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Updated: 18.12.2012 15:51
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Der Kampf um die Arbeitszeit

Von Thomas Böhm

Das Land mit der ersten 35-Stundenwoche ist mittlerweile, zumindest innerhalb Europas, das Land mit den längsten effektiven Arbeitszeiten. Und während die Lebensarbeitszeit gerade bis zum 67. Jahr verlängert wurde, werden schon die ersten Rufe nach einer 50-Stundenwoche laut. Der letzte Versuch, eine Arbeitszeitverkürzung, nämlich die Angleichung der Ost-Arbeitszeiten an die 35-Stundenwoche im Westen der BRD, zu erstreiken, endete für die IG Metall und ihre Mitglieder mit einem Fiasko und ließ die Rede von der »gespaltenen« Organisation zirkulieren. Aktuell gibt es keine Gewerkschaft in der BRD, die sich die Arbeitszeitverkürzung auch nur als Thema vornehmen würde. Und dabei ist, so der Slogan einer relativ erfolgreichen Kampagne der IGM bei IBM »meine Zeit mein Leben«. Umso wichtiger, sich im Rückblick auf die Auseinandersetzung 2006 im Öffentlichen Dienst zu vergegenwärtigen, wie dort in einer vergleichsweise noch defensiveren Situation, mit weit weniger organisierten Mitgliedern der Kampf gegen die Verlängerung von 38,5 auf 40-42 Stunden geführt wurde. Wir dokumentieren aus der sehr empfehlenswerten Broschüre des ver.di-Bezirks Stuttgart (s. auch express, 1/2007) ein Fazit von Thomas Böhm, Vorsitzender des ver.di-Bezirks Stuttgart. Der Beitrag lässt sich auch daraufhin lesen, wie unpopuläre Arbeitszeitfragen gegen die Zeitläufe gewendet werden können.

1 Grundsatzüberlegungen

Arbeitszeit hat verschiedene Dimensionen:

  • Arbeitszeit definiert die Freizeit und damit die Zeit für Familie, Hobbies, Erholung, aber auch für politische und gewerkschaftliche Tätigkeiten
  • Arbeitszeit definiert in hohem Ausmaß die Arbeitsbelastung
  • Arbeitszeit definiert den Stundenlohn und damit den Preis der Arbeitskraft
  • Arbeitszeit definiert die Qualität der Dienstleistung
  • Arbeitszeit definiert bei gegebener Produktivität die Zahl der notwendigen Arbeitsplätze und damit indirekt die Arbeitslosigkeit
  • Arbeitszeit definiert in hohem Maß die variablen Kosten des Arbeitgebers und damit den Profit.

Damit ist die umfassende Bedeutung der Arbeitszeit für viele Fragen der Interessenvertretung der Arbeitnehmer umrissen, und es müsste eigentlich klar sein, dass diese Frage auch mobilisierungsfähig ist. Dem gegenüber stand im Vorfeld der Streiks eine heftige Debatte innerhalb von ver.di, ob die Arbeitszeitfrage überhaupt mobilisierungsfähig sei. Hinzu kommt: Arbeitszeitverkürzung ist keine Forderung von linken Spinnern, sondern findet ständig und real statt durch technischen Fortschritt:

  • entweder auf die brutale Art und Weise der Massenarbeitslosigkeit, von Minijobs usw.,
  • oder als gesellschaftlich bewusster Willensakt und als Aktion von Menschen.

Ich bin entschieden für Letzteres. Auch wenn im Moment die gesellschaftliche Entwicklung in eine andere Richtung läuft, muss dieser Zusammenhang klargemacht werden, weil es letztlich um die Verteilung der Arbeit auf alle Hände geht, und das bedeutet deutliche Arbeitszeitverkürzung und nicht Verlängerung.

2 Gesellschaftliche Ausgangssituation

Die gesellschaftliche Lage in Deutschland, in der die Auseinandersetzung um die von den Arbeitgebern geforderte Verlängerung der Arbeitszeit stattfindet, ist geprägt durch verschärfte ökonomische Schwierigkeiten durch viele Zeichen einer Überproduktionskrise und durch globale Konkurrenz insbesondere auch auf dem Arbeitsmarkt.

