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Updated: 18.12.2012 15:51
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Projekt ERA Baden-Württemberg

Reinhard Bahnmüller, Werner Schmidt 25.4.2006

Interesse, Strategie und Zielsetzungen der Tarifparteien im Umsetzungsprozess des ERA in Baden-Württemberg - Erste Einschätzungen und Befunde

Arbeitspapier für den wissenschaftlichen Projektbeirat bei der Hans-Böckler-Stiftung

 

1. Integratives und distributives Bargaining: Zum Charakter des Tarifvertrags und den Rahmenbedingungen der Einführung

Mit dem ERA haben die Tarifparteien einen Tarifvertrag abgeschlossen, durch den die Grundlagen der betrieblichen Entgeltdifferenzierung neu gelegt werden sollen. Es geht um die Herstellung einer neuen Ordnung, an deren Etablierung beide Seiten ein Interesse haben. In Anlehnung an die Unterscheidung von Walton und McKersie (1965), lässt sich der ERA als Ergebnis eines integrativen Bargaining Prozesses fassen, bei dem es nicht, zumindest dem Kern nach, um ein Nullsummenspiel wie bei Verteilungskonflikten zwischen Kapital und Arbeit geht, sondern um ein "Positivsummenspiel", bei dem beide Seiten ein gemeinsames Interesse verfolgen. Beide Seiten wollen ein modernisiertes, funktionaleres, transparenteres, durchlässigeres und gerechteres Entgeltsystem installieren, in dem die kategoriale Unterscheidung zwischen Arbeitern und Angestellten aufgehoben, die bestehenden Unterschiede in der Bewertung der Arbeitsaufgaben und bei der Leistungsentlohnung innerhalb und zwischen diesen Gruppen beseitigt, qualifizierte Facharbeit aufgewertet und die Durchlässigkeit erhöht wird. Der ERA regelt somit im Kern auch Verteilungsfragen, allerdings solche innerhalb der abhängig Beschäftigten und nicht zwischen Kapital und Arbeit. Der Verteilungskonflikt zwischen Kapital und Arbeit ist quasi vor die Klammer gezogen. Dieser Teil wurde separat geregelt und fand seinen Niederschlag im den Regelungen zur kostenneutralen Einführung des ERA. Die voraussichtlichen Kosten des ERA wurden im Vorfeld festgelegt und ihre Finanzierung geregelt. Die von den Beschäftigten eingebrachten Anteile zur Finanzierung der ERA-Kosten sind in Form von Rücklagen in den ERA-Anpassungsfonds geflossen. Reichen die Fondsmittel nicht aus, sind tarifvertraglich weitere Ausgleichsmechanismen vorgesehen (Reduzierung Jahressonderzahlung, alternativ Urlaubsgeld bzw. tarifliches Leistungsentgelt). Die Tarifparteien haben somit versucht, den Verteilungskonflikt zwischen Kapital und Arbeit so weit als möglich auszuklammern, um das Konfliktpotential bei der ERA-Einführung zu reduzieren und der integrativen Dimension des Vertrages Geltung zu verschaffen. Beide Seiten haben wiederholt erklärt, die Einführung kooperativ gestalten zu wollen. Dennoch ist der Einführungsprozess nicht konfliktfrei. Es gibt Auseinandersetzungen um Beteiligungs- bzw. Mitbestimmungsrechte und auch solche, bei denen es Verteilungskonflikte im Binnenverhältnis der abhängig Beschäftigten wie zwischen Kapital und Arbeit geht.

Die Gründe und Anlasse für die Verteilungskonflikte sind unterschiedliche:

  • Zum ersten sind durch die Regelungen zur kostenneutralen Einführung des ERA die Verteilungskonflikte zwischen Kapital und Arbeit nur auf Zeit, nämlich auf fünf Jahre sistiert, während die Struktureffekte des ERA unbefristet wirksam sind. Beide Seiten sind deshalb daran interessiert, die Langfristwirkungen des ERA durch eine interessenorientierte Interpretation der ERA-Bestimmungen in ihrem Sinne zu beeinflussen. Die konkrete Ausfüllung der neuen Ordnung, sprich die Eingruppierung, hat somit langfristige vertikale verteilungspolitische Effekte.
  • Zum zweiten und damit zusammenhängend gibt es Konflikte um die Einhaltung bzw. das Verständnis tariflichen Regelungen zur kostenneutralen Einführung des ERA. Sie beziehen sich, wenn auch in unterschiedlichem Maße, auf alle Einzelkomponenten, die mit der Kostenneutralität zusammenhängen: die Sockelbeträge für klassische Leistungslöhner [1], die Regelüberführung beim Leistungsentgelt [2], die individuelle und die kollektive Absicherung des Entgelts.
  • Zum dritten enthält der ERA unbestimmte Rechtsbegriffe bzw. (teilweise bewusst vorgesehene) Leerstellen, die im Gang der betrieblichen Einführung geklärt bzw. gefüllt werden müssen. Konkretisierungsbedürftige Leerstellen gibt es vor allem hinsichtlich der Grundentgeltfindung und der Belastungen. Daraus ergibt sich notwendigerweise ein wertigkeits konkretisierendes Bargaining, das je nachdem, wie weit die Positionen beider Seiten voneinander entfernt sind, mehr oder weniger konflikthaft verlaufen kann.
  • Zum vierten ergeben sich im Zuge der Einführung neue Konflikte um die Wertigkeitsrelationen von Arbeitsaufgaben, die auf gewachsenen betrieblichen Entgeltrelationen aufsetzen und bei denen versucht wird, gewisse Korrekturen der tariflichen Vorgaben zu erreichen. Die sich darum rankenden Auseinandersetzung lassen sich als wertigkeits korrigierendes Bargaining beschreiben. Die Übergänge von wertigkeitskorrigierendem und wertigkeitskonkretisierendem Bargaining sind fließend.
  • Zum fünften ergeben sich Konflikte um die Frage, ob und wie innerhalb der Beschäftigten die Kosten der ERA-Einführung verteilt bzw. der Risiken der Entgeltminderung über die Tarifregelung hinaus verringert werden soll. Solche Auseinandersetzungen scheinen in der Regel dort eine Rolle zu spielen, wo der ERA-Ausgleichsfonds für den ursprünglich vorgesehenen Zweck nicht benötigt wird und zur Auszahlung an die Beschäftigten ansteht.
  • Zum sechsten werden schließlich durch die Vermischung von Standortvereinbarungen und ERA-Einführung finanzielle Mittel, die zur ERA-Finanzierung vorgesehen waren, anderweitig verwendet, d.h. durch den Arbeitgeber einvernahmt (ERA-Strukturkomponente, ERA-Fondsmittel).

Integratives und verteilungspolitisches Bargaining sind somit notwendigerweise verschränkt, wobei die strukturell eigentlich dominante Dimension durch die distributive immer wieder überlagert wird. Sowohl die Tarif- wie die Betriebsparteien bewegen sich im ERA-Einführungsprozess in diesem Spagat.

2. Zum Koordinierungs- und Steuerungsinteresse der Verbände und ihren strategischen Zielen

In unserem Forschungsantrag gehen wir von der Annahme aus, dass die Tarifparteien eine aktive und starke Rolle im Umsetzungsprozess spielen und sowohl steuernd als auch kontrollierend tätig werden. Diese Annahme ist keineswegs selbstverständlich. Gewöhnlich zeigen die Arbeitgeberverbände anders als die Gewerkschaften daran wenig Interesse. Während sich die Gewerkschaften via hauptamtlichem Apparat, Vertrauensleuten und nicht zuletzt Betriebsräten (§ 80 Abs. 1 BetrVG) traditionell wesentlich intensiver darum kümmern, dass die tariflichen Vorgaben entsprechend der gewerkschaftlichen Intention auch umgesetzt werden und schon lange ein allgemeines Verbandsklagerecht fordern, sind die Arbeitgeberverbände diesbezüglich, wie ein Verbandsvertreter von Südwestmetall es formuliert, "sehr viel weniger ehrgeizig". In der Regel begnügen sie sich damit, die Unternehmen über die Tarifregelungen zu informieren, an der einen oder anderen Stelle Hilfsmittel zur Verfügung zu stellen oder, meist allerdings nur in Einzelfällen und auf Nachfrage, beratend in den Umsetzungsprozess und bei Auseinandersetzungen einzugreifen. Ansonsten bleibt es den Betrieben überlassen, die Tarifverträge nach ihrem Gusto umzusetzen (oder auch zu ignorieren), ohne dass die Arbeitgeberverbände tätig werden. Anders als die Gewerkschaften, die Betriebsräte anhalten, als Wächter von Tarifverträgen zu agieren, sehen die Arbeitgeberverbände ihre Rolle traditionell nicht darin, vor Ort diejenigen zu sein, die auf die Einhaltung der Tarifverträge achten. Sie verklagen dementsprechend auch niemand, der sich nicht an den Tarifvertrag hält. "Die Gewerkschaften tun so etwas, wir nicht." (SWM) Insofern ist der Steuerungs- und Kontrollanspruch der Arbeitgeberverbände "normalerweise sehr viel geringer als bei den Gewerkschaften an dieser Stelle." (dto.)

Bei der ERA-Umsetzung ist das, wie wir vermutet haben und wie wir mittlerweile wissen, nicht so, zumindest nicht in Baden-Württemberg. Es gibt vielfältige Aktivitäten, die Umsetzung "im Griff" zu behalten bzw. sie in den Griff zu bekommen. Beide Tarifverbände sind etwa stark darum bemüht, Dritte, etwa freie ERA-Berater oder Weiterbildungsanbieter, die hier ein lukratives Geschäftsfeld wittern, fern zu halten. Dass sich der Steuerungs- und Kontrollanspruch im Falle der Umsetzung des ERA-TV von dem anderer Tarifverträge unterscheidet, wird von den befragten Vertretern von Südwestmetall ausdrücklich bestätigt. Die Umsetzung des ERA könne man "nicht so locker sehen" wie die anderer Tarifverträge. Welche Gründe könnten dafür maßgeblich sein?

2.1. Offenheit und Interpretationsfähigkeit der Tarifregelungen

Das Steuerungs- und Kontrollinteresse beider Tarifparteien signalisiert zunächst, dass der ERA-TV sehr unterschiedlich umgesetzt werden kann und die Tarifparteien die Gefahr sehen, dass die Umsetzung in einer Art und Weise vollzogen wird, die ihren Intentionen nicht entspricht. Dafür können grundsätzlich zwei Faktorenbündel maßgeblich sein:

  • Gründe, die in den Variationsmöglichkeiten des Tarifvertrags selbst liegen bzw. in seiner Interpretationsfähigkeit und Deutungsoffenheit,

  • Gründe, die in betriebspolitischen Bedingungen und Interessen liegen und die eine den Intentionen der Tarifparteien widersprechende Handhabung der ERA-Bestimmungen mit sich bringen könnten.

Hinsichtlich des ersten Faktorenbündels, der Variationsmöglichkeiten, Interpretationsfähigkeit und Deutungsoffenheit des ERA, ließe sich als generelle These formulieren, dass die Koordinations- und Steuerungsleistungen der Tarifparteien um so nötiger sind, je offener die Tarifregelungen gehalten sind und je höher somit der betriebliche Konkretisierungsbedarf ist. Umgekehrt gälte dann: Je abschließender die Regelungen sind, desto weniger Steuerungsbedarf besteht.

Für diese These spricht zunächst der Umstand, dass der Tarifvertrag in der Tat eine Vielzahl von betrieblichen Variationsmöglichkeiten vorsieht. Dass die Tarifparteien im Umsetzungsprozess diese Variationsbreite entsprechend der jeweiligen verbandspolitischen Prioritäten zu kanalisieren versuchen, ist naheliegend und hierfür finden sich auch Belege. Dieser Befund ist allerdings nicht überraschend. Er entspricht der Logik qualitativer tariflicher Regelungen, bei denen die Tarifparteien, sofern sie dezidierte, im Tarifvertrag angelegte, aber nicht abgesicherte Ziele verfolgen, diesen im Umsetzungsprozess Geltung verschaffen wollen.

