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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Dünnes Eis Andreas Bachmann über das Prinzip der Tarifeinheit und Neues vom Streikrecht Zwei jüngere Gerichtsentscheidungen zum Streikrecht und vor allem deren Rezeption in der politischen und juristischen Öffentlichkeit markieren den deutschen Sonderweg des Arbeitskampfrechts, demzufolge Arbeitskämpfe nur in einem kanalisierten, rechtlich eingehegten Raum stattfinden sollen. Streiks sind offenbar nur dann gesellschaftlich und rechtlich akzeptiert, wenn sie sich innerhalb des gesetzlich geregelten Tarifsystems bewegen. Zum Ersten geht es um die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom 24. April diesen Jahres, in der die Zulässigkeit von so genannten »Tarifsozialplänen« anlässlich der Auseinandersetzung um die (Teil-) Schließung des Kieler Standorts der Heidelberger Druckmaschinen AG (HDM-AG) verhandelt wurde [1]. Der regionale Arbeitgeberverband klagte gegen die IG Metall, die für den Standort Kiel ein umfangreiches Kompensationspaket inklusive verlängerter Kündigungsfristen, umfangreicher Fortbildungsangebote und verbesserter Abfindungszahlungen durchsetzen wollte. Der Arbeitgeberverband machte geltend, dass die mittelbaren Folgekosten der Tarifforderung faktisch prohibitive Auswirkungen hinsichtlich der Teilschließungsoption haben würden und dass die IGM es eben auf diesen Sperreffekt angelegt hätte. Das Bundesarbeitsgericht entschied gegen den Arbeitgeberverband und setzte damit auch andere Akzente als manche Landesarbeitsgerichte, die weitgehende Sozialtarifforderungen anlässlich von Standortschließungen und Umstrukturierungen als unzulässige Kompetenzüberschreitung der Tarifpolitik in einen unterstellten rechtlich geschützten Kernbereich unternehmerischer Autonomie und Berufsfreiheit identifizieren wollten. Das BAG hat damit den Handlungsraum gewerkschaftlicher Tarifpolitik, die in unternehmerische Umstrukturierungsprozesse im Konzernumfeld intervenieren will, zumindest konsolidiert. Das spektakulärste Beispiel für solche tarifpolitische Interventionen ist der Streit und Streik um den AEG-Standort Nürnberg im Electrolux-Konzern. Im konkreten Fall der HDM-AG machten die RichterInnen deutlich, dass Sozialtarifpläne sowohl als Verbands- als auch als Firmentarifvertrag mit den dazugehörigen Arbeitskämpfen möglich sind. Die betriebsverfassungsrechtliche Regelungsebene ist weder vorrangig, noch kann sie tarifliche Regelungen verdrängen. Außerdem bemerkt das Bundesarbeitsgericht, dass eine »gerichtliche Kontrolle von Streikforderungen, die auf tariflich regelbare Ziele gerichtet sind, nicht mit dem Grundrecht nach Art. 9 III GG (Koalitionsfreiheit) zu vereinbaren ist.« Damit läuft künftig ein Argumentationsraster der Arbeitgeber ins Leere, das auf die im Einzelfall möglichen prohibitiven Auswirkungen von Sozialtarifplanforderungen abstellt. In zugespitzten Fällen könnte die unternehmerische Grundentscheidung – Schließung oder radikale Umstrukturierung – durch mittelbare Unwirtschaftlichkeit in Folge des Sozialplantarifvertrags erschüttert werden. Offen bleibt, wie das BAG eine Streikforderung einer Tarifkommission beurteilen würde, die unmittelbar auf die Abwehr einer Unternehmerentscheidung, wie z.B. eine Standortschließung, gerichtet ist. In der Kieler Auseinandersetzung sah das BAG keine Anhaltspunkte für ein unmittelbares Regelungsziel der IG Metall in dem Sinne, die unternehmerische Grundentscheidung über eine Tarifregelung rückgängig zu machen. Bereits Ende 2006 machte der Augsburger Rechtsprofessor Herbert Buchner einen Vorstoß, die Tarifkompetenz der Gewerkschaften bei Umstrukturierungsauseinandersetzungen – also Konflikten um die Unternehmenspolitik – gesetzlich einzuschränken und sogar das Streikrecht bei diesen Tarifforderungen teilweise zu suspendieren. Außerdem plädiert er für eine gerichtliche Inhalts- und Verhältnismäßigkeitsprüfungskompetenz bei Sozialplantarifverträgen [2]. Anders das BAG, das eine Prüfungskompetenz der Arbeitsgerichte hinsichtlich der Angemessenheit von Streikforderungen ausdrücklich verneint. Fränkische Geisterbahn Ganz anders wiederum das Arbeitsgericht Nürnberg im zweiten Fall, das sich im Konflikt um den Tarifkampf der Lokführergewerkschaft GDL die gerichtliche Prüfungskompetenz bezüglich der Angemessenheit bzw. Verhältnismäßigkeit von Streikzielen und Streikforderungen