Hervorgerufen hierdurch wurde eine Massenarbeitslosigkeit, die das Verhältnis von Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt deutlich in Richtung Angebot und damit in Richtung immer weniger Chancen und immer mehr Druck für Arbeitsuchende verschoben hat.

Weiter ist die Lage seit Jahrzehnten geprägt durch den Vormarsch des Neoliberalismus, der gesellschaftlich gesehen ohne wesentliche Gegenwehr die Deutungsmacht für alle wesentlichen Probleme dieser Gesellschaft erlangt und unangefochten die Lufthoheit über den Fernsehern, Radios und Zeitungen hat.

Dies blieb nicht ohne Auswirkungen auf die Gewerkschaften. Sowohl die objektive Verschärfung der ökonomischen Lage als auch der Vormarsch des Neoliberalismus führte bei den Gewerkschaften nicht zu einer rasanten Steigerung der Gegenwehr, sondern zu allen möglichen Versuchen, die guten alten Zeiten wieder herbeizuwünschen, eine Appeasement-Politik zu verfolgen, um durch ein begrenztes Nachgeben gegenüber dem Kapitalismus »das Raubtier« wieder zu besänftigen, oder sogar zur Übernahme von neoliberalen Glaubensgrundsätzen, wie z.B. dass die Lohnnebenkosten dringend gesenkt werden müssten, um den Standort Deutschland zu sichern (so Originalton noch vor ein paar Jahren der DGB und viele Einzelgewerkschaften).

Zwischenzeitlich ist hier eine gewisse Trendwende festzustellen. Sie findet zwar immer noch zögerlich und zum Teil nicht auf gefestigten ideologischen Grundpositionen statt. Sie ist auch in der praktischen Ausführung zum Teil halbherzig, aber immerhin findet sie statt.

Beispiel hierfür sind die Versuche z.B. der Abteilung Wirtschaftspolitik von ver.di, grundsätzliche Fragen und Fakten der Gesellschaftspolitik auch wissenschaftlich und ökonomisch zu analysieren und Gegenpositionen zu entwickeln, aber auch die deutlich verstärkte Gegenwehr gegen den Sozialabbau und der letztjährige Versuch, gesellschaftliche Bündnisse mit anderen Gruppen einzugehen.

Die jetzt stattfindenden Streiks könnten tatsächlich eine Trendwende sein, um auch im Kernbereich der Arbeitsbeziehungen wieder verstärkt Interessen von Beschäftigten zu vertreten, anstatt im vermeintlichen Betriebsinteresse zurückzustecken.

Wir haben in Stuttgart systematisch hierauf hingearbeitet, wir haben frühzeitig sowohl im Bereich des Sozialabbaus als auch im engeren Bereich der Tarifkonflikte versucht, in Form von Kampagnen Terrain zurück zu gewinnen. Wir haben konkret die Auseinandersetzung zur Arbeitszeitverlängerung in Kampagnenseminaren und mit Hilfe einer Kampagne vorbereitet (»38,5 bleibt – sonst streikts«).

Wir haben dabei folgende Forderungen aufgestellt:

  • 38,5 bleibt – damit nicht noch mehr Menschen arbeitslos werden.
  • 38,5 bleibt – damit Arbeitsüberlastung nicht Gesundheit und Familie kaputt macht.
  • 38,5 bleibt – damit die Qualität der öffentlichen Dienstleistung nicht leidet.
  • 38,5 bleibt – damit die Jugend eine Zukunft hat.

Wenn man die anfangs dargelegten grundsätzlichen Überlegungen einbezieht und wenn man die Argumente der Kolleginnen und Kollegen die sie während der Streiks vorgebracht haben, betrachtet, kann man – glaube ich – sagen, wir haben diese Kampagne richtig angelegt und mit unseren Hauptforderungen genau den Kern der Sache herausgearbeitet. Dies war sicherlich einer der Erfolgsgaranten in dieser Auseinandersetzung.

3 Bedeutung der Auseinandersetzung

»Nur 18 Minuten mehr« – dieser polemische Versuch den Streik bei der Bevölkerung in ein schlechtes Licht zu rücken und die Mär von den Faulenzern in öffentlichen Dienst aufzuwärmen – trifft weder die Intentionen der Arbeitgeber noch die Beweggründe der Streikenden.

