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Updated: 18.12.2012 15:51
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Statt "TINA", jetzt "AKAS": Intellektuelle und Systemveränderung: "Alles könnte anders sein"

Im Berliner Haus der Kulturen der Welt versuchten zehn Intellektuelle mit "Interventionen", die "marktradikalen Angriffe auf die Demokratie" abzuwehren. Und im krassen Gegensatz zu dem von Margret Thatcher entliehenen "TINA" (There is no Alternative), das die Kanzlerin Merkel - richtig vernarrt in diese alte neoliberale Tradition der Thatcher - dann eingedeutscht "alternativlos" zu nennen beliebte, hat der zukünftige Feuilleton-Chef der FAZ, Nils Minkmaar, schon einmal den aus einer Berliner Anarchistenkneipe entliehenen Spruch "Alles könnte anders sein" - oder einfach "AKAS" über seinen Frankfurter Redaktionsschreibtisch gehängt. (Siehe den Artikel von Ingo Arend in der taz vom 19.12.2011: http://www.taz.de/Intellektuelle-und-Systemveraenderung/!84000/ externer Link)
Und dieser Nils Minkmaar trieb es dann für deutsche Verhältnisse besonders toll, indem er doch schon in der FAZ die Notwendikeit eines "Systemwechsels" an die Wand malte. (Vgl. "Endlich die Systemfrage":  www.nachdenkseiten.de/?p=11590#h01 externer Link)

Nun beginnen wir doch am besten mit "AKAS" und machen wie die Kinder zu Weihnachten einen "Wunschzettel", was wir jetzt  wieder "alles" geändert haben möchten.

Wir können uns ja den Lambsdorff zum "Vorbild" nehmen -  und vom Gegner lernen. Was der damals aufgeschrieben hatte, ist dann auch nicht gleich gekommen, sondern so "im Laufe der Zeit" Stück für Stück "umgeschrieben" worden  - und zum Schluss kam es sogar noch soweit, dass die Sozialdemokraten eine "Markt-Verweigerungs-Profil-Neurose" bekamen und noch einen wahnsinnigen Ehrgeiz entwickelten, bei der "Schaffung" dieser neuen marktradikalen Welt doch auch noch mit besonderer Verve  dabei gewesen zu sein. Und Fachleute sagen uns heute, dass inzwischen so doch das Allermeiste von diesem Lambsdorff`schen Programm "verwirklicht" worden ist. (Vgl. dazu den Fachmann für Neoliberalismus und Soziales Christoph Butterwegge "Drehbuch für den Sozialabbau":  www.nachdenkseiten.de/?p=2625 externer Link - oder auch noch die Seite 2 "... zur Geschichte des Narrativs"  bei   www.labournet.de/diskussion/eu/wipo/krise_bahl15.html)

Auf - zum Aufbau eines "Anti-Lambsdorff"-Narrativs!

So etwas kann man doch einmal heute in Angriff nehmen - sozusagen einen gewerkschaftlichen "Gegen-Lambsdorff"...  - mit diesem schönen Motto "ALLES könnte anders sein".
Und unsere Kinder können dann einmal überprüfen, was zu ihren Gunsten - d.h. zu Gunsten der Mehrheit in diesem Land - davon dann "eingetreten" ist - denn im Prinzip bekommen wir das eben nur mit kleinen Schritten hin, aber dem Lambsdorff hat das ja auf längere Sicht gesehen auch zum "totalen" Sieg des neoliberalen Marktradikalismus verholfen , der jetzt mit dieser gewaltigen Krise sein Scheitern vor aller Welt "verkündet".

Ein erster Schritt wäre die Herstellung einer vollen gewerkschaftlichen Handlungsfähigkeit auch für Deutschland

Wie Lambsdorff sein Programm mit der Forderung nach einem "Verbändegesetz" begann, um die Gewerkschaften "marktfromm" an die Kandare zu legen, so würde ich jetzt mit unserem Motto "Alles könnte anders sein" auch einmal mit den Gewerkschaften beginnen wollen, die mit ihrer mangelnden Durchsetzungsfähigkeit im Gesamtkontext von Europa in dem deutschen "Exportüberschuss-Lohndumping-Wachstums-Modell" eine so traurige Rolle spielen müssen - müssen? - ja, weil dieser Zustand auch politisch nicht allein herbeigeführt , aber deutlich noch verschärft wurde. (Vgl. dazu wie die deutschen Arbeitskosten eine wesentliche Quelle der Instabilität im Euroraum wurden: www.labournet.de/diskussion/eu/sopo/lohn_bahl2.html sowie auch weiter schön deutlich:  Friederike Spiecker "Welche Verantwortung kommt der Lohnpolitik bei der Lösung der Eurokrise zu?": www.nachdenkseiten.de/?p=11454 externer Link)
 
