierenden wollen. Die Gewerkschaften sollten die Occupy-AktivistInnen allerdings nicht drängen, über den Demonstrationsslogan »Wir sind die 99 Prozent!« hinauszugehen. Sie sollten die Bewegung lieber als strategischen Verbündeten behandeln – ein Megaphon und ein Vergrößerungsglas für alle kontinuierlichen Kämpfe der Arbeiterbewegung, von den Entlassungen im öffentlichen Sektor bis hin zum Schutz der Renten. Gemeinsam ergänzen sie sich perfekt: Occupy Wall Street kristallisiert die Probleme unserer auf den Kopf gestellten Ökonomie im Großen Ganzen, und die Arbeiterbewegung liefert konkrete Belege für die Exzesse der Unternehmen – und klare Ziele für eine Bewegung, die bereit ist, auf die Straße zu gehen. Das ist eine Kombination, die schon früher in Bezug auf Herausforderungen im ›langen Winter‹ der Konzernherrschaft gut funktioniert hat: von lokalen Kämpfen für Existenzlöhne und Aktionen der Campus-Be-schäftigten bis hin zu Unruhen, die die Arbeiterbewegung mit neuen Verbündeten zusammenbrachte, wie z.B. der Bewegung für globale Gerechtigkeit, die 1999 um die »Battle in Seattle« gegen die dort stattfindende WTO-Ministerkonferenz entstand. Ein Vorschein dessen, was möglich ist, war bereits in der ersten Woche der Proteste von Occupy Wall Street zu sehen, als ein Dutzend Leute eine Kunstauktion bei Sotheby’s störten. Die Protestierenden traten als potenzielle Bieter auf und unterbrachen den Auktionator wiederholt mit Unterstützungsslogans für 43 im Teamsters-Local 814 organisierte Sotheby’s-Beschäftigte, die am 1. August von dem Nobel-Kunsthändler ausgesperrt worden waren. In Boston schlossen sich Hunderte Occupy-AktivistInnen den Electrical Workers und ihren Verbündeten an, als diese ein Geschäft des Mobilfunkbetreibers Verizon Wireless umzingelten. Die Aktion zur Unterstützung von 45 000 Verizon-Beschäftigten, die seit langem um einen angemessenen Tarifvertrag kämpfen, endete mit 45 Festnahmen und einer verstopften Innenstadt. In Chicago hatten GewerkschaftsaktivistInnen auf Initiative der Service Employees bereits enge Verbindungen mit anderen Akteuren in der Kommune geknüpft. Gemeinsam hatte man das Bündnis »Stand Up Chicago« gebildet. Der Sommer wurde dann allerdings damit vergeudet, Bankern und ihren Wasserträgern aus der Politik in der Hoffnung auf Statements hinterherzujagen. In der Zwischenzeit gewann »Stand Up Chicago« dank der Occupy-Aktiven neue Energie. Tausende versammelten sich am 10. Oktober vor den Konferenztüren von Wall-Street-Händlern und Hypothekenbankern. Nach einer Konfrontation mit der berittenen Polizei und zwei Dutzend Festnahmen fanden sich die Protestierenden jeden Tag für kreative Aktionen neu zusammen. Occupy-AktivistInnen veranstalteten eine Aktion mit langjährigen Wohnraum-Besetzern. Sie brachten Müll und weggeworfene Möbel von einem verrammelten Haus, das der Bank of America gehört, zu einer von deren Innenstadt-Filialen. Eine Demonstration mit tausenden TeilnehmerInnen prangerte an, wie wenig die Arbeitslosen der Stadt von den Millionen haben, die zum Wohl der Unternehmen über diesen ausgeschüttet wurden. An einem anderen Tag lag das Augenmerk auf den Millionen, die aus dem städtischen Bildungsbudget abgesaugt werden – etwa durch Steuererleichterungen (z.B. das 15-Millionen-Geschenk an die Chicagoer Börse) und durch kapitalmarktbasierte Versicherungen, die Wall-Street-Insider an das Chicagoer Schulsystem verhökern und die dort jährlich bis zu 36 Mio. Dollar an Kosten verursachen. Eine Trolley-Tour brachte LehrerInnen und Occupy-AktivistInnen in direkten Kontakt mit den Händlern und Bankern, die die städtischen Schulen abzocken. Das wiederum verschärfte die Konfrontation zwischen Bürgermeister Rahm Emanuel, einem ehemaligen Investmentbanker, und der Lehrergewerkschaft Chicago Teachers Union. Wo führt das hin? Diese Aktionen beginnen an dem konventionellen Diktum zu nagen, es gäbe keine Alternative zu Budgetkürzungen und Arbeitslosigkeit, indem sie direkt das eine Prozent ins Visier nehmen, das unverschämt reich geworden ist, indem es uns Übrige auspresst. Dank der Occupy-Bewegung tauchen jeden Tag neue Flying Squads auf – bereit, sich dem Kampf anzuschließen. Die Occupy-Leute planen kreative Störungen à la »Torte ins Gesicht« beim Bankerkongress oder Konfetti auf der Konzern-Cocktailparty. Allein in New York sind seit Protestbeginn über 1 000 Verhaftungen zu zählen. Und es werden wohl nicht die letzten gewesen sein, wenn die Protestierenden und ihre Verbündeten aus der Arbeiterbewegung weiterhin das Business-as-usual stören – und wenn sie vom eher symbolischen zivilen Ungehorsam zu echten Blockadeaktionen übergehen. Die können eine große Macht entfalten, wie im letzten Herbst zu sehen war: bei den mobilen Streikposten bei Verizon und bei den Hafenarbeitern im Bundesstaat Washington, die Züge daran hinderten, Streikbrecher im Hafen mit Getreide zu beliefern. Doch die wichtigsten Lektionen, die GewerkschaftsaktivistInnen von den Erfahrungen mitnehmen können, die sie Schulter an Schulter mit den Occupy-AktivistInnen gemacht haben, sind deren Wagemut und ihre felsenfeste Selbstverpflichtung auf direkte Demokratie. Nach einer jahrelangen Serie von Niederlagen jagen Gewerkschaftsführer instinktiv dem »politisch Möglichen« nach. Die Occupy-AktivistInnen haben diese herkömmliche Orientierung auf den Kopf gestellt, indem sie sich nicht darauf konzentrieren, was wir kurzfristig erreichen können, sondern darauf, was wir brauchen. Der Boden für einen neuen Common Sense ist bereitet, und die Samen treffen gerade auf die Erde. * Mark Brenner ist Mitglied der Redaktion der Labor Notes. (Erschienen in: Labor Notes, Nr. 392, November 2011), Übersetzung: Anne Scheidhauer (TIE-Bildungswerk e.V.) Erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 2/12 express im Netz unter: www.express-afp.info , www.labournet.de/express |