Wenn es wirklich nur um 18 Minuten gegangen wäre, dann ist überhaupt nicht erklärbar, warum – trotz massiver öffentlicher und auch persönlicher Angriffe – die Kolleginnen und Kollegen mit einer solchen Hartnäckigkeit gekämpft haben.

Das gleiche gilt für die Gegenseite, denn das 18 Minuten-Argument lässt sich ja mühelos umdrehen. Warum eine solche Sturheit der Arbeitgeber, wenn es »nur um 18 Minuten« ging? Tatsächlich verhält es sich anders: Den Arbeitgebern und der Politik ging es um eine exemplarische Auseinandersetzung. Es ging darum, dass die Arbeitgeber über eine Arbeitszeitverlängerung im Öffentlichen Dienst auch die Arbeitszeiten in der Privatwirtschaft unter Druck bringen wollten. Mit vollem Kalkül hat Edmond Stoiber bereits vor zwei Jahren, als er den Beamten in Bayern die 42-Stunden-Woche verordnete, verkündet, dass sich Deutschland »generell in Richtung einer 40 oder 42 Stunden-Woche bewegen« müsse. Woraufhin der Chefvolkswirt der Commerzbank, Ulrich Ramm, bereits die 50-Stunden-Woche ins Gespräch brachte. Die ökonomischen Ziele des Neoliberalismus lassen sich mühelos in zwei Kernpunkten zusammenfassen: Die Lohnkosten müssen sinken, und die Lohnnebenkosten müssen sinken. Dazu kommt auf politischer Ebene der Abbau aller Schutzregelungen: Vorfahrt für den freien marktwirtschaftlichen Konkurrenzkampf und das Recht des Stärkeren.

Senkung der Lohnkosten soll durch freien Wettbewerb um den Verkauf der Ware Arbeitskraft erreicht werden. Angebot und Nachfrage sollen – ungebremst von Regeln wie Kündigungsschutz, Absicherung bei Arbeitslosigkeit usw. – den Preis eines Arbeitslebens bestimmen. Durch die AZ-Verlängerung kommen die Neoliberalen diesem Ziel direkt und indirekt näher.

Direkt durch Stellenabbau und damit Senkung der Lohnkosten. Indirekt dadurch, dass durch die Erhöhung der Massenarbeitslosigkeit der Preis und die Zumutbarkeitsgrenzen weit nach unten gedrückt werden. Durch eine Arbeitszeitverlängerung um 1,5 Stunden fiele jede 25ste Stelle weg. Im Klinikum Stuttgart wären das z.B. 485 Stellen, bei der Stadt Stuttgart 400 Stellen, bundesweit über 100000 Stellen, und man kann sich sicher sein, dass diese Stellen auch tatsächlich abgebaut worden wären. Man muss sich nur folgendes Beispiel vor Augen führen: Bei der Stadt Stuttgart wurde in den fünfziger Jahren ein Betriebsausflug während der Arbeitszeit eingeführt. Damals wurden natürlich keine Stellen geschaffen, um die ausfallende Arbeitszeit zu kompensieren, jetzt wurde dieser Betriebsausflug im Rahmen des Wegfalls möglichst aller sozialen Leistungen des Arbeitgebers ebenfalls gestrichen. Aber nicht nur das, die Zahl der Teilnehmer und die Zahl der ausgefallenen Arbeitsstunden wurden umgerechnet und – mit dem Argument, dass sie ja jetzt wieder zur Verfügung stehen würden – insgesamt über 20 Stellen abgebaut.

Die Pläne der Arbeitgeber waren also klar, es war eine weitere Sparrunde im öffentlichen Dienst angesagt. Das Problem dabei ist, dass Arbeitslosigkeit natürlich gesellschaftlich gesehen riesige Summen verschlingt. Aber auch dieses Problems versucht man sich ja seit Hartz zunehmend zu entledigen.

Womit wir bei den so genannten Lohnnebenkosten wären. Ihrer versucht sich der Neoliberalismus durch die Forderung nach dem schlanken Staat, durch Abbau von Sozialleistungen und Zerschlagung der Einrichtungen der Daseinsvorsorge zu entziehen. Auch hier ist der systematische Stellenabbau das probate Mittel und auch hier wieder direkt und indirekt.

