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Updated: 18.12.2012 15:51
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Wertigkeiten, historische

Tom Adler* zu Lyrik & Analytik der Arbeitsbewertung

Ein »Meilenstein in der Tarifgeschichte«, so wurde das neue Entgeltrahmenabkommen ERA nach der Vertragsunterzeichnung im Juni 2003 übereinstimmend von IG Metall und Unternehmerverband Südwestmetall bezeichnet. Inzwischen häufen sich die Konflikte um die Einführung des ERA in den Betrieben. Viele Belegschaften wehren sich gegen die jetzt absehbaren Lohnverluste. Wieso ist die praktische Einführung dieses Lohnsystems derart konfliktträchtig?

Zunächst ein kurzer Überblick über betriebliche Konflikte bei der Umsetzung:

Die kampferprobte Belegschaft des Turbinenbauers Alstom-Power in Mannheim hat bereits mehrmals die Arbeit niedergelegt. In verschiedenen Siemens-Werken gab es Proteste, die KollegInnen bei John Deere in Mannheim gingen nach einer Betriebsversammlung nach Hause. Bei Heidelberger Druck musste nach unlösbaren Differenzen die Einführung des Lohnsystems verschoben werden. Im DaimlerChrysler-Werk Bremen hat inzwischen die dritte Protestaktion während der Arbeitszeit gegen die mit ERA drohende Lohnsenkung stattgefunden. Im Berliner DC-Werk forderte die Belegschaft mit einer Unterschriftensammlung eine zusätzliche Betriebsversammlung und machte ihrem Ärger auf einer IG Metall-Mitgliederversammlung Luft. Beim Getriebebauer Getrag in Untergruppenbach bei Heilbronn reklamierten 900 der 3200 Beschäftigten die Bewertung ihrer Arbeitsplätze. Laut aktueller Reklamationsliste sind es im DaimlerChrysler-Werk Untertürkheim bei 17464 Beschäftigten sogar 9568 – Tendenz: zunehmend. Das heißt: Weit über die Hälfte der Eingruppierungen wurden vom Betriebsrat oder den KollegInnen reklamiert.

Anlass für diesen zunehmenden Zorn in den Belegschaften ist die Eingruppierungspolitik der Unternehmen, die breitflächig zur Abwertung der Arbeit der KollegInnen führt. Und damit droht letztlich ein spürbarer Lohnverlust. (Vgl. auch die Dokumentation der Auseinandersetzungen in verschiedenen Unternehmen um die Umsetzung von ERA in dieser Ausgabe des express)

Das kann der IG Metall-Bezirksleitung Baden-Württemberg und ihrem ehemaligen Chef Berthold Huber nicht egal sein. Schließlich waren sie federführend bei diesem Tarifvertrag und noch vor nicht allzu langer Zeit mit Superlativen beim Lob des ERA nicht gerade sparsam. Berthold Huber, bislang stellvertretender Vorsitzender, der im Herbst erster Mann der IG Metall werden will, schwärmte etwa: »Wir haben (...) eine vollständige Neuordnung der Entgeltstrukturen beschlossen und damit eines der größten tarifpolitischen Reformprojekte der Nachkriegsgeschichte eingeleitet. Gleichzeitig ist ERA mehr als ein tarifpolitisches Projekt. Es ist auch ein gesellschaftspolitisches Reformprojekt. Mit ERA haben wir die Trennung von Arbeitern und Angestellten in Entgeltfragen aufgehoben.« Damit sei die Korrektur einer seit der Bismarckschen Sozialgesetzgebung prägenden Unterscheidung der Klassen und Schichten unserer Gesellschaft erreicht.

Die Diskrepanz zur schnöden Realität der Lohndrückerei in der aktuellen Phase der betrieblichen Umsetzung könnte nicht größer sein. Die trifft jetzt die ehemaligen ›Arbeiter‹ genauso wie die ehemaligen ›Angestellten‹. Angesichts dessen bleiben die Reaktionen auf Seiten der IG Metall unangemessen defensiv: »Südwestmetall fährt einen unnötigen Konfliktkurs«, meinten etwa die metall-Nachrichten im November 2006.