kurzerhand genommen hat [3]. Während der anschließend vereinbarten Schlichtungssequenz bis zum 30. September diesen Jahres ruhte die gerichtliche Folgenbearbeitung der einstweiligen Verfügung der fränkischen Arbeitsrichter. Man kann mit einiger Sicherheit vermuten, dass die Nürnberger Entscheidung – fränkische Geisterbahn – bei den nächsten gerichtlichen Instanzen so keinen Bestand haben wird. Entscheidend ist vielmehr, welche politischen Impulse durch die Nürnberger Verfügung ausgelöst wurden und welche Argumente den Kräften zugespielt wurden, die nach den Erfahrungen mit dem Ärztestreik den Handlungsspielraum für radikalere Forderungen für Berufsgruppengewerkschaften bzw. Gewerkschaften überhaupt beschränken möchten. Die Nürnberger Entscheidung ist in vielfacher Hinsicht einzigartig: Neben den Streikfolgen beim Arbeitgeber wird ein »immenser volkswirtschaftlicher Schaden« beschworen, der bei der Abwägung des Gerichts gegen die vorläufige Untersagung der GDL-Arbeitskampfmaßnahmen zu stellen wäre. Warum hält sich das Nürnberger Gericht für eine Inhaltsprüfung von Tarifvertragsforderungen befugt? Warum halten die Nürnberger RichterInnen den Streik der GDL für rechtswidrig und unverhältnismäßig? Das alles beruht auf der Rechtsaufassung der Nürnberger RichterInnen, dass der angestrebte Lokführertarifvertrag wegen der Grundsätze der so genannten Tarifeinheit niemals zur Anwendung kommen könnte. Mit anderen Worten: Das Nürnberger Arbeitsgericht lokalisiert den Streik und die Forderungen der GDL quasi außerhalb des Tarifsystems. Die richterliche Brandmarkung der negativen Streikfolgen – die ja jedem effektiven Streik immanent sind – oder die Beschwörung eines nationalen volkswirtschaftlichen Gesamtinteresses als Rechtsschranke von Arbeitskämpfen ist bis weit in die DGB-Gewerkschaften kritisiert worden. Der arbeitsrechtliche Boden, auf dem die fränkische Geisterbahn und die dazugehörigen rechtlichen Gespenster überhaupt entwickelt werden konnten, ist die Argumentation der Tarifeinheit. Hier handelt es sich um eine rechtliche Fata Morgana des Bundesarbeitsgerichts, bei der aus rein praktischen Erwägungen heraus die Anwendung unterschiedlicher Tarifverträge unterschiedlicher Gewerkschaften in einem Betrieb im Regelfall ausgeschlossen werden soll. Tarifeinheit bedeutet, dass der gewichtigere Tarifvertrag – wie auch immer die Gewichtung vorgenommen wird – alle anderen Tarifverträge verdrängt. Dass hier eine belastbare verfassungs- oder arbeitsrechtliche Grundlage fehlt und dass das Grundrecht auf Koalitionsfreiheit dem entgegensteht, wird von JuristInnen unterschiedlicher Tendenz moniert. Dies wird z.B. auch von dem Konstanzer Juristen Bernd Rüthers so gesehen, der feststellt, dass zumindest das Konstrukt der Tarifeinheit kein Argument gegen die GDL und ihre Tarifvertragsforderung sein kann [4]. Vielmehr müsste man seiner Ansicht nach die Streikberechtigung der von ihm als »Funktionseliten einer arbeitsteiligen und vernetzten Wirtschaft« benannten Gruppen gesetzlich einschränken bzw. mindestens durch komplexe vorgeschriebene Prozeduren wie z.B. Streikkarenzfristen moderieren. Insofern bewegen sich die KommentatorInnen aus dem Spektrum der DGB-Gewerkschaften, die das Prinzip der Tarifeinheit hochleben lassen und über den Egoismus durchsetzungsstarker Berufsgruppen räsonieren, auf dünnem Eis, durch das sie bei nächster Gelegenheit selber brechen werden. Zur Tarifeinheit selber: Diese muss ganz neu erfunden werden – und zwar durch effektive, attraktive und lebensnahe Tarifpolitik. Wahrscheinlich wird der Weg dahin auch durch Zwischenschritte und Übergangsformen geprägt sein, bei denen auch andere Gewerkschaftsakteure als die DGB-Gewerkschaften die Arena betreten. Damit müssen die DGB-Gewerkschaften künftig leben und als lernende Organisationen das Beste daraus machen. Tarifeinheit muss durch eine überzeugende Tarifpolitik erarbeitet werden. Keinesfalls sollten die DGB-Gewerkschaften der Versuchung erliegen, sich mittels der Rechtskeule »Tarifeinheit« gegen praktische Kritik an ihrer eigenen Tarifpolitik zu immunisieren. Erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 9/07 (1) BAG vom 24. April 2007, 1 AZR 252/06 (2) Herbert Buchner: Sozialtarifvertrag: Öffnungstor für Gewerkschaften zur Erweiterung der Tarifkompetenz, in: www.tarifforum2006.de (28. September 2007) (3) Arbeitsgericht Nürnberg vom 8. August 2007, AZ: 13 Ga 65/07 |