Direkt, weil die Kosten der Daseinsvorsorge sinken und damit die Lohnnebenkosten, und indirekt, weil Leistungen immer schlechter erbracht werden können und damit der Ruf der Daseinsvorsorge systematisch zerstört wird und Privatisierungen vorbereitet werden können, womit der (Teufels-) Kreis geschlossen wäre. Der neoliberale Eiferer Prof. Sinn, Chef des Ifo-Instituts, bringt es auf den Punkt. In der Stuttgarter Zeitung vom letzten Monat wird Sinn mit der Überschrift zitiert: »Wir können uns diesen Sozialstaat nicht mehr leisten«. In dem Artikel heißt es u.a.: »Der Flächentarif kann in dieser Form nicht aufrecht erhalten bleiben«. Weiter führt er aus, dass »die Macht der Gewerkschaften gebrochen werden muss«, und weiter: »Der Königsweg für Deutschland sei länger arbeiten für gleiches Geld«. Eigentlich meint er »für weniger Geld, wie sein vehementer Einsatz für Niedriglohnbereiche und Löhne um die fünf Euro beweist. Abschließend heißt es: »Für die Arbeitslosigkeit und die höheren Löhne macht Sinn auch den Sozialstaat verantwortlich. Die finanziellen Hilfen für Arbeitslose seien ›Leistungen, die der Sozialstaat fürs Nichtstun anbietet, und zugleich setzt er damit Mindestlöhne‹. Seine Folgerung: ›Wir müssen diesen Sozialstaat aufgeben.‹ Was er darunter versteht: Jeder muss arbeiten, zu welchem Lohn auch immer, wenn es nicht zum Leben reicht, schießt der Staat etwas dazu.«

Hier kommt das dritte Ziel der Neoliberalen zum Ausdruck, die Zerschlagung möglichst aller Schutzrechte für Arbeitnehmer, die freie Konkurrenz um den Arbeitsplatz bei Löhnen möglichst im freien Fall. Idealbild ist, dass es überhaupt keine Tarifverträge gibt.

Dieses Ziel hatte ganz konkret die Hardlinerfraktion im kommunalen Arbeitgeberverband, und dies stellte eine besondere Gefahr während dieses Arbeitskampfes dar, die auch Auswirkungen auf die Streiktaktik haben musste: In dem Moment, wo klar war, dass ein Teil, wenn nicht sogar die Mehrheit der Arbeitgeber gezielt darauf hinarbeitet, überhaupt keinen Tarifabschluss mehr zu haben und damit die Löhne und Arbeitszeiten und anderen Arbeitsbedingungen frei mit jedem einzelnen Mitarbeiter vereinbaren zu können, musste das taktische Ziel sein, einen Tarifabschluss durchzusetzen.

Nur nebenbei bemerkt: Ich gehörte anfangs selbst zu denen, die vertraten, besser gar kein Tarifabschluss als ein schlechter Kompromiss. Je länger der Streik dauerte und je mehr klar wurde, dass eine nicht zu unterschätzende Fraktion auf Arbeitgeberseite es genau darauf anlegte, musste nach meiner Auffassung hier eine Revision dieser ursprünglichen Position erfolgen, sonst wäre man voll ins Messer dieser Arbeitgeberbestrebungen gelaufen. Ich denke, mit dem bisher Ausgeführten ist deutlich geworden, in welchen Kontext dieser Streik aus Sicht der Arbeitgeber einzuordnen ist.

Anders die Beschäftigten: Ihnen war einerseits klar, dass 18 Minuten einer 4-prozentigen Lohnkürzung entsprechen, dass sie familienfeindlich sind und die ständig gestiegene Arbeitsbelastung noch mehr verschärfen. Dies alleine sind ausreichende Gründe für einen Streik.