Geisterstunde

»In zentralen Fragen weigert sich Südwestmetall, zu Text und Geist des ERA zurückzukehren, und treibt damit den Konflikt in die Betriebe«, sagt Bezirksleiter Jörg Hofmann. Er legt damit (unfreiwillig?) den Finger auf eine der wunden Stellen. Denn eigentlich sollten sich die positiven Auswirkungen dieses Lohnsystems aus dem Vertragswerk selbst zwingend und einklagbar ergeben, doch das ist offensichtlich nicht so. Die Beschwörung des »Geistes« von ERA weist auf ein Dilemma hin: Wenn der »Geist des ERA« das gemeinsame Bekenntnis von Südwestmetall und IG Metall zu den angeblich positiven Auswirkungen des Tarifwerks für die Belegschaften sein soll, dann handelt es sich dabei offenbar um ein Phantom – Wunschdenken der Verhandlungsführer der IG Metall, die die Strategie und Taktik der Arbeitgeberseite nicht überschaut und deren gesprochenes Wort durch die rosarote Brille gesehen haben. Demgegenüber, das ist leider eine »alte Muck’«, hat das Klassen- und Interessenbewusstsein der Kapitalseite noch nie zu wünschen übrig gelassen.

Wie ist es zu erklären, dass der Glanz des »Jahrhundertwerks ERA« so schnell verblasst ist? Hätte es in der Zeit zwischen ERA-Abschluss und heute dramatische Niederlagen der IG Metall gegeben, die den Unternehmern den ungehinderten Durchmarsch und den Bruch aller unterschriebenen Vereinbarungen erlauben würden, wäre die Erklärung einfach. Das war aber nicht der Fall. Festzuhalten ist, dass der gewerkschaftliche Damm gegen die Übergriffe des Kapitals zwar gefährlich durchlöchert, aber nach wie vor nicht völlig gebrochen ist.

Dass Unternehmer immer versuchen werden, Vereinbarungen möglichst nahe an ihrer Interessenlage umzusetzen, ist klar. Als aktiver linker Gewerkschafter steht man dabei gewissermaßen mitten im Handgemenge der betrieblichen ERA-Umsetzung. Die Breite der Auseinandersetzungen um die ERA-Einführung in den Betrieben zeigt aber, dass über das »Handgemenge« der betrieblichen Umsetzung hinaus ein kritischer Rückblick auf die Entstehungsgeschichte des ERA und seine »Konstruktionsfehler« versucht werden muss.

Von der Analytik zu ERA

Zwischen den ersten Diskussionen und dem ERA-Abschluss lagen rund 15 Jahre. Das Ende der 1960er Jahre per Tarifvertrag eingeführte Lohnsystem der »Analytischen Arbeitsplatzbewertung« – im Metallerjargon »Analytik« genannt – war in den 80er Jahren bereits etwas in die Jahre gekommen. Die »Analytik«, Kind der Ära fordistischer Massenproduktion, konnte mit ihrem Instrumentarium gewisse Veränderungen der Arbeitswelt schon zu diesem Zeitpunkt zwar nicht mehr völlig erfassen und in der Lohnpolitik nutzbar machen. Gleichwohl war ihre Anwendung, mindestens im Südwesten, eine relative Erfolgsgeschichte. Und jene Löhne, die mit der Anwendung der reinen Lehre der »Analytik« nicht mehr erreichbar gewesen wären, konnten durch politischen Druck in den Betrieben durchgesetzt werden. Das gilt besonders in den Groß- und Mittelbetrieben, den »Kampfbetrieben« der IG Metall. Dies war den Unternehmern schon seit langem ein Dorn im Auge.

Mit der Radikalisierung der nationalen wie internationalen Standortkonkurrenz und der Erosion der Stärke der IG Metall wurden über Standortsicherungsvereinbarungen in vielen Betrieben Lohnsenkungen erpresst und vereinbart. Daraus wurde und wird häufig die Schlussfolgerung gezogen, dass die Flucht aus dem Flächentarif ultimatives Ziel bedeutender Teile des Kapitals sei. Die Strategie der Metall-Unternehmer zur Absenkung der erreichten Standards der Lohnabhängigen setzt offensichtlich aber gar nicht nur auf Ablösung des Flächentarifvertrags zugunsten betrieblicher Regelungen. Sie ist vielmehr sehr flexibel, solange es ihren Zielen dient. Insofern greift auch die Rede von einer zunehmenden »Verbetrieblichung« bzw. »Dezentralisierung« zu kurz, weil sie das strategische Interesse an einer Kombination flächendeckender und zugleich flexibler Regelungen nicht erfasst.