Bedauerlicherweise könnte es im strategischen Machtkalkül der aktuellen europäischen Eliten liegen, mit und durch die Krise auf der Grundlage dieser einfach vorhandenen "Durchsetzungsschwäche" der deutschen Gewerkschaften auch die anderen europäischen Gewerkschaften durch Beseitigung ihrer zentralen Rechte, wenn vielleicht auch nicht, wie in Deutschland nach 1933 geschehen, zu "beseitigen" (= zu verbieten), so doch in ihrer Funktion einer - auch ökonomisch angemessenen - Lohnfindung "existentiell" zu schwächen. (Vgl. z. B. www.labournet.de/diskussion/eu/wipo/krise_bahl19.html - und zu Griechenland schon  Zoe Lanara besonders zu Aufhebung der Arbeitnehmer-Rechte: www.gegenblende.de/12-2011/++co++58da907a-105b-11e1-4f63-001ec9b03e44 externer Link - und allgemein: Niels Kadritzke: www.nachdenkseiten.de/?p=11643 nebst dem Hinweis auf das Heft der Evangelischen Akademie Loccum "Griechenland und die Lehren für die Euro-Zone" auf der Seite 1 (!) )  - und weiter auch noch im einzelnen www.labournet.de/internationales/gr/schuldenkrise.html

Und ein deutsch-französisches Missverständnis über die jeweilige Bedeutung der Gewerkschaften
Der für die deutschen Gewerkschaften bedeutsame Ökonom Gustav Horn (www.nachdenkseiten.de/?p=11458 externer Link - dort die Seiten 4 und 5 (!)) antwortete auf die Frage, ob er es nicht für fatal halte, wenn nicht einmal aus den - deutschen - Gewerkschaften heraus eine Stimme zu vernehmen sei, dass das deutsche Lohnniveau, die deutsche Lohnentwicklung hauptsächlich auch für die Eurokrise verantwortlich zeichnet - u.a.  folgendermaßen: "Der Fehler, den Frau Lagarde gemacht hat, ist, dass sie frontal die - deutschen - Gewerkschaften angegriffen hat." (vgl.  dazu noch einmal, was Frau Lagarde als damalige Wirtschafts- und Finanzministerin von Frankreich gegenüber dem "Ecofin-Rat" formuliert hatte: www.labournet.de/diskussion/eu/sopo/lohn_bahl.html)

Und Horn fährt fort: "Ich halte davon nichts, weil die Gewerkschaften in ihrem Bereich nichts unversucht lassen. Aber: Es reicht im Ergebnis gesamtwirtschaftlich nicht". Einen Ausweg sieht er - wohl allein ökonomisch - in der Wirtschaftspolitik.

Ich muss gestehen, ich halte das  - zwischen Ländern im gemeinsamen Europa! - für ein schon bald nicht mehr verzeihbares Missverständnis, denn Frau Lagarde hat die französischen Gewerkschaften mit einem umfassenden Mandat und auch Streikrecht vor Augen - eben die "französischen Verhältnisse". Und von diesem Verständnis aus kann sie so wenig die deutschen Gewerkschaften verstehen, die ein solches, die Arbeitnehmer und ihre Interessen beachtendes Mandat eben nicht haben - mit ihrem "Nipperday`schen Käfig" als Konstrukt für ihr Streikrecht.
Natürlich kann man einem Kastrierten schlecht vorwerfen, dass er impotent ist. Der für Europa gewerkschaftspolitische Skandal ist nur, dass die Gewerkschaften es bisher noch nicht einmal - am besten nach dem sonst doch überall gebrauchten Muster des "best practice" - verstehen über die jeweils vorhandenen - d.h. vor allem arbeitsrechtlichen - Strukturen und deren jeweiligen , anscheinend recht unterschiedlichen Möglichkeiten einen "gemeinsamen" Überblick zu bekommen und das dann zu vergleichen.

Und da kann man durchaus auch an dieser Stelle schon einmal  anmerken , hat das deutsche "System" - vor allem auf der  betrieblichen Ebene - seine besonderen Stärken, die gerade auch in der Krise eine sehr positive Wirkung beim Halten von Arbeitskräften entfalten konnte!