Wenig überraschend sind auch die vielfältigen Interpretations- und Deutungsprobleme des Tarifvertrags, mit denen die Tarifparteien zwischenzeitlich konfrontiert sind und deren Klärung von ihnen seitens der betrieblichen Akteure erwartet wird. Die Materie ist bekanntermaßen äußerst komplex und es gibt auch Leerstellen unterschiedlichster Art, die gefüllt werden müssen. Dass dem so sein wird, war erwartbar, zumal sich der Verhandlungsprozess über mehr als zehn Jahre hinstreckte, bei dem Zwischenstände und Verständigungen über Sachverhalte und Begriffe in einer Vielzahl von Synopsen und Protokollnotizen festgehalten wurden, die analog zu Gesetzesauslegungen wichtig für den Deutungsrahmen sind, in das "Endprodukt" aber keinen Eingang fanden und finden konnten. Der Tarifvertrag selbst hat Leerstellen und es besteht zudem eine "Lücke" zwischen Text und Intention, die zu schließen auch Aufgabe der Betriebs-, vor allem aber der Tarifparteien ist. Diese haben sich darauf eingestellt, u.a. ein gemeinsames Glossar mit den wichtigsten Begriffen ausgearbeitet und einen gestuften Klärungs- und Konfliktlösungsmechanismus verabredet, dessen letzte Stufe in einer gemeinsamen Stellungnahme der beiden ERA-Verantwortlichen auf Landesebene besteht. Dieses Verfahren wurde anfänglich stark in Anspruch genommen, hat zwischenzeitlich jedoch wieder an Bedeutung verloren, weil die Arbeitgeberseite weniger konkrete Einzelfragen klären wollte, sondern pauschalere Absprachen anstrebte, zu denen die IG Metall nicht bereit war. Deshalb sind weiterhin viele Fragen offen, die nunmehr betrieblich geklärt werden müssen und sollen. Als Erfolg verbuchen die Vertreter beider Seiten dennoch, dass bisher nur wenige Fragen gerichtlich geklärt wurden bzw. zur Klärung anhängig sind. [3]

Als Problem empfinden vor allem die gewerkschaftlichen Vertreter, dass sich die Interpretation des Tarifvertrags zunehmend von seiner Genese, d.h. vom Verhandlungsprozess und den Intentionen beider Seiten ablöst und sich die Arbeitgeber eine rein textlich-systematische Interpretation des ERA zu eigen machen. Juristen beherrschten nun das Feld. Ein gemeinsames Grundverständnis des Tarifvertrags müsse und könne ihres Erachtens jedoch aus der (Verhandlungs-)Geschichte kommen. Der Arbeitgeberseite wird unterstellt, sie entferne sich davon, interpretiere den Tarifvertrag sehr eng und aus rein juristischer Sicht.

Die Interpretations- und Deutungsoffenheit des ERA ist somit sicherlich ein wichtiger Grund, weshalb die Tarifparteien im Umsetzungsprozess des ERA mehr gefordert sind als bei anderen Tarifverträgen. Gegen die These, wonach das Steuerungsinteresse der Tarifparteien sich aus der Offenheit und Interpretationsfähigkeit des Tarifvertrags ergibt, spricht allerdings, dass das Hauptaugenmerk beider Tarifparteien vor allem auf jenen Teil des Tarifvertrags gerichtet ist, bei dem die Betriebsparteien verglichen mit der bisherigen Situation einen geringeren Gestaltungsspielraum haben: die Grundentgeltfindung.

Südwestmetall zufolge ist die Grundentgeltfindung im ERA-TV "abschließend geregelt, d.h. die Betriebsparteien vollziehen in der Arbeitsbewertung lediglich den Tarifvertrag". In der Regel sei "völlig klar, in welche ,Schublade' eine Arbeitsaufgabe gehört" (Gryglewski 2004, S. 553). Raum für Politik gibt es ihres Erachtens an dieser Stelle nicht, sollte es zumindest nicht geben. Die IG Metall sieht den Gestaltungsspielraum bei der Grundentgeltfindung im Verhältnis zur bisherigen Situation zwar ebenfalls eingeschränkt, versteht die Aufgabenbeschreibung und Bewertung aber keineswegs als "technischen" Vorgang, bei dem die Regelungen des ERA lediglich zu exekutieren sind, sondern als Konkretisierungs- und Deutungsakt, bei dem Interessen und damit auch Politik ihren Raum haben und haben müssen. Das Steuerungsinteresse der Arbeitgeber und der Gewerkschaft ist demnach mit einer gegensätzlichen Intention verbunden. Während der Arbeitgeberverband daran interessiert ist, die Eingruppierungsbestimmungen des ERA als ein lediglich handwerklich sauber anzuwendendes Regelwerk darzustellen, bei dem es kaum betriebliche Spielräume gibt und Politik im Grundsatz keinen Raum hat, versteht die Gewerkschaft die ERA-Bestimmungen als Grundlage für einen geregelten betrieblichen Diskurs, bei dem es weiterhin vielfachen Deutungs- und Gestaltungsspielraum gibt und damit auch für betriebliche Entgeltpolitik.

Ganz anders ist die Interessenlage bezogen auf das Leistungsentgelt. Diesbezüglich sind die Ambitionen des Arbeitgeberverbandes, gestaltend und steuernd einzugreifen, erheblich schwächer ausgeprägt, obwohl die Wahlmöglichkeiten hier wesentlich größer sind. Hier will der Arbeitgeberverband keine "vorkonfektionierten Lösungen" wie beim Grundentgelt. Im Prinzip soll beim Leistungsentgelt "so ziemlich alles möglich" sein (SWM). Verhindert werden soll lediglich, dass die Leistungsgrade nicht wie bisher "davonlaufen", d.h. sich von der Soll-Größe von 15% Leistungsentgelt im betrieblichen Durchschnitt entfernen. Darauf richtet sich ihr Steuerungsinteresse, wobei im Tarifvertrag selbst schon relativ strenge Vorkehrungen getroffen sind. Das Steuerungsinteresse der IG Metall zielt demgegenüber darauf ab, die Wahlmöglichkeiten hinsichtlich der Methoden zur Ermittlung des Leistungsentgelts einzuschränken (z.B. Priorität für Kennzahlenvergleich, Reduzierung der Kombinationsmöglichkeiten auf maximal zwei). Das Steuerungsinteresse beider Seiten ist somit asymmetrisch, und es hat unterschiedliche Vorzeichen. Hinsichtlich des Grundentgelts ist es arbeitgeberseitig zudem nicht deshalb stark, weil der Interpretations- und Gestaltungsspielraum besonders hoch ist oder gar ausweitet worden wäre, sondern weil er im Verhältnis zur bisherigen Situation kleiner ist und so klein wie möglich bleiben sollte.

Dem steht nicht nur das Interesse der IG Metall entgegen, die weiterhin bestehenden Spielräume zu erhalten und auszuweiten, sondern vor allem auch die betrieblichen Traditionen bzw. Handlungsorientierungen der Führungskräfte und der Betriebsräte. Beiden Akteursgruppen wird von Südwestmetall unterstellt, dass sie wenig Interesse an einer "sauberen" ERA-Einführung hätten, wobei die Vorbehalte der Führungskräfte noch höher veranschlagt werden als die der Betriebsräte. "Sie haben", wie ein Vertreter von Südwestmetall es formuliert, "praktisch keine Freunde für das Vorgehen im Betrieb." Wird den Betriebsräten immerhin noch zu Gute gehalten, dass sie bei aller Klientelpolitik, die auch sie betreiben, den Gesamtbetrieb im Blick hätten und damit ein Interesse an begründungsfähigen und nachvollziehbaren Entgeltrelationen für das gesamte Unternehmen, wird den Führungskräften ein primär abteilungsbezogenes Denken und Handeln unterstellt. "Die Führungskräfte haben im Gegensatz zum Betriebsrat Abteilungsegoismen." (SWM) Sie wollten verständlicherweise ihre Mitarbeiter durch hohe Eingruppierungen und sonstige im Tarifentgelt versteckte übertarifliche Entgeltbestanteile an die Abteilung binden, sie motivieren und sich selbst als ihre Interessenwahrer ins Szene setzen und hätten dies bisher auch gekonnt. Die Grundentgeltfindung sei damit nicht nur ein Politikfeld des Betriebsrates, sondern auch eines der Führungskräfte gewesen. Dieses soll ihnen nun genommen werden, was sowohl der bisherigen Praxis wie ihrem Selbstverständnis widerspricht, "auch und gerade in der Grundentgeltfindung Entgeltpolitik machen zu können" (Südwestmetall, ERA-Infobrief Nr. 3, S. 3). Mit der Einführung des ERA müsse beides revidiert werden. Mit Widerstand sei deshalb zu rechnen. Soll jedoch verhindert werden, dass der angestrebte "Reset" in der Eingruppierung verwässert wird und die Intentionen der Tarifparteien ins Leere laufen, muss sich Südwestmetall aktiv in die betriebliche Umsetzung einmischen. Der Verband muss die Unternehmen anhalten, die Arbeitsaufgaben und Bewertung in ihrem Sinne korrekt vorzunehmen und nicht vorschnell zu einer "finalen" Betrachtung überzugehen, d.h. nicht nur darauf zu achten, dass bezogen auf das Volumen der betrieblichen Entgeltsumme das Ergebnis "stimmt".

Dieses Problem hat auch die IG Metall. Auch sie befürchtet, dass die Betriebsräte vorschnell dazu übergehen, die effektive betriebliche Entgeltsumme zu sichern und die ERA-Einführung für "abgehakt" zu erklären, sofern dies erreicht ist. Mindestens ebenso wichtig ist für sie, dass nicht ein möglichst großer Teil des bisherigen Effektiventgelts in Tarifentgelt entsprechend dem ERA überführt wird. Um sicherzustellen, dass das künftige Entgeltniveau nach Ablauf der Absicherungsphase nicht absinkt, bedürfe es jedoch einer aktiven, jeden Einzelfall prüfenden und klärenden Eingruppierungspolitik. Deshalb werden die Betriebsräte nachdrücklich angehalten, der Grundentgeltfindung nach ERA den gebührenden Stellenwert zu geben und sich nicht damit zufrieden zu geben, in den individuellen und kollektiven Besitzstand zu sichern.

Beide Seiten fürchten somit, Betriebe bzw. Betriebsräte könnten an die ERA-Einführung aus Gründen der Konfliktvermeidung und Arbeitserleichterung im Sinne einer vorschnellen "finalen Betrachtung" herangehen, "indem sie sagen, am einfachsten funktioniert ERA, indem ich schaue, was die Leute heute verdienen und dann kläre, was muss ich ihnen an Grundentgelt und an Leistungsentgelt geben, damit es passt." (SWM) Aus der Warte der betrieblichen Akteure wäre ein solches Vorgehen "sehr verführerisch" aus jener der Verbände, so Südwestmetall, jedoch "fatal". Die Folge wäre, dass man "keinen Schritt weiter wäre" als vorher. Die Entgeltstrukturen wären in solch einem Fall "genauso chaotisch wie vorher", die Entgeltsysteme funktionierten nicht als Führungsinstrument und "tarifpolitisch sind wir noch mehr im Wald. Dann haben wir sozusagen nämlich nichts erreicht an der Stelle, und zwar beide nicht" SWM). Insofern lautet die Aufforderung von Südwestmetall, der sich im Grundsatz auch die IG Metall anschließen dürfte: "Setzt es jetzt auch um! Wir haben uns die Mühe gemacht, die Wertigkeiten zu strukturieren, Methoden einzuführen, jetzt setzt es auch um. Stellt erst einmal fest, was aus dem Tarifvertrag rauskommt, was das für euch heißt. Wenn ihr in jedem Einzelfall, bei jeder einzelnen Person (.) das System schon vermurkst, werdet ihr nie erfahren, was aus dem ERA rausgekommen wäre!" (SWM)

Zusammenfassend lässt sich demnach festhalten:

  • Beide Tarifparteien in Baden-Württemberg haben ein starkes Steuerungs- und Kontrollinteresse, das insbesondere beim Arbeitgeberverband deutlich stärker ist als bei der Umsetzung anderer Tarifverträge.
  • Das Kontrollinteresse des Arbeitgeberverbandes ist stark auf die Grundentgeltfindung fokussiert, das der Gewerkschaft bezieht sich auf alle Komponenten des ERA.
  • Die Arbeitgeber wollen bei der Grundentgeltfindung die weiterhin bestehenden Möglichkeiten der betrieblichen Ausdeutung und Ergänzung einschränken, die Gewerkschaft will sie ausschöpfen und ausweiten. Die Arbeitgeber transportieren ein Verständnis von Eingruppierung nach ERA als technischer Vorgang weitgehend entpolitisierter Regelanwendung, die Gewerkschaft will die Grundentgeltfindung als politischen Akt auf der Basis vereinbarter, aber deutungsoffener Regeln verstanden wissen.
  • Hinsichtlich der Bestimmungen zur Gestaltung der Leistungsentlohnung, hat die IG Metall ein höheres Steuerungsinteresse als die Arbeitgeberseite. Während das Interesse der Arbeitgeber darauf gerichtet ist, die die Offenheit der Bestimmungen zum Tragen zu bringen und lediglich darauf zu achten, dass der Anteil von 15% leistungsvariablem Entgelt nicht nach oben davonläuft, will die IG Metall bestimmte Variationen in der Methodenkombination, die der Tarifvertrag zulässt, verhindern oder einschränken will (Vorrang für Kennzahlen, keine drei Methoden). Zudem die Gestaltung der Leistungsentlohnung nicht nur zur Leistungsdifferenzierung genutzt werden, sondern als auch zur Thematisierung der Leistungsbedingungen.
  • Beide Tarifparteien befürchten, dass die Betriebsparteien den erwünschten "Reset" bei der Eingruppierung umgehen könnten und sich unmittelbar einer "finalen" Betrachtung zuwenden, d.h. das bestehende Entgeltniveau absichern und den ERA dazu "passend" machen.
  • Die Arbeitgeber fürchten zudem überhöhte Eingruppierungen durch Klientilismus der Führungskräfte und Betriebsräte, die Gewerkschaft eine generelle Absenkung des tariflichen Entgeltniveaus durch Bewertungen am unteren Niveau und spezifische Verschlechterungen von einzelnen Beschäftigtengruppen, die von hoher organisationspolitischer Bedeutung sind. Um solche "Verbiegungen" in die eine oder andere Richtung und durch sie ausgelöste Dominoeffekte zu verhindern, bemühen sich beide Seiten mit unterschiedlichen Zielsetzungen steuernd und kontrollierend auf die betriebliche Umsetzung einzuwirken.