Zum Beispiel ermöglicht das »Pforzheimer Abkommen« mit der IG Metall von 2003 den Betrieben einerseits, in vorher nicht gekanntem Maß von zentralen Tarifregelungen zu Lohn und Arbeitszeit nach unten abzuweichen. Andererseits wird bei der ERA-Einführung von Südwestmetall ausgesprochen stark von der zentralen Verbandsebene eingegriffen und die Verbindlichkeit der Tarifregelungen eingefordert. Die Parole heißt, der »tarifliche Wildwuchs«, der in der Ära der »Analytik« in den Betrieben entstanden sei, müsse beschnitten werden. Gemeint sind damit natürlich nicht die Ausreißer Marke »Pforzheim«, sondern immer die relativ hohen Löhne in Baden-Württemberg. Dies zeigt auch, wie schnell die »Verteidigung des Flächentarifs« zur Nebelkerze werden kann, wenn man sich um die Frage seines Inhalts herummogeln will. Anders ausgedrückt: die Strategie von Südwestmetall besteht in der »Umnutzung von Tarifverträgen von einem Instrument der Gewerkschaften zu einem der Arbeitgeber«[1].

»Gestalten« oder »durchsetzen«?

Die endlos lange Phase der ERA-Entstehung war fast ausschließlich Expertenangelegenheit: »Nicht nur der lange Zeitraum, auch die Formen des Vorgehens sind bemerkenswert. In allen Tarifgebieten haben wir in projektähnlichen Strukturen gearbeitet. Trotz aller unterschiedlicher Positionen und Hürden, die die Arbeitgeber und ihre Verbände aufbauten, gab es ein Mindestmaß an gemeinsamen Reforminteressen. So teilten wir z.B. mit den Arbeitgebern das Interesse, veraltete Bewertungskriterien zu aktualisieren und qualifizierte Facharbeit neu zu bewerten« [2] , schreibt Berthold Huber.

Die Frage, ob unter den oben skizzierten Bedingungen, aus der Defensive heraus, ein derart umfassender Lohnsystem-Wechsel ohne Verschlechterungen für die Mitglieder einfach in »Projektarbeit« mit dem Gegner durchgesetzt werden kann, ist inzwischen wohl von der Wirklichkeit beantwortet.

Berthold Huber spricht damit aber zwei weitere zentrale Probleme des ERA-Tarifvertrags an: Wenn Sachverständige in Hunderten von Sitzungen über Jahre verhandeln und das Ganze für die Basis weitgehend undurchsichtig bleibt, ergibt sich am Schluss zwangsläufig ein Vermittlungsproblem. Die in sich verschachtelten, bücherfüllenden ERA-Tarifvertragswerke mit ihrem »Tarifchinesisch« bleiben der Mehrzahl der Vertrauensleute und Betriebsräte weitgehend unverständlich. Und anders als z.B. im Fall der Tarifregelungen zu Erholzeitpausen oder zur Alterssicherung, für die immerhin auch gestreikt werden musste, kann die Mitgliedschaft ERA nicht als ›ihren‹ Tarifvertrag empfinden, sondern nimmt ihn als von oben aufgezwungenes Programm wahr. Ein Programm, das ihnen mit der »Aktualisierung veralteter Bewertungskriterien« zudem noch häufig Abwertung und Lohnverlust zu bringen droht.

Fehleinschätzungen

Wer tarifliche »Jahrhundertwerke« verfassen will, muss längerfristige Entwicklungen im Blick haben. In unserem Fall die Entwicklung industrieller Arbeit, ihrer Anforderungen an die Beschäftigten und der Bedingungen, die sie den Lohnabhängigen zumutet. Dieser Blick war bei den maßgeblichen Verhandlungsführern auf Seiten unserer Gewerkschaft offensichtlich geprägt von den Diskussionen der 80er und frühen 90er Jahre. Mainstream war damals die Managementstrategie der »partizipativen Rationalisierung«. Gruppenarbeit war hip, die »Gruppenarbeitstaugliche Fertigung und Montage« kein Traum, sondern wurde ernsthaft diskutiert und in Ansätzen sogar realisiert. Belastungen sollten minimiert und perspektivisch aufgehoben statt bezahlt werden. Vision war der hoch qualifizierte Industriefacharbeiter, der als koordinierender, steuernder Lenker neben einer weitgehend automatisierten Produktionsmaschinerie steht, die ihm klassische körperliche Belastungen abnimmt. Entsprechend diesen Erwartungen ist die »Aktualisierung veralteter Bewertungskriterien« ausgefallen. Die Kriterien der alten »Analytik« hatten z.B. der Bezahlung von Belastungen noch relativ hohe Bedeutung beigemessen. Dies hat sich mit ERA gravierend geändert. ERA unterstellt, dass so genannte »mittlere Belastungen« mit dem Grundentgelt bereits bezahlt sind. »Die Messlatte, ab welcher Belastungshöhe es dafür Geld gibt, ist mit ERA gravierend nach oben gelegt worden,« gab ein Vertreter von Südwestmetall unumwunden zu. Wer in einer Schicht ein paar Tonnen Bremsscheiben oder Zylinderköpfe bewegen muss, kann da durchaus leer ausgehen.