Wo bleibt der umfassende Vergleich?

Erstaunlicherweise fallen - und nicht nur die Gewerkschaften, sondern auch die Sozialwissenschaften - damit ausgerechnet  im jetzt anzustrebenden "gemeinsamen" Europa hinter die Erkenntnisse eines Alexis de Toqueville zurück, der angesichts des großen Ereignisses, das die Nationalisierung in Europa erst enorm zuspitzte und vorantrieb - der "Französischen Revolution" - doch feststellte, ich kann Frankreich nicht verstehen, wenn ich nicht Deutschland und England - als die damals wichtigsten -  auch verstehe.

Wir dagegen scheinen in unseren nationalen "Containern" festzustecken wie kaum zuvor - und mit diesem sehr eingeschränkten Gesichtskreis "allgemeine" Urteile zu fällen  (vgl. auch noch einmal die kommentierten Betrachtungen zu Deutschland und Frankreich  www.labournet.de/internationales/fr/gew_bahl.html).

Mit diesem "Sichtschutz" vor den Augen können jedoch keine Beurteilungen zustande kommen, sondern allenfalls platte "Vorurteile" aus dem beschränkten Blickfeld des jeweiligen nationale Containers heraus.

So gesehen hilft eben auch die bloße ökonomische Betrachtung nicht weiter, sondern man sollte sich eben auch umfassend die Möglichkeiten der Durchsetzung (Durchsetzungsfähigkeit) anschauen. So gesehen hat Horn natürlich recht, dass Frau Lagarde nicht die deutschen Gewerkschaften zum Thema hätte machen "müssen", sondern deren "Unfähigkeit" im Vergleich zu den französischen. Aber genau das war auch ihr wieder nicht möglich, weil sie allein die Möglichkeiten der französischen Gewerkschaften im Kopf hatte - und auch keinen systematischen Vergleich. So kann diese "Diskussion" zwischen den Deutschen und den Franzosen eben nur zu Missverständnissen führen, weil keine Seite jeweils in der Lage ist, ein wirkliches "Gespräch" zu führen, sondern jede(r) nur in seinen nationalen Mustern feststeckt und von dieser Warte aus meint, Urteile über "andere" fällen zu können - ganz ohne diese Toqueville`sche Maxime zu beachten, ich kann Deutschland nur verstehen, wenn ich Frankreich verstehe - und umgekehrt.
Und hier hat die Lagarde eben nicht das deutsche Gewerkschafts"system" verstanden - und Horn hat von dem französischen abstrahiert.

Und so kann man wohl auch sagen, ohne diesen europäischen "Krisen-Umweg" jetzt wären die jetzt angestreben Arbeitsmarkt"reformen" nach dem deutschen Vorbild  eben auch - angesichts der Streikmöglichkeiten - nicht so politisch durchsetzbar gewesen. Die Schuldner-Position macht dann diese Länder - mitsamt ihren Gewerkschaften - zu "Opfern" der Gläubigerposition - ohne dadurch ein Ende der Krise zu finden. (Vgl. dazu gerade auch noch einmal Friederike Spiecker a.a.O.)

Aber umgekehrt kann ich eben nicht hergehen und immer wieder feststellen, dass makroökonomisch gesehen Frankreich mit der Lohnfindung einen ziemlich optimalen Weg beschritten hat - ganz im Gegensatz zu Deutschland - aber die unterschiedlichen Durchsetzungswege unthematisiert lassen - von ökonomischer Seite. (Vgl. "Frankreich besser..": http://idw-online.de/pages/de/news361817 externer Link)

Genau betrachtet war also die "richtige Botschaft" von Frau Lagarde, warum können eure Gewerkschaften nicht, was unsere so unter der Hand hinbringen - eine angemessene Ausschöpfung des Lohnspielraumes. Das bringen die eurigen anscheinend nie und nimmer "von sich aus" hin.

Der deutsche "Wirtschaftsweise" Peter Bofinger formulierte das einmal ungefähr so: "Lauter Frankreichs könnte er sich in der Euro-Zone gut vorstellen - aber lauter Deutschlands schlecht". Dem könnte der französische Wirtschaftsweise (Mitglied des dortigen "Sachverständigenrates") gut zustimmen, wenn er das deutsche Modell als Problem für Europa sieht (http://library.fes.de/pdf-files/wiso/06933.pdf externer Link pdf-Datei). 