2.2. Bedeutung des ERA für die Stabilisierung des Systems der Flächentarifverträge

Ein zweiter Grund für das starke Engagement der Tarifparteien im Umsetzungsprozess liegt in der hohen Bedeutung des ERA für die Aufrechterhaltung des Systems der Flächentarifverträge. Über den ERA versuchen die Tarifparteien das stark angeschlagene Image des Flächentarifvertrags zu verbessern, ihm in einem Kerngebiet, der Entgeltdifferenzierung, wieder Geltung zu verschaffen, seine Funktion zu verdeutlichen und seine wie ihre eigene Rolle als Tarifverbände neu zu definieren (wobei letztes primär für Südwestmetall gilt).

Die Flächentarifverträge haben bekanntermaßen an Prägekraft verloren. Nicht nur, dass die Tarifbindung gesunken ist, die einzelnen Tarifverträge prägen dort, wo sie gelten, die betriebliche Praxis immer weniger. Das gilt nicht zuletzt für die Entgeltrahmenabkommen, wie beide Tarifparteien diagnostizieren. Die betriebliche Entgeltpraxis hat sich weit vom Tarifvertrag entfernt, teils weil sich die Arbeitsaufgaben und Anforderungen verändert haben, die mit den bisherigen Bewertungskriterien nur noch ungenügend zu erfassen sind, teils weil die bisherigen Bewertungssysteme nicht mehr gepflegt und nicht konsequent bzw. falsch angewandt wurden. Im Ergebnis führte dies betrieblich häufig zu unübersichtlichen, nicht mehr nachvollziehbaren Entgeltstrukturen, einem vor allem arbeitgeberseitig beklagten Verlust von systematischer Entgeltdifferenzierung als Führungsinstrument und bezogen auf die Verbände zu einer Abnahme der Leitfunktion von Tarifverträgen.

Mit dem ERA haben sich die Tarifparteien, so Südwestmetall, nun vorgenommen, "den Betrieben überhaupt wieder eine verlässliche Grundlage für die betriebliche Entgeltdifferenzierung zu verschaffen" und auf diese Weise der Leitfunktion von Tarifverträgen wieder Geltung zu verschaffen. Misslingt ihnen dieses Vorhaben, erweisen sich die Vorgaben nicht als tauglich und/oder werden in relevantem Umfang die "alten" Entgeltstrukturen in die ERA-Welt übernommen, werden nach Überzeugung des Verbandes nicht nur keine neuen Entgeltrahmenabkommen mehr zustande kommen, sondern das System der Flächentarifverträge wäre insgesamt am Ende. "Wenn die Tarifverträge im Kernbestand, nämlich der Entgeltdifferenzierung, die betriebliche Realität gar nicht mehr prägen, was wollen wir dann mit der Weiterentwicklung des Flächentarifvertrags." (SWM) Deshalb geht es - wohl nicht nur aus deren Sicht - um mehr als nur um den ERA. Es geht "schlichtweg darum, eine Basis zu schaffen, dass der Flächentarifvertrag überhaupt wieder stattfinden kann", es geht um die "Wiederherstellung der Ordnungsfunktion des Tarifvertrags, um das mal ganz dogmatisch zu sagen. Wenn wir diesen Dreh nicht schaffen, dessen politische Brisanz mir völlig klar ist, ist der Flächentarifvertrag tot" (SWM).

2.3. Rollen- und Profilklärung der Tarifverbände

Die hohe praktische und symbolische Bedeutung des ERA für das System der Flächentarifverträge ist allerdings nur dann von Belang, wenn beide Verbände ein Interesse daran haben, diesen zu stützen und zu stärken. Das darf man zwar der IG Metall unterstellen, den Arbeitgeberverbänden jedoch nur noch bedingt. Orientiert man sich an der Untersuchung von Haipeter und Schilling zur Strategie und zu den Perspektiven der Metallarbeitergeberverbände (2006a, 2006b), spricht wenig dafür, dass die Arbeitgeberverbände überhaupt noch ein Interesse an einer sektoralen Regulierung der Arbeitsbedingungen haben. Gestützt auf die Untersuchung der Politik von vier Regionalverbänden von Gesamtmetall (Küste, Nordrhein-Westfalen, Bayern, Thüringen), kommen Haipeter und Schilling zu dem Ergebnis, die Arbeitgeberverbände gäben "die Orientierung an der Institution der Flächentarifverträge und der gemeinsamen Gestaltung der Lohn- und Arbeitsbedingungen mit den Gewerkschaften zunehmend auf" (2006b, S. 41). Dies manifestiere sich in der Strategie der Dezentralisierung und Öffnung von Flächentarifverträgen verbunden mit der Gründung von OT-Verbänden, die sich auf Dienstleistungsfunktionen für Unternehmen konzentrierten, die Regulierung der Arbeitsbedingungen jedoch den Betrieben selbst überließen. Beide Vorgehensweisen zielten auf die Sicherung der Loyalität unterschiedlicher Mitgliedergruppen und dies offensichtlich mit Erfolg. Im Ergebnis führe dies jedoch dazu, dass die Arbeitgeberverbände sich als korporatistische Verbände bisheriger Prägung, die in ihrer Handlungsorientierung der Einflusslogik und nicht der Mitgliederlogik folgten, verabschiedeten. Für die deutschen industriellen Beziehungen sei jedoch die Dominanz der Einflusslogik konstitutiv. "Ohne die Existenz von Verbänden mit korporatistischem Zuschnitt können stabile kollektivvertragliche Regulierungen auf überbetrieblicher Ebene kaum von den Arbeitsmarktparteien produziert und garantiert werden und Flächentarifverträge die Funktionen entfalten, die ihnen zugeschrieben werden" (a.a.O, S. 23; zu den zentralen Funktionen gehören die Kartell-, Ordnungs-, Schutz-, Verteilungs-, Partizipations-, Innovationsfunktion). Insofern sei das Ende des deutschen Systems der industriellen Beziehungen abzusehen.

Mit dieser Diagnose lässt sich nun allerdings schwerlich vereinbaren, weshalb alle Mitgliedsverbände von Gesamtmetall ERA-TVs abgeschlossen haben. Die Eingriffstiefe und der Druck zur Neuordnung ist dabei je nach Tarifgebiet wohl unterschiedlich, grundsätzlich bieten die Deutungen von Haipeter und Schilling jedoch u.E. keine Erklärung dafür, weshalb die Metallarbeitgeber diesen Schritt überhaupt noch vollzogen haben. Offensichtlich haben sie ihre Orientierung, über Kollektivverträge die Lohn- und sonstigen Arbeitsbedingungen zu gestalten, noch nicht gänzlich aufgegeben.

Das gilt für Südwestmetall in besonderer Weise. Der Verband profiliert sich auch im Verhältnis zu seinen Schwesterverbänden grundsätzlich als Verfechter des Flächentarifvertrags, wissend, dass "die Wertschätzung, die der Flächentarifvertrag in Baden-Württemberg hat und die Anstrengungen, ihn zu sichern, ja von nicht von allen anderen Schwesterverbänden gleich gesehen (werden)." (SWM) Bezogen auf den ERA betont der Verband mit Nachdruck dessen Ordnungsfunktion, die wieder hergestellt und gestärkt werden soll. Das drückt sich auch in den ERA-Regelungen aus, durch die die Betriebe in Baden-Württemberg in wesentlich intensiverer Art und Weise einem Überprüfungs- und Veränderungsdruck ausgesetzt werden als anderswo. Das stößt nicht unbedingt auf Gegenliebe und führte bereits im Entstehungsprozess des ERA zu Debatten innerhalb von Gesamtmetall, was man den Mitgliedsfirmen zumuten könne und wolle. War anderswo teilweise die Einstellung vorherrschend, die Betriebe (und den Verband) zu schonen, entschied man sich in Baden-Württemberg bewusst für einen anderen Weg. "Wir stellen nämlich alle Entgeltkomponenten und sämtliche Entgeltdifferenzierungen grundlegend in Frage und sagen: Hier hast du eine Chance des Neuanfangs." (SWM) Andere Verbände verfuhren demgegenüber nach dem Motto: "Können wir nicht, bekommen die Firmen nicht hin, bekommen wir nicht umgesetzt" (dto.) und nicht zuletzt: wollen wir nicht. Südwestmetall wollte diese "Zumutung". Insofern ist der von den ERA-Bestimmungen ausgehende Überprüfungs- und Veränderungsdruck selbst schon Ausdruck eines "Kampfes der Linien" über das Selbstverständnis, das Selbstbewusstsein und die Rolle, die die Arbeitgeberverbände einnehmen wollen. Im Kanon von Gesamtmetall vertritt Südwestmetall eine eigenständige Position. Der Flächentarifvertrag ist für den Verband nicht abgeschrieben. Er hat weiterhin eine Funktion, allerdings eine andere als bisher.

Die eigenständige Positionierung drückt sich auch im Verhältnis zu den OT-Verbänden aus. Anders als andere Landesverbände vertritt Südwestmetall erklärtermaßen nicht die Linie, Mitglieder bzw. potentielle Mitglieder auf den OT-Verband, den es auch hier gibt, zu orientieren. Werbung für eine OT-Mitgliedschaft wird nicht gemacht. "Wir propagieren nicht offen OT-Verbände und treiben die Betriebe rein, sondern wir nehmen sie als Rekrutierungsfeld, um die (Firmen) an die Tarifverbände heranzuführen." (SWM) [4]

Flächentarifvertrage sind für Südwestmetall nun allerdings kein Selbstzweck oder ein Mittel, als Verband Einfluss auf das betriebliche Geschehen zu behalten (wie der IG Metall unterstellt wird). Wäre es nur darum gegangen, den eigenen Einfluss auf die Betriebe zu sichern, hätte es nach Darstellung von Südwestmetall den ERA nicht gegeben. "Das wäre kein Grund gewesen, den ERA abzuschließen." (SWM) Anders als die Gewerkschaften könnten sich die Arbeitgeberverbände leichter mit dem Gedanken anfreunden, überflüssig zu werden. "Also wenn es uns nicht geben müsste, dann gibt es uns halt nicht. Und wenn die Betriebe den Flächentarifvertrag nicht brauchen würden und die Entgeltdifferenzierung vor Ort trotzdem vernünftig funktionieren würde, dann gibt es den halt nicht mehr." (SWM) Arbeitgeberverbände gingen deshalb mit dem Gedanken, dass Flächentarifverträge und sie selbst überflüssig werden könnten, "lockerer um" als die Gewerkschaften. Südwestmetall ist bezogen auf den Flächentarifvertrag allerdings "Überzeugungstäter". "Wir glauben daran, dass es den Betrieben wirklich etwas hilft, dass es ihn gibt." (SWM)

Genau dies soll am Beispiel des ERA deutlich gemacht werden. Exemplarisch soll gezeigt werden, welchen unmittelbaren Nutzen Tarifverträge, wenn sie "richtig" gemacht sind und konsequent umgesetzt werden, für die Unternehmen haben können. Der betriebliche Nutzen wird in drei Punkten gesehen:

  1. (Wieder-)Herstellung einer Struktur in der betrieblichen Entgeltdifferenzierung, die die Betriebe aus eigener Kraft herzustellen nicht in der Lage wären [5],
  2. Schaffung eines größeren Spielraums für die betriebliche Entgeltgestaltung durch eine klare Trennung von tariflichem und übertariflichem Entgelt,
  3. Revitalisierung der Entlohnung als personalpolitisches Führungsinstrument.[6]

Südwestmetall verspricht sich mit dieser Strategie auch einen eigenen organisationspolitischen Benefit. Er liegt vor allem in der Verringerung seiner Legitimationsprobleme durch eine klare Trennung von tariflichen und übertariflichen Entgeltbestandteilen. Damit ist auch eine Klärung der Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten verbunden. Südwestmetall zeichnet verantwortlich für das Tarifentgelt, legt nun aber auch klar, was Tarifentgelt ist und was als Tarifentgelt verkleidetes Ergebnis betrieblicher Kompromissbildung. Durch Ausweisung der Differenz zwischen tariflichem und übertariflichem Entgelt soll gegenüber den Unternehmen deutlich gemacht werden, dass die Klagen über die teuren Tarifverträge unberechtigt sind und Südwestmetall nicht gewillt ist, sich die Resultate einer kompromissorientierten und auf Fehlnutzung der tariflichen Entgeltsysteme basierenden betrieblichen Entgeltpolitik als Fehler der Tarifpolitik ankreiden zu lassen. Künftig nicht mehr zur Last gelegt werden soll ihnen zudem das relativ große zwischenbetriebliche Entgeltgefälle. Mit dem ERA sollen die Voraussetzungen geschaffen werden, letzteres wenn nicht zu egalisieren, so doch deutlich zu verringern.