Die optimistischen Annahmen über die Entwicklung der Industriearbeit sind weitgehend nicht eingetreten. Seit über zehn Jahren gibt es ein roll back: Die Investitionen für’s »Humankapital« werden zurückgefahren, Gruppenarbeit und hohe Arbeitsinhalte sind nur noch in der Werbung angesagt.

Was bleibt, sind aber die »aktualisierten Bewertungsmerkmale« [3] , die sich letztlich als großes Problem in der Eingruppierung einer riesigen Zahl von Beschäftigten auswirken – nicht zuletzt in den bisherigen »Kampfbetrieben« der IG Metall.

Dass es dort rumort, ist zunächst ein gutes Zeichen. Signalisiert es der Unternehmerseite doch unübersehbar, dass die Widerstandsbereitschaft lebendig ist und die Bedingungen für einen Durchmarsch nach wie vor nicht vorhanden sind. Diese Signale sollten auch von der IG Metall rasch verarbeitet werden im Sinne einer deutlich kämpferischeren Gangart. Wird nicht auf breite Mobilisierung gesetzt, um die drohenden Abwertungen zu verhindern, werden die Betroffenen die IG Metall dafür verantwortlich machen. Und das wird so langfristig wirken wie der ERA selbst. »Jeder Inhalt eines Tarifvertrags muss bei der Umsetzung im Unternehmen gewissermaßen ein zweites Mal erkämpft werden«, schreibt Berthold Huber. Hier ist ihm zuzustimmen, und in diesem Fall gilt: Sogar, um die eigenen Fehler im ERA-Tarifvertrag wieder auszubügeln!

* Tom Adler ist Betriebsrat bei DC in Untertürkheim und Mitglied der KollegInnengruppe »alternative«.

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 3-4/07


(1) Reinhard Bahnmüller/Werner Schmidt: »Interesse, Strategie und Zielsetzung der Tarifparteien im Umsetzungsprozess des ERA Baden-Württemberg«, in: labournet.de/Diskussion/ERA

(2) In: »Eine neue AERA«, Hrsg. Christian Brunkhorst/Oliver Burkhard/Manfred Scherbaum, VSA-Verlag 2006

(3) Die Interpretation der »Gestaltung der Bewertungskriterien aus einer Fehleinschätzung der Entwicklung industrieller Arbeit heraus« ist nicht die einzig denkbare. Im bereits zitierten Papier von Bahnmüller/Schmidt wird im Anhang eine weitere Möglichkeit angedeutet, die weitreichende Konsequenzen haben könnte:

»Dazu passen die Äußerungen des ERA-Experten von Südwestmetall, wonach durch den ERA jene Tätigkeiten aufgewertet werden sollen, die ›die Konkurrenzfähigkeit der M+E-Industrie bestimmen‹. Tätigkeiten, die von strategisch herausgehobener Bedeutung für die M+E-Industrie sind, müssen besser bewertet, andere, die keinen spezifischen Branchenbezug haben, relativ hierzu abgewertet werden. Letzteres gelte etwa für kaufmännische Sachbearbeiter oder Sekretärinnen, die keinen spezifischen Beitrag zur Profilbildung der M+E-Industrie leisteten. ›Die müssen wir auch nicht besser bezahlen als in anderen Industrien.‹ Genau dies sei jedoch derzeit noch der Fall, ›und das ist auch durchaus ein Problem: Wir zahlen einfache kaufmännische Tätigkeiten in der Metallindustrie traditionell höher als in allen anderen Branchen, obwohl die nicht metallspezifisch sind.‹ Bei qualifizierten technischen Aufgaben sei das anders. ›Die unterscheiden uns von anderen Industrien. Da müssen wir uns auch differenzieren, da müssen wir attraktive Arbeitsbedingungen bieten. Wir müssen Sekretärinnen nicht besser bezahlen als anderswo, das macht keinen Sinn. Aber für spezifische Aufgaben, die für unsere Wettbewerbsfähigkeit wichtig sind.‹«

Hinter den Wertigkeitsentscheidungen, die in den ERA eingeflossen sind, stehen demnach arbeitgeberseitig (und möglicherweise auch gewerkschaftsseitig) strategische industriepolitische Überlegungen. Daraus ergeben sich aus Sicht der Arbeitgeber Konsequenzen für Tätigkeiten, die es quer zu allen Branchen gibt. Sie sollen aus der Branchenlogik der Flächentarifverträge herausdefiniert werden. Im Visier ist ein branchenübergreifendes Bewertungslevel für Funktionen, die sich überall finden und denen kein spezifischer Beitrag zur Verbesserung der Wettbewerbsposition zugeschrieben wird.


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