Die Hauptargumente der Streikenden waren aber andere. Ihre Hauptstreikziele waren:

  • die Qualität ihrer Arbeit und der Erhalt der Daseinsvorsorge in hoher Qualität.
  • ein echter Schritt gegen die Massenarbeitslosigkeit und der Erhalt von Arbeitsplätzen, insbesondere für die Jugend.
  • Und es ging ihnen auch um ihre Würde. Viele sagten: »Jetzt muss endlich mal Schluss sein mit all den Angriffen auf uns und unsere Rechte. Wir sind kein Objekt, kein Kostenfaktor, sondern Menschen mit Rechten, die respektiert werden wollen.«

In diesen Zielen wissen sich die Beschäftigten auch in hoher Übereinstimmung mit der Masse der Bevölkerung. Das ist im Kern ein streng antineoliberales Programm, und ich bin froh, dass die Beharrlichkeit von vielen dazu geführt hat, hier einen praktischen Kontrapunkt gegen den Neoliberalismus zu setzen – auch in Bezug auf die Streikergebnisse.

Erst letzte Woche veröffentlichte die Stuttgarter Zeitung die Ergebnisse der weltgrößten gesellschaftspolitischen Online-Umfrage »Perspektive Deutschland«.

Die Stuttgarter Zeitung schreibt: »Der Wunsch der Deutschen nach sozialem Ausgleich ist viel stärker geworden. In der Umfrage plädierten 76 Prozent der Bundesbürger für geringe Unterschiede zwischen Arm und Reich. Mit das auffälligste Ergebnis ist die wachsende Forderung, dass der Staat wieder mehr Verantwortung bei der sozialen Sicherung übernimmt. 38 Prozent der Befragten sprachen sich dafür aus.« Das ist eine klare Absage an die Ideologie des Neoliberalismus, und das ist gut so!

Das erklärt auch, warum es trotz aller Hetze nicht gelungen ist, die Bevölkerung gegen die Streikenden aufzubringen.

4 Ablauf und Ergebnisse

Der Organisationsgrad in vielen Bereichen des öffentlichen Dienstes, insbesondere in den Kernbereichen (Verwaltungen), aber auch in den Krankenhäusern und Jugendämtern, ist nicht besonders hoch. Große Teile der ehemaligen Bataillone sind zwischenzeitlich aus dem öffentlichen Dienst herausgebrochen, unterliegen nicht mehr dem Tarifvertrag und sind dementsprechend auch nicht Streikteilnehmer. Organisationsgrade von 5 bis 20 Prozent sind in vielen Landkreisen, aber auch in vielen Betrieben der Großstädte die Regel. Unter diesen Bedingungen war es eine mutige – aber trotzdem richtige – Entscheidung, in den unbefristeten Streik zu gehen. Belohnt wurden wir bei dieser Entscheidung mit großen Mitgliederzuwächsen. So hat das Jugendamt hier in Stuttgart seine Mitgliederzahlen faktisch verdoppelt, im Klinikum kamen mehr als 300 Kolleginnen und Kollegen hinzu.

Angesichts der Tatsache, dass seit 14 Jahren nicht mehr gestreikt wurde, bestand sowohl bei den Hauptamtlichen als auch bei den Ehrenamtlichen und bei den Streikenden große Unerfahrenheit und auch Unsicherheit. Diese machte jedoch mit zunehmender Entwicklung des Streikes einer immer größeren Entschlossenheit und einer großen Kreativität Platz.

Es ist extrem erstaunlich, in welch kurzer Zeit wie viele Menschen lernen können, selbstbewusst ihre eigenen Interessen zu vertreten, wenn sie in Bewegung kommen. Eine der wesentlichen Erkenntnisse der neun Wochen Streik war, dass sich in kurzer Zeit ein stabiler harter Kern von Streikenden herausgebildet hat, der trotz massiver, z.T. auch persönlicher Angriffe nicht einzuschüchtern war und verbissen weiterkämpfte.

Ein weiterer wichtiger Gesichtspunkt war, dass viele KollegInnen mit vollem Recht und großer Entschlossenheit zu Methoden des zivilen Ungehorsams griffen und auf die Angriffe der Arbeitgeber und auf die Drohung mit Privatfirmen, z.B. mit den Blockaden des Restmüllheizwerkes in Stuttgart, reagierten. Insofern kann man mit Fug und Recht sagen, dass es einen eindeutigen moralischen Sieger in dieser Auseinandersetzung gibt. Es gab eine große Bewegung des Aufbruchs, es wurden viele Erfahrungen gesammelt, und es wurden viele neue Menschen einbezogen, die auch nach dem Streik noch bereit sind, aktiv zu bleiben. Dies zeigt sich z.B. an der großen Zahl von Vertrauensleuten, die sich gemeldet haben und in der Zwischenzeit gewählt wurden. Die Erfahrungen dieses Streiks kann den Kolleginnen und Kollegen niemand mehr wegnehmen, und sie werden mit Sicherheit gestärkt in weitere Auseinandersetzungen gehen.