Im Auftritt gegenüber den Mitgliedsfirmen verfolgt Südwestmetall einen strikten und organisationspolitisch durchaus riskanten Weg. Beratung und Unterstützung wird konsequent nur verbandsgebundenen Unternehmen zugänglich gemacht, denen allerdings mit hohem Ressourceneinsatz. Der Beratungsansatz ist offensiv. Unternehmen werden "heimgesucht", es werden auch Konflikte mit dem Management eingegangen und ggf. auch ein "Rausschmiss" riskiert. Der Auftritt ist stark und selbstbewusst. Man hat eine Botschaft und die heißt: Tarifverträge sind kein Instrument, das nur den Gewerkschaften und ihren Mitgliedern nützt. Richtig konzipiert und bezogen auf bestimmte Themen können sie auch zu einem Instrument gemacht werden, mit dem Arbeitgeberinteressen realisiert werden können. Pointiert formuliert: Die Strategie von Südwestmetall besteht in der "Umnutzung" von Tarifverträgen von einem Instrument der Gewerkschaften zu einem der Arbeitgeber.

Dabei zeigt sich Südwestmetall im Umgang mit diesem Instrument flexibel. Flächentarifverträge sind für den Verband, wie bereits erwähnt, Mittel zum Zweck, nicht Selbstzweck. Auch Tarifverträge, die die Verbindlichkeit von Tarifnormen erheblich schwächen, gehören mit in dieses Konzept. Auf das Konto von Südwestmetall geht bekanntermaßen nicht nur der ERA, bei dem die Ordnungsfunktion von Tarifverträgen herausgekehrt wird, sondern auch das "Pforzheimer Abkommen", also jene Vereinbarung, die einen neuen Schub bei der Durchlöcherung genereller Tarifstandards ausgelöst hat. Für beides steht Südwestmetall: Für die Aufweichung allgemeingültiger Standards wie für die Wiederinkraftsetzung und Stärkung der Ordnungsfunktion der Tarifverträge.

Auf der Linie "Weiterentwicklung des Pforzheimer Abkommens" bzw. Verlagerung von Regelungskompetenz von der sektoralen auf die betriebliche Ebene liegt etwa die Kündigung des "Tarifvertrags zur Fortführung von Bestimmungen des LGRTV II" in der aktuellen Tarifrunde 2006. Südwestmetall geht es dabei ihrer eigenen Darstellung zufolge nicht um eine komplette Streichung der Erhol- und Bedürfniszeiten, wohl aber um die Beseitigung "pauschaler Erholzeiten", d.h. der Verband will " seinen Mitgliedsunternehmen einen Spielraum verschaffen, innerhalb dessen nach arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen der Umfang von Pausenregelungen bestimmt werden (kann), ob und wie lange Pausenzeiten zu gewähren (sind)." (Pressemitteilung vom 6.10.2005).

Auf der Linie "Umnutzung von Tarifverträgen" liegt eine weitere Forderung von Südwestmetall, die ebenfalls in der aktuellen Tarifrunde eingebracht wurde, die jedoch bisher kaum zur Kenntnis genommen wurde: die Durchsetzung spezieller Tarifverträge für Dienstleistungstätigkeiten mit Tarifnormen unterhalb der bisherigen Standards (direkt 6/2006). Hierzu wurden schon vor längerem Grundsteine gelegt (Gründung einer Tarifgemeinschaft von Dienstleistungsunternehmen; Abschluss eines Ergänzungstarifvertrags bei DaimlerChrysler). Zu den Dienstleistungen, die hier einbezogen werden sollen, gehören: Werkschutz, Gebäudereinigung, Reisemanagement, Catering, Logistik/Lager, Buchhaltung, Rechnungsprüfung, Bürotätigkeiten.

Die Forderung der Arbeitgeber nach speziellen Dienstleitungstarifverträgen ist nicht neu, die Liste der einbezogenen Funktionen wird aber zunehmend länger, und sie basiert möglicherweise auf einer strategischen Orientierung, die mit dem ERA in unmittelbarer Verbindung steht. Was die Arbeitgeber mit einem speziellen Dienstleistungstarifvertrag für die genannten Funktionen (die sich erweitern lassen) bezwecken, lässt sich als "Entgeltstrukturpolitik zweiter Ordnung" beschreiben. Über den ERA-Prozess, über den Entgeltstrukturpolitik erster Ordnung betrieben wird, werden zunächst die für die M+E-Industrie strategisch wichtigen Funktionen identifiziert und neu gewichtet. Die Rangreihen werden neu gebildet, qualifizierte Facharbeit aufgewertet, andere Funktionen, die von geringerer strategischer Bedeutung für die Sicherung der Marktposition und Wettbewerbsfähigkeit der Branche sind und keinen oder nur einen begrenzten Beitrag zur Profilbildung und -entwicklung leisten, relativ abgewertet. Zu jenen Funktionen, die über den ERA-Prozess relativ abgewertet werden, gehören u.a. einfache Bürotätigkeiten, Buchhaltungstätigkeiten, Logistik/Lagertätigkeiten also auch solche, die nun über einen Dienstleistungstarifvertrag in einem zweiten Schritt noch weiter abgesenkt werden sollen. Dahinter könnte sich eine Strategie verbergen, die sich folgendermaßen beschreiben lässt:

(1) Tarifverträge mit einem klassischen Branchenzuschnitt werden perspektivisch nur noch für Beschäftigtengruppen bzw. bezogen auf betriebliche Aufgaben abgeschlossen, die von strategischer Bedeutung für die Sicherung und Entwicklung der Wettbewerbsposition der Branche sind. Im künftig schärfer werdenden Konkurrenzkampf um knapper werdende Humanressourcen hat Tarifpolitik ausreichend starke Signale auszusenden, dass die Branche für diese strategisch relevanten Gruppen attraktiv bleibt bzw. wird.

(2) Für "allgemeine" Unternehmensfunktionen, die es so in jedem Unternehmen in gleicher Weise gibt, werden eigene Tarifverträge angestrebt. Versammelt werden hier all jene Funktionen, die betrieblich notwendig sind, die aber keinen spezifischen Branchenbezug haben. Argumentiert man bisher als Legitimation für spezielle Dienstleistungstarifverträge mit der existierenden Tarifarbitrage, könnte perspektivisch ein branchenübergreifender "Einheitstarif" für Tätigkeiten mit geringem Branchenbezug bzw. markt- bzw. wettbewerbsstrategisch nachrangiger Bedeutung anvisiert werden.[7] Die Ausgrenzung strategisch als zweitrangig bewerteter Funktionen muss sich nicht auf Dienstleistungsfunktionen beschränken, sondern könnte sukzessive auf Produktionsfunktionen, etwa Anlerntätigkeiten in der Montage, ausgeweitet werden. Bei letzten wird der Widerstand allerdings voraussichtlich größer sein, da hier noch die Kampfgruppen der Gewerkschaften lokalisiert sind. Ein Frontalangriff dürfte sich deshalb kaum empfehlen, sondern wohl eher eine Salamitaktik, wie sie bereits in der stetig länger werden Liste von Tätigkeiten abzulesen ist, die in einen speziellen Dienstleistungstarifvertrag Eingang finden sollen.

Die tarifpolitische Strategie von Südwestmetall, mit der sich der Verband gegenüber seinen Schwesterverbänden profiliert, ist facettenreich. Sie beinhaltet die Umnutzung von Tarifverträgen zu einem Instrument der Durchsetzung von Arbeitgebergeberinteressen, ein nachdrückliches Insistieren auf der Ordnungsfunktion von Tarifverträgen wo diese nützlich erscheint und eben auch die Herabsetzung bzw. Auflösung der Verbindlichkeit von Tarifnormen durch Verlagerung der Regelungskompetenz auf die betriebliche Ebene. Die Frage ist, wie diese verschiedenen Komponenten zueinander in Beziehung stehen, ob sie sich ergänzen oder partiell widersprechen.

Wir haben diesbezüglich bisher nur eine vorläufige Antwort. Unserem Eindruck nach sind Flächentarifverträge für den Verband nicht in toto abgeschrieben bzw. ein Auslaufmodell. Eine ausschließliche und konsequente Orientierung an der Maxime "Dezentralisierung und Deregulierung" wird auf Dauer nicht als Erfolg versprechend angesehen. Sie entspricht auch nicht dem Interesse der Mitgliedsfirmen, wobei es ein einheitliches Interesse bezogen auf die Funktion und weitere Entwicklung des Flächentarifvertrags nicht gibt. Ein Großteil der Firmen, vor allem die KMUs, die die Mehrheit der Mitglieder von Südwestmetall (und Gesamtmetall) stellen, hat ein Interesse daran, dass in gewissem Maße die Ordnungsfunktion des Tarifvertrags (weniger die Kartellfunktion) erhalten bleibt. Dieser Teil der Mitgliedschaft ist, in den Worten eines Vertreters von Gesamtmetall, "überhaupt nicht daran interessiert, dass viele Vorschriften gestrichen werden, weil sie dann sozusagen in diese Lücke hinein müssen." Sie wollen die Entlastungen des Tarifvertrages, sind daran interessiert Transaktionskosten einzusparen, Ärger zu vermeiden und die Legitimität von Maßnahmen und Entscheidungen zu erhöhen.[8] Umgekehrt gibt es "andere Unternehmen, die gerne Öffnungen haben möchten." Die Interessen der Mitgliedfirmen sind somit widersprüchlich. "Die einen wollen die totale Freiheit, aber die Friedenssicherung als Kuppel oben drüber, die anderen wollen alles vermeiden, was zu viel eigene Regulierungsaktivitäten erfordert." In diesem Spagat bewegt sich der Gesamtverband und jeder Regionalverband für sich. Südwestmetall versucht, eine tarifpolitische Lösung für dieses Problem zu finden, andere Verbände mit einer schwächeren oder keiner tarifpolitischen Tradition, beteiligen sich an dieser Suche nur eingeschränkt (was auch zu Spannungen aufgrund der "free rider-Problematik" führt). Die Lösung des Problems kann nur darin liegen, dass die Interessen beider "Fraktionen" bedient werden. Unternehmen, die eine Öffnung wollen und sich zutrauen, die Regulierungslücke eigenständig zu schließen, soll diese Möglichkeit eingeräumt werden, jene die eigene Regulierungsaktivitäten scheuen, sollen sich weiterhin auf den Tarifvertrag als Norm beziehen können.

Wie hoch der Anteil der Betriebe ist, der in der Lage wäre, eigene Wege zu gehen und der nachdrücklich auf Öffnungsklauseln drängt, lässt sich nur grob schätzen. Er dürfte nach dem, was wir wissen, bei einem Drittel liegen. Dabei handelt es sich meist um größere Betriebe mit einem entsprechenden zahlenmäßigen und politischen Gewicht.[9] Die große Mehrheit der Mitgliedsfirmen ist aber, wie ein Verbandsvertreter es formuliert, weiterhin daran interessiert, "ein Buch für alle Zwecke des betrieblichen Lebens" zu haben: den Tarifvertrag. Dem muss der Verband Rechnung tragen. Status und Charakter der Tarifverträge sollen sich allerdings ändern. Sie sind kein Selbstzweck, sondern werden als Instrument zur Durchsetzung von Arbeitgeberinteressen verstanden. Wer Bedarf an dem "Buch für alle Zwecke des betrieblichen Lebens" hat, der soll es nutzen, wer keinen hat, der soll sein eigenes verfassen. Tarifverträge sollen im Ganzen oder in Teilen betrieblich gewählt werden können. Sie sind nicht für alle verpflichtend. Zudem werden Tarifnormen nicht mehr als Mindestnormen angesehen, sondern zu Höchstnormen erklärt. Sie zu überschreiten, soll tunlichst vermieden werden, vor allem darf die betriebliche Flexibilität darunter nicht leiden. Eine Unterschreitung muss jederzeit möglich sein. Dazu dient die klare Trennung von tariflichen und betrieblichen Entgeltbestandteilen und dazu dient das "Pforzheimer Abkommen", das am besten von der verpflichtenden Einbeziehung der Tarifparteien befreit werden soll. Tarifverträge nicht aufgeben, ihre Verbindlichkeit flexibel gestalten, teils auf ihrer Ordnungsfunktion bestehen (Verteilungspolitik im Gewandt von Ordnungspolitik), teils ihre ordnende Funktion herabsetzen, aus Mindestnormen Höchstnormen machen und den "Rest" über das "Pforzheimer Abkommen" und seine Weiterentwicklung regeln, das könnte die Linie von Südwestmetall sein, bei der der ERA eine wichtige, aber nur eine Komponente unter anderen ist.