Dies müsste eigentlich auch den Deutschen einleuchten, denn das deutsche Exportüberschuss-Modell geht auch noch zu Lasten der Beschäftigten, wie es Heike Joebkes und Camille Logeay dargelegt haben (http://library.fes.de/pdf-files/wiso/07718.pdf externer Link pdf-Datei). 

Nur, all diese Mahnungen wurden durch die deutsche "Großmannsucht" in den Wind geschlagen - und am 9. Dezember 2011 kam "Europa unter die deutsche Fuchtel"  (www.blaetter.de/archiv/jahrgaenge/2012/januar/europa-unter-deutscher-fuchtel externer Link), wie es Stephan Kaufmann so brillant in seiner jüngsten Analyse aufzeigt.
Ergänzend dazu kann man sehr schön noch lesen, wie sich Robert von Heusinger über die Blindheit der deutschen Ökonomen aufregen kann - in ihrem kindlich-naiven Glauben an die Finanzmärkte  (http://blog.zeit.de/herdentrieb/2011/02/26/sind-deutschlands-okonomen-blind_2797 externer Link)(und jetzt aktuell zur "Wirtschaftsweisen": Weder di Mauro noch: "Wirtschaftsweise hält Euro-Aus 2012 für möglich":  www.focus.de/finanzen/news/staatsverschuldung/di-mauro-warnt-regierung-wirtschaftsweise-haelt-euro-aus-2012-fuer-moeglich_aid_697966.html externer Link sowie "Ökonomin des Jahres - Die Wahrheitssprecherin": www.handelsblatt.com/jahreswechsel/jahreswechsel-das-war-2011/beatrice-weder-di-mauro-die-wahrheitssprecherin-/5997842.html?p5997842=all externer Link).

Da scheint aktuell jetzt eine doch der Blindheit der Mehrheit der Ökonomen zu "entfliehen" - nur eine Schwalbe macht noch keinen Frühling.

Aber wie schal dieser bisher durchexerzierte "deutsche Sieg" den Deutschen werden dürfte, meint dann auch ein weiterer Analytiker wie Marco D`Eramo: "Deutschland habe alles Interesse an einer Eskalation der Krise gehabt, damit Frankreich die Einschränkung seiner staatlichen Souveränität habe hinnehmen müssen ("to hand over").

Doch wie einst die deutschen Generäle merkten, dass sie nicht genug auf die Reserven geachtet hatten, als die Blitzstrategie einmal gescheitert war, so birgt auch die deutsche Krisentaktik enorme Risiken. Wenn etwa Chinas Wachstum sich verlangsamt, stürzt das ganze Kartenhaus der drakonischen Austeritätspolitik in sich zusammen.

Wenn die europäischen Hauptabnehmer deutscher Waren erst einmal voll in der Rezession angekommen sind, deren Import immerhin ein Fünftel des deutschen BIP ausmacht, dann wird klar werden, wie Deutschland beständig an dem Ast sägt, auf dem es sitzt. Und alle Deutschen können sicher sein: Auch ihnen wird diese Rechnung präsentiert werden." (TAZ: www.taz.de/Debatte-Deutschland-und-die-Eurokrise/!84642/ externer Link) Und darüber hätte  man dann ein "europäisches Gespräch" zwischen Deutschland und Frankreich "anzetteln" - oder heißt das nicht heutzutage "inszenieren" -  können.

So bleibt aber jeder in seinen nationalen Containern verschanzt - "Gute Nacht" unglückseliges Europa angesichts von soviel gegenseitiger Taubheit  - oder sollte es eher Blindheit sein?
Und die deutschen Gewerkschaften  bleiben "in alle Ewigkeit" bei der Ausrede hängen, dass sie ja ohne Politik nichts tun können, weil sie selber als Gewerkschaften in typisch deutscher Manier so "impotent" bleiben müssen, damit die Politik "auf immer" die Definitionsmacht über ihre Ziele behält.

"Alles könnte anders sein"

Und als Ausweg aus dieser "selbstverschuldeten" Sackgasse deshalb noch einmal mein Plädoyer für die Zukunft der - vor allem deutschen -  Gewerkschaften - bevor Europa zerschellt ist: "Für eine Renaissance der Gewerkschaften - aus eigener Kraft" (ein wenig hatte ich das damals schon anhand von vorhandenen gewerkschaftlichen Diskussionen "anthematisiert" Anfang des Jahres 2010: www.labournet.de/diskussion/gewerkschaft/real/dgbstruktur_bahl.html).

Kommentierte Presseschau von Volker Bahl vom 31.12.2011


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