Es ist aber vollkommen falsch, eine Trennung zu machen zwischen moralischem Erfolg und gleichzeitig von einer materiellen Niederlage zu reden. Ganz abgesehen davon, dass man mit einer solchen Theorie die Streikenden für dumm erklärt, denn wenn das Ergebnis materiell so schlecht ist, wie sollen sie dann gestärkt aus dieser Auseinandersetzung hervorgehen?

Auch materiell ist das Ergebnis ein Erfolg. In einer defensiven gesellschaftlichen Gesamtsituation, in der die Arbeitgeber und die neoliberalen Kreise eindeutig die Oberhand haben und insgesamt den Marsch nach rückwärts praktizieren, ist das Maß der Verhinderung der geplanten Verschlechterungen der Erfolg und nicht die Frage, dass man nicht etwas Besseres als vorher bekommen hat. Die schlichte Gleichung ›über Null ist ein Erfolg, unter Null ist eine Niederlage‹, geht vollkommen an den gesamtgesellschaftlichen Verhältnissen vorbei, aber auch daran, dass viele Lohnrunden, bei denen mehr als Null heraus kam, gemessen an der Entwicklung der Verteilung des Reichtums doch eine Niederlage waren.

Insgesamt sind gewerkschaftliche Kämpfe und Kämpfe für die Interessen der Arbeitnehmer im Kapitalismus eine defensive Angelegenheit. Insgesamt geht es unaufhaltsam bergab, wenn es den Menschen nicht gelingt, dieses Gesellschaftssystem zu überwinden. Der Erfolg einer Auseinandersetzung misst sich am Grad der Behauptung bzw. Durchsetzung der eigenen Interessen und am Anwachsen der Kampfkraft.

Wir haben die Tatsache, dass am Ende eine 39-Stundenwoche herauskommt, als 2:1-Sieg gewertet. Dies trifft die Sache vielleicht am ehesten.

Hinzu kommt, dass der von den Arbeitgebern angestrebte Stellenabbau deutlich schwerer wird – auch für die halbe Stunde AZ-Verlängerung, die nicht verhindert werden konnte – und zwar durch die öffentliche Diskussion um diese Frage und durch die Versprechungen der Arbeitgeber während des Streiks, doch überhaupt nicht an Stellenabbau zu denken, sondern nur an die Förderung der Qualität.

Sollten die Arbeitgeber jetzt dennoch versuchen, Stellen unter Berufung auf die Arbeitszeitverlängerung abzubauen, wäre dies für uns der erste Anlass für weitere Auseinandersetzungen, und ich bin mir sicher, dass viele KollegInnen daran teilnehmen würden. Insgesamt macht es einen erheblichen Unterschied, ob man kämpft und trotz dieses Kampfes nur einen Teilerfolg erreicht, oder ob man nicht kämpft und am Verhandlungstisch Kompromisse schließt.

Wir haben gekämpft – mehr ging nicht, und dann ist es auch legitim, den Teilerfolg abzusichern.

Zu berücksichtigen ist bei der Frage »Erfolg oder Niederlage« auch, dass Tarifverträge schützen und deswegen schon für sich genommen die Vermeidung eines tariflosen Zustandes einen Wert darstellt, der nicht gering bewertet werden darf.

Wir gehen gestärkt aus dieser Auseinandersetzung, und ich ziehe hieraus für mich folgende Schlussfolgerungen:

  • 14 Jahre ohne Streik dürfen nicht mehr sein!
  • Wir müssen den erreichten Schwung jetzt nutzen zum Kampf gegen den anstehenden Sozialabbau und zur Vorbereitung der nächsten Tarifrunde!

Broschüre: »unser.streik«, ver.di Bezirk Stuttgart, Willi-Bleicher-Str. 20, 70174 Stuttgart, November 2006; zu bestellen über ver.di Stuttgart

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 3-4/07


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