Und wie verhält es sich mit der Rollen- und Profilklärung der IG Metall im Kontext der ERA-Umsetzung? Auch sie ist mit der Frage konfrontiert, wie sie das Verhältnis zwischen sektoraler und betrieblicher Ebene künftig gestalten will und wie Tarif- und Betriebspolitik unter sich rapide zu Ungunsten der Gewerkschaften wandelnden Bedingungen so verschränkt werden können, dass die Gewerkschaft noch einen gewissen steuernden und korrigierenden Einfluss behält. Generell ist unser Eindruck, dass die IG Metall als Gesamtorganisation diesbezüglich noch keine Antwort hat. Über die Notwendigkeit der Neujustierung des Verhältnisses von Tarif- und Betriebspolitik besteht wohl Einigkeit, wie diese aussehen soll, scheint jedoch bisher offen. Im Gefolge des "Pforzheimer Abkommens" wurden auf zentraler wie auf regionaler Ebene Stellen eingerichtet, die in einem ersten Schritt Transparenz über die abweichenden Vereinbarungen herstellen und ein koordiniertes Vorgehen sicherstellen sollten. Ersteres wurde wohl erreicht, letzteres nur bedingt. Die IG Metall sieht sich zunehmend in der Situation, Tarifverhandlungen sowohl auf sektoraler wie auf betrieblicher Ebene führen zu müssen. Die klassische Dualität des Systems industrieller Beziehungen wandelt sich in ein zwei- bzw. dreistufiges Verhandlungssystem mit Verhandlungen zwischen den Tarifparteien auf überbetrieblicher wie auf betrieblicher Ebene.

Innerhalb der IG Metall scheint es unterschiedliche Vorstellungen zu geben, wie diese neue Zweistufigkeit des Tarifsystems bewertet und wie mit ihr umgegangen werden soll. Während die einen in einer betriebsnahen bzw. betrieblichen Tarifpolitik als zweites Standbein neben der Fläche durchaus positive Seiten abgewinnen können, fürchten die anderen eine organisationspolitische Überforderung und/oder eine fortschreitende Auszehrung der Fläche. Debatten gibt es vor allem über die Frage, welche gewerkschaftliche Ebenen (betrieblich, lokal, regional, zentral) in die betrieblichen Aushandlungsprozesse mit welcher Kompetenz und Legitimation einbezogen sein sollen. Müssen bei betrieblichen Verhandlungen obligatorisch auch betriebliche Tarifkommissionen gebildet werden oder reicht die Teilnahme des ersten Bevollmächtigten der jeweiligen Verwaltungsstelle aus?

Dürfen betriebliche Verhandlungen erst nach Beauftragung durch die Bezirksleitung ausgenommen werden oder sind die örtlichen Bevollmächtigten hinreichend legitimiert ohne Zustimmung höher Ebenen zu verhandeln? Bedarf das Verhandlungsergebnis der Zustimmung der Bezirksleitung der IG Metall oder gar des Vorstands (wie derzeit in Fragen abweichender Arbeitszeitregelungen)? Damit eng verbunden ist die Frage, welchen Stellenwert die Koordination über die Hauptamtlichen und welchen über die Ehrenamtlichen haben soll. Soll auf partiell autonome, sich selbst regulierende und selbstverantwortliche Netzwerke aus Ehrenamtlichen gesetzt werden, die eventuell noch von Hauptamtlichen koordiniert werden sollen, oder primär auf den hauptamtlichen Apparat?

Dominant ist in Baden-Württemberg unserem bisherigen Eindruck nach derzeit das "Hauptamtlichen-Modell". Das Motto lautet: Die betrieblichen Prozesse transparent machen, wieder unter gewerkschaftliche Kontrolle bringen und abweichende Regelungen nur unter Einbeziehung der Hauptamtlichen auf örtlicher und bezirklicher Ebene zulassen. Dementsprechend nimmt die Bezirksleitung der IG Metall bei der ERA-Umsetzung den hauptamtlichen Apparat in einem seit langem nicht mehr registrierten Maße in die politische Verantwortung. Verglichen mit der Situation in den späten 80er und bis Mitte der 90er Jahre, hat sich auch der Stellenwert bzw. die Wertschätzung der Hauptamtlichen deutlich gewandelt. Wurde ihre Bedeutung für die Handlungsfähigkeit der Organisation in den späten 80er bis Mitte der 90er Jahre phasenweise stark relativiert und sie mitunter gar als "Lehmschicht" charakterisiert, die organisationspolitisch notwendige Innovation verhindert, werden sie mittlerweile wieder als Rückgrat der Organisation und Garant für ein einheitliches gewerkschaftliches Handeln betrachtet (Bahnmüller 2006). Entsprechend werden die Ansprüche formuliert und die Strukturen aufgebaut. Die eindeutige Ansage des Bezirksleiters bezogen auf die Verwaltungsstellen heißt: "ERA ist Chefsache." Verantwortlich für die erfolgreiche Umsetzung des ERA sind die Hauptamtlichen und letztendlich die Bevollmächtigen. Entsprechend sollen Steuerungsstrukturen auf lokaler und zentraler Ebene aufgebaut sein. Teilnehmer der regelmäßig stattfindenden Treffen der ERA-Beauftragten auf Bezirksebene sollen die hauptamtlich Verantwortlichen der Verwaltungsstellen sein. Die Teilnahme ist mit höchster Priorität zu versehen. Vertretungen werden ungern gesehen. Über Betriebe, die den ERA in Kraft setzen wollen, müssen die Hauptamtlichen vor Ort informiert sein und ihre Zustimmung geben. Auf Geschäftsführerbesprechungen werden der Umsetzungsstand und die Erledigung der "Hausaufgaben" (z.B. durchgeführte Schulungen) abgefragt. Zusätzlich gibt es schriftliche Abfragen, die der Information dienen und Impulse geben sollen, die jedoch auch Kontrolldimensionen haben. Der "Apparat" wird wieder stärker in die Pflicht genommen, eine Intensivierung der Zusammenarbeit mit den Betrieben bzw. Betriebsräten eingefordert. Ob sich daraus nun ein tragfähiges neues "Modell" des Verhältnisses von Tarif- und Betriebspolitik bzw. der Steuerung und Koordinierung betrieblicher Prozesse ergibt, lässt sich derzeit noch nicht sagen. Zwischen Anspruch und Wirklichkeit gibt es erkennbare Lücken. Registrierbar sind die Anspannungen, denen der "Apparat" ausgesetzt ist. Der Druck und die Belastungen sind hoch, Kritik an diesem Vorgehen gibt es jedoch kaum.

3. Zielsetzungen der Tarifparteien im Umsetzungsprozess

Neben den Zielsetzungen, die mit den erwünschten Strukturwirkungen des ERA verbunden sind und die beide Tarifparteien gemeinsam verfolgen, hat jede Seite auch solche, die sich auf den Umsetzungsprozess selbst beziehen. Dabei lassen sich entgeltpolitische, verfahrensbezogene, arbeitspolitische und organisationspolitische Ziele unterscheiden.

3.1. Entgeltpolitische Zielsetzungen

Bisher sind die entgeltpolitischen Ziele im Umsetzungsprozess auf Seiten von Südwestmetall deutlicher fassbarer als auf Seiten der IG Metall. Südwestmetall hat sie auch mehrfach beschrieben, die IG Metall nicht (zumindest kennen wir kein Papier).

Der ERA-Spezialist von Südwestmetall Gryglewski (2004) fasst sie folgendermaßen zusammen: Durch die lange Anwendungspraxis und methodische Defizite der bisherigen tariflichen Regelungen habe es in der betrieblichen Praxis "zahlreiche Fehlentwicklungen" geben. Zu denen zählten zuforderst über Jahrzehnte gewachsene "Fehleingruppierungen", die "nicht selten 15% der betrieblichen Entgeltsumme" ausmachten. "Im Durchschnitt der Betriebe in Baden-Württemberg sind fast 15% der als tarifliches Entgelt ausgewiesenen Entgeltsumme tatsächlich 'verborgenes' übertarifliches Entgelt. Da dieses Entgelt in der betrieblichen Praxis als Tarifentgelt wahrgenommen wird, steht es selbst in Krisenzeiten nicht als Flexibilitätsreserve zur Verfügung." Diese Flexibilitätsreserve soll nun durch eine klare Unterscheidung zwischen tariflichem und übertariflichem Entgelt sichtbar und in die betriebliche Disposition gestellt werden. Dabei geht es Südwestmetall lau Selbstdarstellung nicht darum, "dieses Entgeltvolumen zu beseitigen, sondern es den Betrieben zu ermöglichen, es klar als übertarifliches auszuweisen" (S. 552). Dies werde durch den "erzwungenen ,Reset' des Systems" erreicht und durch wesentlich einfachere Methoden bei der Grundentgeltfindung. Das Interesse des Verbandes ist nun darauf gerichtet, dass dieser "Reset" auch stattfindet. Ob die Betriebe hernach den "verborgenen" übertariflichen Entgeltanteil in Form betrieblicher Entgeltbausteine weiter bezahlen oder nicht und in welcher Weise sie diesen absichern, soll in deren Disposition gestellt sein. Ziel des Verbandes ist es "nur", durch eine strikte Anwendung des Systems diese Differenz auszuweisen und damit die betrieblichen Voraussetzungen für eine flexiblere Anpassung der Entgelte an wechselnde wirtschaftliche Bedingungen zu schaffen.[10]

Hinsichtlich des Leistungsentgelts besteht die Zielsetzung von Südwestmetall darin, den festgelegten leistungsvariablen Anteil von 15% im betrieblichen Durchschnitt möglichst punktgenau zu erreichen und sicherzustellen, dass die Leistungsentgelte nicht wie bisher vor allem im Akkord und abgeschwächt auch im Zeitlohn nach oben "davonlaufen".[11] Das tarifliche Kostenniveau für das Leistungsentgelt ist laut Südwestmetall "abschließend definiert" und darf als tarifliches nicht ausgedehnt werden. Auch hier gilt, wie beim Grundentgelt, dass es den Betrieben anheim gestellt wird, ein darüber hinausgehendes betriebliches Leistungsentgelt zu bezahlen, sofern ihnen dies möglich und nötig erscheint (Südwestmetall, ERA-Infobrief Nr. 1, S. 3). Hinsichtlich der Gestaltung des tariflichen Leistungsentgelts soll nach dem etwas abgewandelten Motto von Mao Tse-tung verfahren werden: "Lasst 1000 Blumen blühen." (ERA Infobrief Nr. 2, S.4). Der Tarifvertrag erlaube fast grenzenlose Möglichkeiten. Eine explizite Priorisierung bestimmter Methoden erfolgt nicht. "Unverzichtbar" im Übergang von der alten zur neuen Welt ist aus Sicht von Südwestmetall "eine Ablösung aller bisherigen Systeme. Dies sollte nicht nur mit dem Betriebsrat vereinbart, sondern die bestehenden Betriebsvereinbarungen sollten vorsorglich gekündigt werden. Notfalls sollte die Ablösung in einer Einigungsstelle durchgesetzt werden, ,Vorderwasser' bei heutigen Leistungslöhnern ist vor der ERA-Einführung zu beseitigen." (Südwestmetall, ERA Infobrief Nr. 2, S. 4)

Die IG Metall hat, wie kaum anders zu erwarten, andere Umsetzungsziele. Insgesamt gesehen tragen sie einen defensiveren Charakter als die von Südwestmetall. Die Hauptstoßrichtung ist bisher, das bisherige Entgeltniveau zu sichern sowie die Umsetzungsziele von Südwestmetall zu durchkreuzen.

In der Ankündigung von Südwestmetall, tarifliches und betriebliches Entgelt entmischen zu wollen und dabei 15% der Entgeltsumme als übertariflich ausweisen zu können, sieht die IG Metall ein klares Indiz dafür, dass sich Südwestmetall von der ursprünglich gemeinsam getragenen Auffassung verabschiedet hat, der ERA werde im Durchschnitt der Betriebe zu einer Erhöhung der betrieblichen Entgeltlinie in Höhe der verabredeten Strukturkomponente von 2,79% führen. "Sie wollen die 2,79% nicht umsetzen", mehr noch, "sie wollen keine Kostenerhöhung durch ERA" sondern sogar eine Kostensenkung (IGM). Erstes Ziel der IG Metall ist es deshalb, dieses zu verhindern. Das zweite, nicht explizit und offiziell so formulierte, sich wie auch die weiteren, aus den bisherigen Diskussionen und Gesprächen aber ergebende Ziel ist, möglichst viel des bisherigen Entgeltvolumens "in die ERA-Welt hinüber zu retten". Ein drittes, darauf aufbauendes Ziel ist es, einen möglichst großen Anteil dieses Entgeltvolumens als Tarifentgelt auszuweisen, "d.h. tariflich mehr abzusichern als in der Vergangenheit." Ein viertes, ebenfalls eher implizit als explizit formuliertes Ziel ist es schließlich, "möglichst wenige ,Überschreiter' zu produzieren und damit möglichst wenig Ärger im Betrieb" (IGM). Ein allgemeines Ziel, möglichst mehr ,Unterschreiter' als ,Überschreiter' zu produzieren, wird nicht formuliert, weil die betrieblichen Ausgangsbedingungen als zu unterschiedlich eingeschätzt werden, als dass man sich hierauf verständigen könnte. Es bleibt insofern den Betriebsräten überlassen, die ihrer betrieblichen Situation angemessenen Ziele zu formulieren.

Bezogen auf das Leistungsentgelt geht es der IG Metall grundsätzlich darum, dieses nicht nur zur Leistungsdifferenzierung zu nutzen, sondern zugleich die Leistungsbedingungen mit zum Gegenstand der Auseinandersetzung zu machen und dies nicht nur in den Bereichen des klassischen Leistungslohnes, sondern vor allem auch dort, wo es bisher keine Tradition der Leistungskompromissbildung gibt. Die Höhe des leistungsvariablen Anteils von 15% im betrieblichen Durchschnitt versteht die IG Metall als Mindest- und nicht als Sollgröße. Auch ein höherer leistungsvariabler Entgeltanteil soll nicht nur individuell, sondern auch kollektiv möglich sein und die Systeme so gewählt werden, dass dies realisierbar ist. Eine automatische Rückführung auf 15% wird abgelehnt. Hinsichtlich der Methoden liegen ihre Prioritäten bezogen auf die gewerblichen Beschäftigten nicht zuletzt wegen der mitbestimmungspolitischen Dimension auf dem Kennzahlenvergleich, der möglichst "rein", also ohne Kombination mit anderen Methoden, angewandt werden soll. Falls dies nicht möglich sein sollte, erscheint der IG Metall eine Kombination mit der Methode "Beurteilen" akzeptabel. Zielvereinbarungen allein kann sich die IG Metall im Tarifbereich nur in Ausnahmefällen als alleinige Methode vorstellen.

Insgesamt geht die IG Metall weiterhin davon aus, dass sich durch eine Eingruppierung der Arbeitsaufgaben entsprechend dem ERA-TV gepaart mit einer aktiven betrieblichen Entgeltpolitik über die paritätische Kommissionen eine Erhöhung der Entgeltsumme um 2,79% im Durchschnitt erreichen lässt und die gewollten Strukturwirkungen, d.h. insbesondere die bessere Bezahlung der Facharbeit im Zeitlohn, eintreten werden.

3.2. Verfahrensbezogene Zielsetzungen

Bezogen auf das betriebliche Vorgehen und Verfahren ist die Linie Südwestmetall strikt. Grundsätzlich lautet die Maxime: Strikte Anwendung des Tarifvertrags, insbesondere bei der Grundentgeltfindung. Dies bezieht sich auf das Vorgehen bei der Erstellung der Aufgabenbeschreibungen und Bewertungen wie auf die Anwendung der tariflichen Niveaubeispiele.

Aufgabenbeschreibungen zu erstellen, obliege laut Tarifvertrag allein dem Arbeitgeber. Diesbezüglich gäbe es kein Mitbestimmungsrecht. Aufgabenbeschreibungen seien auch nicht im Rahmen einer Reklamation mit dem Betriebsrat oder in der paritätischen Kommission zu verhandeln. Da auch die Bewertung der Arbeitsaufgabe im ERA-TV "abschließend geregelt" sei, obliege auch diese dem Arbeitgeber (Südwestmetall, ERA Infobrief Nr. 2, S. 3). Die Aufgabenschreibungen sollen zudem in Abstimmung mit dem Arbeitgeberverband erstellt werden, der den Betrieben hierfür qualifiziertes Fachpersonal zur Verfügung stellt.

Bei der Beschreibung solle man sich möglichst eng an den 122 tariflichen Niveaubeispielen orientieren. Es gelte die Maxime, "sich so eng wie irgend möglich an tariflichen Standards zu orientieren." Abweichende Beschreibungen sollen in jedem Fall mit Südwestmetall abgestimmt werden. Mindestens 75% der betrieblichen Aufgabenbeschreibungen sollten identisch mit der Beschreibung der Niveaubeispiele sein. Rund 20% der betrieblichen Aufgabenbeschreibungen könnten aus den tariflichen Niveaubeispielen durch Streichen oder Hinzufügen von Teilaufgaben abgeleitet werden. Maximal 5% der betrieblichen Aufgaben könnten nicht aus den tariflichen Niveaubeispielen abgeleitet werden (75-20-5-Regel), da der ERA hierfür keine Beispiele enthält (Kantine, Pförtner, Marketing, Finanzwesen etc.). Da auch diese Aufgaben "auf dem Detaillierungsgrad von Niveaubeschreibungen weitgehend überbetrieblich identisch sind, hat Südwestmetall hierfür ebenfalls Aufgabenbeschreibungen erstellt und entsprechend der tariflichen Systematik bewertet" (ERA-Infobrief Nr. 3, S. 2). Diese werden den Betrieben anempfohlen. In jedem Fall sollten solche Aufgabenbeschreibungen, die nicht aus den Niveaubeispielen abgeleitet werden konnten, mit Südwestmetall abgestimmt werden. "Keinesfalls sollten betriebliche Aufgabenbeschreibungen in den Status von ,betrieblichen Ergänzungsbeispielen' erhoben werden." (dto.) Hierdurch werde oft versucht, "eigene erhöhte Wertigkeitsmaßstäbe zu definieren. Diese würden dann durch die Fehlerfortpflanzung das gesamte Wertigkeitsgefüge verschieben." (dto.) Streng geachtet werden soll darauf, die Aufgabenbeschreibung und die Bewertung personell zu trennen, um überhöhte Bewertungen, zu denen Vorgesetzten neigten, zu verhindern.

Die Verfahrensempfehlungen und -erwartungen werden kompakt in acht Punkten zusammengefasst.

"1. Machen Sie klare Vorgaben zum Standardisierungsgrad der Aufgabenbeschreibung entsprechend der 75-20-5 Regel.

2. Benennen Sie für die Erstellung der Beschreibungen Projektverantwortliche, die den Diskussionen mit den Führungskräften standhalten.

3. Planen Sie ausreichend Ressourcen für diesen Diskussionsprozess.

4. Beharren Sie auf einer strikten Trennung von Beschreibung und Bewertung. Fachvorgesetzte beschreiben, Bewertungsspezialisten bewerten.

5. Sehen Sie ein eigenes Teilprojekt zur Anpassung der Arbeitsorganisation vor; mit eigenem Projektauftrag und eigener Projektleitung, die nicht identisch mit der Arbeitsbewertung ist.

6. Beschreiben und bewerten Sie die Arbeitsaufgaben ohne Betriebsrat, wie es der Tarifvertrag vorsieht.

7. Erläutern sie dem Betriebsrat ihre Vorgehensweise und diskutieren Sie mit ihm an exemplarischen Arbeitsaufgaben die Funktionsweise der ERA-Methodik, bevor sie die vorläufigen bzw. verbindlichen Einstufungen übergeben.

8. Lassen Sie die Plausibilität der Beschreibungen und Bewertungen auch von Südwestmetall prüfen. Dazu gehört auch die Besichtigung der Arbeitsplätze und eine Diskussion mit den Führungskräften." (ERA-Infobrief Nr. 3, S. 4)

Die prozess- und verfahrensbezogenen Zielsetzungen der IG Metall verhalten sich in vielen Punkten spiegelbildlich zu denen von Südwestmetall. Sie sind allerdings weniger ausgearbeitet und kompakt formuliert. Generell ist unser bisheriger Eindruck, dass Fragen der betrieblichen Vorgehens- und Verfahrensweise eher unterbelichtet wurden. In den zentralen Schulungseinheiten tauchen die damit zusammenhängenden Themen, soweit wir dies bisher zur Kenntnis nehmen konnten, als eigenständiges Feld nicht auf. Erst im Herbst 2005 wurde eine "Handlungshilfe ERA-Einführungsprozess" publiziert, die Bausteine für eine systematische Vorgehensweise der Betriebsräte enthält (IG Metall BaWü 2005).

Das heißt nun allerdings nicht, die IG Metall habe bis dahin auf Empfehlungen zur Gestaltung des Einführungsprozesses verzichtet. Diese wurden gegeben, sie waren jedoch nicht schriftlich fixiert und kommuniziert. Sie lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:

(1) Klärung der Eckpunkte der betrieblichen ERA-Einführung im Rahmen von Betriebsvereinbarungen und/oder einem Ergänzungstarifvertrag (Meilensteine, Verfahren der Ersteinstufung und Bewertung, Informations- und Beteiligungsrechte, zusätzliche Betriebsratsfreistellungen, Absicherung betrieblicher Entgeltbestandteile, Verwendung ERA-Anpassungsfonds).

(2) Möglichst frühzeitige Einbeziehung des Betriebsrats bei der Aufgabenbeschreibung und Erstbewertung im Vorfeld der paritätischen Kommission.

(3) Erstellung eigener Aufgabenbeschreibungen und Bewertungen durch den Betriebsrat als Grundlage betrieblicher Verhandlungen.

(4) Keine Einengung auf die 122 tariflichen Niveaubeispiele, sondern Erstellung einer hinreichend großen Anzahl betrieblicher Ergänzungsbeispiele der zur Konkretisierung des Stufenwertzahlenverfahrens auf die spezifischen betrieblichen Verhältnisse und zur Konkretisierung der unbestimmten Rechtsbegriffe der Niveaubeispiele (einfach, schwierig, komplex etc.). Ablehnung der 75-20-5 Regel.

(5) Abbildung der tatsächlichen betrieblichen Situation durch die Aufgabenbeschreibungen und keine Beschreibung und Bewertung fiktiver/gewünschter Aufgaben. Verhinderung eines arbeitsorganisatorischen Roll-back im Kontext des ERA.

(6) Enge Abstimmung des betrieblichen Vorgehens mit der IG Metall. Unbedingte Hinzuziehung der IG Metall bei Absicherungsvereinbarungen über zusätzliche betriebliche Entgeltbestandteile. Information bzw. Abstimmung des Zeitpunkts der Inkraftsetzung des ERA mit der IG Metall.

3.3. Arbeitsorganisatorische Zielsetzungen

Zu den gemeinsam verfolgten Zielen des ERA-Projektes gehörte es nach Darstellung der IG Metall, "moderne Formen der Arbeitsorganisation zu erleichtern und zu fördern (z.B. durch Berücksichtigung von Kommunikations- und Kooperationsanforderungen in allen Beschäftigtengruppen oder durch einen gleitenden Übergang vom Arbeiter- in den Angestelltenbereich durch flexiblere Formen des Leistungsentgelts)." Die IG Metall hält an dieser Zielsetzung fest, konstatiert allerdings eine Abkehr des Arbeitsgeberverbandes von der ursprünglich gemeinsam getragenen Auffassung, die auch Grundlage für die Aufnahme der ERA-Verhandlungen gewesen sei (IG Metall BaWü 2006, S.5). Gestützt wird dieser Eindruck durch die Übergabe von Aufgabenbeschreibungen an die Betriebsräte bzw. an die Paritätischen Kommissionen, die mit tatsächlich bestehenden Arbeitsaufgaben nicht übereinstimmen und die den Verdacht nähren, dass die "erreichte Aufgabenintegration zurückgedreht und sowohl Kommunikations- und Kooperationsanforderungen als auch Handlungsspielräume eingeschränkt oder sie als nicht bewertungsrelevante Selbstverständlichkeiten hingestellt werden" (dto.). Unterfüttert wird der Verdacht durch Vorträge und Veröffentlichungen des für die ERA-Einführung zuständigen Geschäftsführers von Südwestmetall, der dezidiert eine Abkehr vom "deutschen Weg der Arbeitsorganisation" mit seiner "Favorisierung hoher Arbeitsumfänge und Anreicherung mit direkten Tätigkeiten" fordert (Gryglewski 2005). Einfache und qualifizierte Tätigkeiten sollen systematisch entmischt werden ("jede qualifizierte Tätigkeit braucht Unterstützer"), eine Rotation aller Gruppenmitglieder in takt- und prozessabhängige, nicht direkt wertschöpfende Tätigkeiten gilt als "aus Effizienzgründen nicht sinnvoll", Selbstorganisation soll ersetzt werden durch mehr Führung im Rahmen enger Führungsspannen "mit einer wieder stärker hierarchischen Gliederung." Trotz Zurücknahme der Aufgabenintegration und der Beteiligung soll eines bleiben: "Die Verantwortung für die Arbeitsaufgabe ist kollektiv." Die IG Metall will sich einer solchen Entwicklung entgegen stellen.

Arbeitgeberseitig wird nicht bestritten, dass es sinnvoll wäre, den ERA zum Anlass zu nehmen, die Arbeitsorganisation grundsätzlich auf den Prüfstand zu stellen. Dies entspräche auch dem idealtypischen arbeitswissenschaftlichen Vorgehen, da ansonsten überholte Organisationsstrukturen durch die neuen Entgeltgruppen verfestigt würden. Deshalb wurde im Geschäftsbericht 2004 von Südwestmetall (S. 25 f) auch empfohlen, "in jedem Fall (.) im Rahmen der ERA-Einführung die betrieblichen Organisationsstrukturen auf den Prüfstand zu stellen." Zwischenzeitlich wurde diese Position allerdings etwas modifiziert. Mittlerweile wird von dem für ERA zuständigen Geschäftsführer die Position vertreten, "nicht alles gleichzeitig anzugreifen", weil der Prozess sonst nicht mehr handhabbar ist. Die Führungskräfte seien mit der ERA-Einführung schon massiv gefordert. "Wenn ich jetzt noch gleichzeitig die Organisation auf den Kopf stelle, dann übernehme ich mich an der Stelle"(Gryglewski). Dennoch müssten die arbeitsorganisatorischen Ungereimtheiten, die durch die neuen Aufgabenbeschreibungen ans Licht befördert würden, gleich bearbeitet werden. Dabei handele es sich jedoch meist um kleinere Bereinigungen. Eine grundsätzliche Überprüfung der Arbeitsorganisation, die im Prinzip für nötig erachtet wird, soll jedoch von der ERA-Einführung abgetrennt, zeitlich entkoppelt und auch anderen Personen als die ERA-Einführung übertragen werden, die in der Regel beim Personalwesen verortet ist. "Die betrieblichen Experten für die Arbeitsbewertung sind nicht für die Arbeitsorganisation zuständig. Dies würde sie deutlich überfordern" (ERA Infobrief Nr. 3, S. 4). Zudem wird ihnen keine ausreichende Durchsetzungsmacht gegenüber den Fachbereichen zugesprochen. "Für Eingriffe in die Organisationsstruktur der Fachbereiche ist aber der Hebel der Personalbereiche oft zu kurz." (Südwestmetall, Geschäftsbericht 2004, Stuttgart, S. 25)

Grundsätzliche Veränderungen in der Arbeitsorganisation sollten somit nach Einschätzung des befragten Geschäftsführers von Südwestmetall im unmittelbaren Zusammenhang mit der ERA-Einführung nicht angegangen werden. Dass sich die Unternehmen unabhängig davon grundsätzlich mehr mit der Arbeitsorganisation auseinandersetzen sollten, wird dennoch nachdrücklich unterstrichen. Die Arbeitgeber stellten die Arbeitsorganisation viel zu wenig auf den Prüfstand. Das geschähe zu seinem Bedauern "meist nur sehr rudimentär". Ein eigenes Projekt "Arbeitsorganisation" sei meist nicht vorgesehen. "Ich wäre froh, wenn sie die Arbeitsorganisation angingen, nicht in dem Sinne, dass sie alle dequalifizieren oder abwerten, sondern dass sie wirklich auf die Sinnhaftigkeit der Organisation schauen. Aber das findet so gut wie gar nicht statt." Deshalb handele es sich bei der Einschätzung der IG Metall, Südwestmetall verfolge im Zusammenhang mit dem ERA eine Strategie des systematischen Roll-back in der Arbeitsorganisation, um ein "Wahrnehmungsproblem". Es seien kleinere Korrekturen, die nunmehr vorgenommen werden sollten. Größere stehen demnach noch aus und sie werden, so unser Eindruck, mit zeitlichem Abstand zum Einführungsprozess des ERA auf den Weg gebracht.

Zurückgewiesen wird die von der IG Metall vertretene und auch in unserem Antrag formulierte Erwartung, durch den ERA würden qualifizierte Formen von Gruppenarbeit oder andere Formen partizipativer und integrativer Form der Arbeitsorganisation in besonderer Weise gefördert. Diese Einschätzung ist nach Meinung des ERA-Zuständige des Verbandes "einfach Quatsch". Der Zusammenhang zwischen der konkreten Arbeitsaufgabe und der Entlohnung sei vielmehr bewusst gelockert worden. "Einsatzflexibilität wird im ERA quasi nicht berücksichtigt. Ob Sie eine oder zwei Maschinen bedienen wirkt sich in der Regel nicht aus. Ob Sie eine Steuerung mehr oder weniger lernen wirkt sich nicht aus. Weniger als im alten System wirkt sich das aus! Wir wollten ja gröber werden! Wir haben ja die feinen Differenzierungen abgeschafft! Also, das ist schlichtweg ein Irrtum, dass ERA diese Dinge fördern wird" (SWM).

Eine enge Verkoppelung von Entgelt und Arbeitsorganisation sei auch nicht sinnvoll, da dann nach dem Grundsatz verfahren werde: "Ich denke nicht mehr darüber nach, was ist sinnvoll, sondern was bringt mir irgendwie Kohle oder eben auch keine Kosten auf der anderen Seite." Insofern wurde der Zusammenhang im Verhandlungsprozess des ERA - allerdings wohl nur im kleinen Kreis - arbeitgeberseitig durchaus thematisiert, allerdings in der Richtung aufgelöst, ihn zu lockern. "Man kann natürlich sagen: Bestimmte Kriterien, wie Kommunikation, Handlungsspielraum etc. sind spezifischer auf solche vollständigeren Aufgabeninhalte abgestellt." Diesbezüglich müsse man jedoch "sehr vorsichtig sein, weil sie eben auch sehr unempfindlich dagegen sind. Dafür sind die Stufen auch sehr grob." Einmal im Jahr etwa eine Urlaubsplanung für eine Gruppe zu machen, wirke sich auf die Kommunikationsanforderung nicht aus. "Ihre Kommunikation ist nicht dadurch geprägt, ein Mal im Jahr oder zwei Mal eine Urlaubsplanung zu machen. Da muss man sehr vorsichtig sein." ERA mit dem Argument verkaufen zu wollen, "über ihn würden solche Anforderungen nun endlich berücksichtigt und fänden Eingang in die Entlohnung, (würde) sowohl diese Form der Arbeitsorganisation als auch den ERA töten." Das gelte umgekehrt natürlich auch. "Dadurch, dass ich die Urlaubsplanung nicht mehr mache, fällt natürlich auch kein Geld weg. Also insofern hat ja auch der Arbeitgeber gar kein Interesse daran, aus Kostenersparnisgründen diese Dinge zurückzufahren, weil das System ganz unempfindlich dagegen ist. Ich glaube, es hängt ganz, ganz wenig damit zusammen" (SWM).

Das Entgeltsystem sei somit "relativ unempfindlich" gegenüber arbeitsorganisatorischen Veränderungen. Das gelte in beide Richtungen und darin liege "vielleicht die Chance" für die Arbeitsorganisation. "Ich kann unideologisch und ohne materiell gleich Auswirkungen zu haben, über Arbeitsorganisation reden. Das ist dann eine Frage wirklich von Effizienz und auch arbeitspolitischen Zielsetzungen, wo ich dann entspannt darüber reden kann. Da hat ERA überhaupt keine Vorzugsrichtung. Es ermöglicht mir vielleicht eine etwas entspanntere Diskussion darüber."

3.4. Organisationspolitische Zielsetzungen der Verbände

Der Umstand, dass beide Seiten den ERA zu einem Erfolg machen wollen, der sie organisationspolitisch stärkt, bedarf keiner weiteren Erklärung. Welchen organisationspolitischen Benefit sich Südwestmetall verspricht, wurde bereits erwähnt. Es geht um

  • einen erhofften Profilgewinn des Verbandes durch die Verdeutlichung des Nutzens von tariflichen Regelungen und die Übernahme einer aktiven Beratungsfunktion vor allem gegenüber KMUs (aber nicht nur diesen gegenüber) im Einführungsprozess,
  • die Verringerung der Legitimationsprobleme des Verbandes durch Entmischung von tariflichen und übertariflichen Entgeltbestandteilen und damit die Klärung der Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten zwischen sektoraler und betrieblicher Ebene.

In wieweit der Verband auf eine Stabilisierung oder Steigerung der Mitgliederzahlen setzt und sich entsprechende Ziele gesetzt hat, ist bisher nicht bekannt. Die Orientierung, Informationsmaterial, Umsetzungsinstrumente und Beratungsleistungen konsequent nur Mitgliedsfirmen zur Verfügung zu stellen, spricht dafür, dass Südwestmetall über die ERA-Einführung auch Mitglieder halten und neue gewinnen will.

Dies ist auch Zielsetzung der IG Metall, die auf bezirklicher Ebene ein eigenes Projekt "Mitgliedergewinnung durch ERA" aufgelegt hat (Beginn 1/2006). Auch auf lokaler Ebene ist es erklärtes Ziel, den ERA zu nutzen, um den negativen Trend in der Mitgliederentwicklung zu stoppen und wenn möglich umzukehren. Wie realistisch die Hoffnungen sind, wird unterschiedlich eingeschätzt, wobei ein Boom an neuen Mitgliedschaften niemand der von uns Befragten erwartet. Vorherrschend sind eher verhaltene Einschätzungen. Eine Stabilisierung der Mitgliederzahlen würde von der Mehrheit wohl als Erfolg eingeschätzt. Nicht selten sind skeptischere Stimmen zu hören. Mitgliederzuwächse ergeben sich nach den bisherigen Erfahrungen teilweise bei einer konfliktbeladenen ERA-Einführung. In solchen Fällen kommt wieder die traditionelle Schutzfunktion der Gewerkschaft zur Geltung, was nicht nur Arbeiter, sondern in gewissem Maß auch Angestellte animieren kann, einer gewerkschaftlichen Mitgliedschaft näher zu treten.

Literatur

Bahnmüller, Reinhard (2006): Willi Bleicher und seine Enkel. Eine Skizze zum Führungs- und Politikstil von Gewerkschaftsführern der IG Metall in Baden-Württemberg. In: Bernd Jürgen Warneken (Hrsg.): Volksfreunde. Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Instituts, Bd. 100, Tübingen (Im Druck).

Gryglewski, Stefan (2004): Der Entgeltrahmentarifvertrag der Metall- und Elektroindustrie in Baden-Württemberg. In: Andreas Beck (Hrsg.) Personalmanagement 2004. Fachtagung 27./28.Oktober 2004, Esslingen, S. 549-554.

Gryglewski, Stefan (2005): Sicherung von Produktionsarbeit in Deutschland. Reformbedarf der arbeitspolitischen Leitbilder, Vortrag Aachen (unveröff. Manuskript).

Haipeter, Thomas/Schilling, Gabi (2006a): Arbeitgeberverbände in der Metall- und Elektroindustrie. Tarifbindung, Organisationsentwicklung und Strategiebildung. Hamburg.

Haipeter, Thomas/Schilling, Gabi (2006b): Von der Einfluss- zur Mitgliedschaftslogik. Die Arbeitgeberverbände und das System der industriellen Beziehungen in der Metallindustrie. In: Industrielle Beziehungen, Jg. 13, Heft 1, S. 21-42.

IG Metall BaWü (2005) : Handlungshilfe ERA-Einführungsprozess, Stuttgart.

IG Metall BaWü (2006): Argumentationshilfe "ERA-Einführung bei Gruppenarbeit und anderen Formen flexibler Arbeitsorganisation" (Entwurf), Stuttgart.

Schmidt , Werner/Dworschak, Bernd (2006): Pay Developments in Britain und Germany : Collective Bargaining, 'Benchmarking', und 'Mimetic Wages'. In: European Journal of Industrial Relations. Vol. 12, No. 1, pp 98-109.

Südwestmetall (o.J.): ERA-Infobrief. Erläuterungen zum Entgeltrahmen-Tarifvertrag, Nr. 1 bis Nr. 3, Stuttgart.

Südwestmetall (o.J.):Was Unternehmen bindet, Stuttgart.

Südwestmetall (2005): Geschäftsbericht 2004, Stuttgart.

Walton, Richard E./McKersie, Robert B. (1965): A Behavioral Theory of Labor Negotiations. An Analysis of a Social Interaction System, New York .

Anmerkungen

1) Um eine Absenkung des Tarifentgelts bei den Leistungslöhnern, die bisher im betrieblichen Durchschnitt einen Anteil von 30%, künftig 15% abgesichert haben, hätte die Entgeltlinie in den unteren Entgeltgruppen eigentlich höher ausfallen müssen. Dies hätte jedoch zu einer erheblichen Verteuerung von einfacher Arbeit im Zeitlohn geführt, was nicht gewollt war. Deshalb wurden Sockelbeträge im Entgeltaufbau für die klassischen Leistungslöhner vereinbart, d.h. die Beschäftigten erhalten einen prozentualen Zuschlag in Abhängigkeit von der Entgeltgruppe und dem Arbeitsbewertungssystem. Die Sockelbeträge für die Beschäftigten aus der analytischen Arbeitsbewertung sind höher als die für die Beschäftigten aus der summarischen Arbeitsbewertung, da die Geldbeträge in der Analytik im Anlernbereich höher sind als in der Summarik.

2) Falls zum Stichtag der Einführung des ERA keine neuen betrieblichen Leistungsentgeltregelungen vereinbart wurden, erfolgt eine Überführung der bisherigen Leistungsverdienstgrade nach im ERA-Einführungstarifvertrag beschriebenen Regelungen (Regelüberführung; §§ 3.4.21. ff).

3) Als Problem empfinden vor allem die gewerkschaftlichen Vertreter, dass sich die Interpretation des Tarifvertrags zunehmend von seiner Genese, d.h. vom Verhandlungsprozess und den Intentionen beider Seiten ablöst und sich die Arbeitgeber eine rein textlich-systematische Interpretation des ERA zu eigen machen. Ein gemeinsames Grundverständnis des Tarifvertrags müsse ihres Erachtens jedoch aus der (Verhandlungs-)Geschichte kommen. Der Arbeitgeberseite wird unterstellt, sie löse sich davon ab, interpretiere den Tarifvertrag nach Textlage und aus rein juristischer Sicht. Der Unterschied zwischen einer "historisch-genetischen" Interpretation des Tarifvertrags und einer "textlich-systematischen" sorgt somit für zusätzlichen Konfliktstoff.

4) Die Unterschiede der Regionalverbände von Gesamtmetall im Umgang mit OT-Mitgliedschaften sind, wie Haipeter und Schilling zeigen konnten, beträchtlich und diese verdienen Beachtung. In den vier untersuchten Schwesterverbänden von Gesamtmetall schwankt der Unternehmensorganisationsgrad der OT-Verbände zwischen 30% (Bayern) und 5% (Thüringen). Die Unterschiede wären möglicherweise noch größer, wenn Südwestmetall mit im Untersuchungssample gewesen wäre, was bedauerlicherweise nicht der Fall ist. Leider wird in dem Artikel der Autoren zu wenig versucht, die Schwankungsbreite zu erklären. Als generelle Erklärung für den Bedeutungszuwachs von OT-Verbänden wird auf die schwache Repräsentanz der KMUs in den Beschlussgremien und des damit verbundenen geringen Einflusses verwiesen. Dieser sei strukturell durch die Bindung des Stimmrechts an das Beitragsaufkommen bzw. die Lohn- und Gehaltssumme der Mitgliedsfirmen bedingt. Die KMUs suchten eine eigene Organisationsdomäne und fänden sie in den OT-Verbänden. Ob dieser Argumentationsgang wirklich zutrifft, wäre allerdings erst noch zu klären. Bemerkenswert erscheint uns, dass die Verkoppelung von Stimmrecht und Lohn- und Gehaltssumme der Betriebe in den meisten der von Haipeter und Schilling untersuchten Regionalverbände gegeben ist, aber nicht in allen. In welchem Verband dieses Prinzip nicht gilt, wird nicht erwähnt. In Baden-Württemberg ist diese Verkoppelung schon seit längerem aufgehoben. Er war eine Reaktion auf die schon in den 80er Jahren massiv vorgetragene Kritik der KMUs an der strukturellen und realen Dominanz der Großbetriebe. Deshalb wurde eine Satzungsänderung vorgenommen. Bei Südwestmetall gilt nun: "Jede Firma hat in den Verbandsgremien das gleiche Stimmrecht und Gewicht." (Südwestmetall, Was Unternehmen bindet, o.J., S. 5) In den Selbstdarstellungen des Verbandes wird dies auch deutlich herausgestellt. Möglicherweise liegt darin auch ein wesentlicher Grund für die relativ geringe Bedeutung des OT-Verbandes in Baden-Württemberg. Die KMUs brauchen keine eigene Organisationsdomäne. 42% der Mitgliedsbetriebe von Südwestmetall haben weniger als 100 Beschäftigte, 18% liegen in der Größenklasse 100 bis 199 Beschäftigte, weitere 23% zwischen 200 und 499. Der Anteil der Mitgliedsfirmen mit 500 und mehr Beschäftigten beläuft sich somit auf lediglich 17% (Südwestmetall: Geschäftsbericht 2004).

5) Aus eigener Kraft wären die meisten Betriebe nach Meinung von Südwestmetall nicht in der Lage, eine neue Entgeltordnung herzustellen. "Die Einzelbetriebe sind mit Sicherheit überfordert." (SWM) Dafür fehle ihnen die personelle Kapazität und das nötige Know how. Viele Betriebe mit weniger als 200 Beschäftigten, also mehr als die Hälfte der Verbandsmitglieder von Südwestmetall, "haben noch nicht einmal einen Personalleiter, geschweige denn, dass sie methodisch etwas von Arbeitsbewertung verstehen." Zudem sei ihnen der Marktpreise für bestimmte Qualifikationstypen nicht bekannt weil "gute Marktpreise sich nämlich nur heraus(bilden), wenn sie genügend Marktvolumen haben." (SWM) Sei z.B. nur alle zehn Jahre ein Controller-Posten zu besetzen, wäre unklar, welchen Marktpreis man hier zugrunde legen soll. Orientiere man sich an dem, was der Nachbarbetrieb bezahle, sei doch sehr die Frage, ob das der Marktpreis sei. "Also es ist gar nicht einfach, den richtigen Marktpreis zu finden." Das gelte selbst für größere Unternehmen, die meinten, sie könnten dies. Wenn man in die Tiefe gehe und die Entgeltstatistiken der Großunternehmen untersuche und vergleiche, zeige sich: "Die haben ihre eigenen internen Marktpreise gebildet." Die Spreizung der Entgeltsätze zwischen Beschäftigtengruppen mit vergleichbaren Anforderungen sei enorm. So verdiene etwa ein Gruppenleiter zwischen 40.000 und 80.000 Euro. Von einem Marktpreis könne man deshalb nur schwerlich sprechen.

Grundsätzlich sei es "unglaublich schwierig, wirklich Markttransparenz zu schaffen." Die Entgeltstatistik, die Südwestmetall seit Jahren selbst erstellt, bringe diesbezüglich auch kaum Licht ins Dunkel. Die Daten hätten "überhaupt keine Aussagekraft", weil damit nur das Effektiventgelt in der jeweiligen Entgeltgruppe erfasst würde. Die Frage sei aber, "ist der richtig in der Lohngruppen eingruppiert." Deshalb sage die Besetzung der Entgeltgruppen wie die der pro Entgeltgruppen erfassten Effektivverdienste nichts aus. Südwestmetall überarbeitet deshalb derzeit (in Abstimmung mit Gesamtmetall) die eigene Entgeltstatistik, indem nicht nur die Effektiventgelte in den jeweiligen Entgeltgruppen erfasst werden, sondern zusätzlich Aufgabenbeschreibungen entsprechend der ERA-Systematik (und Nummerierung) hinterlegt werden. Auf diese Weise soll perspektivisch bundesweite Transparenz über die tarifliche Bewertung von Arbeitsaufgaben und die Realverdienste hergestellt werden.

Die Entgeltstrukturen in Eigenregie der einzelnen Unternehmen festzulegen sei zudem deshalb schwierig, weil der Preis der Arbeitskraft auch durch außerökonomische Faktoren bestimmt werde. "Es gibt ja nicht per se den richtigen Preis, sondern außer den Knappheiten am Markt stehen ja auch bestimmte Werthaltungen dahinter." So gäbe es hierzulande etwa die Tradition, universitäre Ausbildung besser zu bezahlen als eine im Rahmen des dualen Systems. "Ob das richtig ist, ob das gerecht ist, das ist eine Werthaltung, die in der Gesellschaft vorherrscht." Und diese Werthaltungen seien im Wandel, was sich am Beispiel kaufmännischer und technischer Aufgaben zeigen lasse. Die kaufmännischen Aufgaben galten lange als den Arbeitgebern und den unternehmerischen Aufgaben näher stehend und wurden deshalb auch besser bezahlt. Im kaufmännischen Bereich habe es deshalb auch nie Anlernjobs gegeben, was "eigentlich Quatsch" sei, weil es auch dort immer Tätigkeiten gab, die keine Ausbildung verlangten (Büroboten, einfache Schreibarbeiten). Dennoch fänden sich in diesen Bereichen kaum Beschäftigten ohne kaufmännischen Berufsabschluss. Zwischen technischen und kaufmännischen Funktionen hätten sich nun allerdings die Wertigkeiten geändert, "und dem müssen wir Rechnung tragen." (SWM)

6) Der betriebliche Wildwuchs in der Eingruppierung hat nach Darstellung von Südwestmetall dazu geführt, dass "das Entgelt als Führungssystem völlig verloren" ging. Würde heute veröffentlicht, was wer in welchem Betrieb verdient, "führt dies zu keiner großen Motivationswelle, weil die Relationen nicht nachvollziehbar sind." Würden die Beschäftigten demotiviert, wenn Transparenz hergestellt wird, "dann hat das keine Führungsfunktion mehr." Die Entgeltstrukturen wieder so zu gestalten, dass eine Veröffentlichung nicht gescheut werden muss, sondern von den transparenten Strukturen Motivationswirkungen ausgingen, war jener Aspekt, an dem die Unternehmen unmittelbar interessiert waren. Die Betriebe wollten "ein Instrument zur Entgeltdifferenzierung, eine Basisdifferenzierung, auf die man sich immer wieder beziehen kann." (SWM) Im Tagesgeschäft werde man davon sicherlich im Laufe der Zeit abweichen (müssen), "weil wir kurzfristige Marktschwankungen von bestimmten Qualifikationen im Tarifvertrag nie nachvollziehen können. Aber ich habe einen langfristigen Bezugspunkt, auf den ich immer wieder zurückkommen kann, der mir langfristig eine bestimmte Struktur" vorgibt. Und dies auf der Basis nachvollziehbarer Kriterien. "Das ist als Personalführungsinstrument ganz wichtig." Tarifpolitische Funktion des ganzen ERA-Projektes war es somit, "den Betrieben überhaupt wieder eine verlässliche Grundstruktur für die betriebliche Entgeltdifferenzierung zu liefern. Tarifverträge müssen eine Grundlage für die betriebliche Entgeltdifferenzierung liefern, sonst funktionieren sie nämlich nicht."(SWM)

7) Dazu passen die Äußerungen des ERA-Experten von Südwestmetall, wonach durch den ERA jene Tätigkeiten aufgewertet werden sollen, die "die Konkurrenzfähigkeit der M+E-Industrie bestimmen". Tätigkeiten, die von strategisch herausgehobener Bedeutung für die M+E-Industrie sind, müssen besser bewertet, andere, die keinen spezifischen Branchenbezug haben, relativ hierzu abgewertet werden. Letzteres gelte etwa für kaufmännische Sachbearbeiter oder Sekretärinnen, die keinen spezifischen Beitrag zur Profilbildung der M+E-Industrie leisteten. "Die müssen wir auch nicht besser bezahlen als in anderen Industrien." Genau dies sei jedoch der Fall, "und das ist auch durchaus ein Problem: Wir zahlen einfache kaufmännische Tätigkeiten in der Metallindustrie traditionell höher als in allen anderen Branchen, obwohl die nicht metallspezifisch sind." Bei qualifizierten technischen Aufgaben sei das anders. "Die unterscheiden uns von anderen Industrien. Da müssen wir uns auch differenzieren, da müssen wir attraktive Arbeitsbedingungen bieten. Wir müssen Sekretärinnen nicht besser bezahlen als anderswo, das macht keinen Sinn. Aber für spezifischen Aufgaben, die für unsere Wettbewerbsfähigkeit wichtig sind." Hinter den Wertigkeitsentscheidungen, die in den ERA eingeflossen sind, stehen demnach arbeitgeberseitig (und möglicherweise auch gewerkschaftsseitig) strategische industriepolitische Überlegungen. Daraus ergeben sich aus Sicht der Arbeitgeber Konsequenzen für Tätigkeiten, die es quer zu allen Branchen gibt. Sie sollen aus der Branchenlogik der Flächentarifverträge herausdefiniert werden. Im Visier ist ein branchenübergreifendes Bewertungslevel für Funktionen, die sich überall finden und denen kein spezifischer Beitrag zur Verbesserung der Wettbewerbsposition zugeschrieben wird.

8) Selbst wenn sie aus dem Arbeitgeberverband aus- oder erst gar nicht eintreten, bleiben sie in der Ausgestaltung der betrieblichen Arbeitsbedingungen in hohem Maße auf das Tarifsystems bezogen. Sie sind die free rider des Tarifsystems. Es ist und bleibt ihr Bezugssystem, weil sie ein eigenes nicht entwickeln können. Als Alternative ihnen lediglich zur Verfügung, "to do what others do", also ein mimetisches Verhalten ( vgl. hierzu ausführlich Schmidt /Dworschak 2006)

9) Dass sie dennoch bisher nicht aus den Verbänden ausgetreten sind, dürfte einerseits damit zu tun haben, dass die Flächentarifverträge bei ihnen bisher eher dämpfend auf aus das materielle Niveau gewirkt haben. Zudem verhindert der hohe Organisationsgrad und Einfluss der IG Metall in diesen Betrieben bis heute ein Ausscheren. Ganz generell ergibt sich das Festhalten am Flächentarifvertrag nicht nur durch das Interesse der Arbeitgeber an dieser Institution. Genauso wichtig ist der Druck, der von der Gewerkschaft und den Betriebsräten ausgeht.

10) "Will ein Betrieb seinen Beschäftigten mehr bezahlen, so muss dies durch übertarifliche Entgeltbestandteile erfolgen. Dies kann in vielen Fällen sinnvoll und auch notwendig sein. Z.B. in Form von Erfolgsbeteiligungen in Abhängigkeit von der betrieblichen Leistungsfähigkeit oder persönlichen Zulagen für aktuelle Knappheiten am Arbeitsmarkt." (ERA Infobrief Nr. 1., S. 3)

11) Zu verhindern, dass die Entwicklung wieder in die gleiche Richtung läuft wie ehedem beim Akkord und gleichzeitig die 15% nicht so zu zementieren, dass Leistungssteigerungen des einen nicht durch Minderung des Leistungsanteils des anderen kompensiert werden müssen, war nach Darstellung des ERA-Experten von Südwestmetall, das Kunstwerk, das zu vollbringen war. "Weil auch wir haben kein Interesse daran, dass jemand nur besser werden kann, wenn jemand anderes schlechter werden muss. Das ist nicht wahnsinnig motivierend. Aber was eben auch nicht stimmt ist, dass die Leute immer nur besser werden in ihrer Leistung." Tarifvertraglich wurde versucht dem Problem durch eine Verpflichtung zur Nachsteuerung angegangen, die dann greift, wenn von dem Soll-Punkt 15% 1% nach oben oder unten abgewichen wird.


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