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Updated: 18.12.2012 15:51
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Dienstbare Justiz im rechten Interesse

Sag keiner, es gäbe außer dicken Diäten keine Privilegien im Bundestag. Die SPD-Bundestagsfraktion durfte sich jahrelang einen Abgeordneten Jakob Maria Mierscheid leisten, der das Abgeordnetenpapier mit Bundesadler benutzte, Erklärungen abgab und über zwanzig Jahre lang die Wahlprognosen der SPD vor dem Hintergrund der Rohstahlproduktion ermittelte. Doch den Mierscheid gab es gar nicht. Wohl um die Frage abzuwehren, ob der Bundeskanzler nicht doch vier statt nur drei Mandate über den Durst für seine Kanzlermehrheit beanspruchen kann, so dass noch weniger Grund für die Auflösung des Bundestages besteht, hat die Fraktion nun Mierscheid, den virtuellen katholischen Schneidermeister aus dem Hunsrück, sterben lassen.

Der Bundesadler prangte straflos auf einer Fälschung! Normalen Bürgern sind solche Machenschaften nicht gestattet, sie werden belangt dafür, selbst wenn sie die Fälschung gar nicht vorgenommen haben. Wenn sie ahnungslos sind, aber dennoch eine Fälschung auftaucht, mit den Insignien der „Bundesagentur für Arbeit“ etwa oder mit der Bezeichnung "Leiter der Zentralstelle im Lande NRW für die Bearbeitung von Nationalsozialistischen Massenverbrechen“, dann können sie schwersten Ärger mit der Justiz bekommen.

Im Dezember 2003 erschienen in meiner Wohnung und im Büro der Landesvereinigung Nordrhein-Westfalen der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/Bund der Antifaschisten insgesamt zehn Beamte des Staatsschutzes, um Papiere, Dateien, eine ganze Festplattenkopie zu beschlagnahmen. Es waren gefälschte Briefe der „Zentralstelle“ aufgetaucht, in denen der „Staatsanwalt“ ehemaligen Angehörigen mörderischer Wehrmachtseinheiten der Gebirgstruppe mitteilte, dass gegen sie wegen Kriegsverbrechen neuerlich ermittelt werde. Ich hatte als Journalist und Sprecher der VVN-BdA über diese Verbrechen recherchiert und gemeinsam mit anderen, mit jungen Historikern, Anzeige gegen die Verdächtigen erstattet. Ich hätte auch nichts gegen die besagten Brief gehabt, wenn sie echt gewesen wären. Nun da sie sich als Fälschung erwiesen, behauptete die Staatsanwaltschaft Dortmund, ich wäre der Urheber der Fälschung und damit derjenige, der „Amtsanmaßung“ begangen hatte. Und so ermittelte die Justiz bis vor kurzem, und bis heute hat sie meine und die Unterlagen der VVN-BdA nicht herausgegebene. Ein Fall von Missbrauch der Justiz zu gesetzwidrigem Tun und von Bruch des Zeugnisverweigerungsrechts. Schrieb die Frankfurter Rundschau über mich: „Der Staatsanwaltschaft wirft er vor, statt dass sie sich dieser Verbrechen intensiv widme, hier etwas aufzubauschen, nur um dahinter zu kommen, über welches Material die VVN noch verfügt". Die Wehrmachtsverbrecher reiben sich die Hände, die antifaschistische Organisation der Opfer wird bestraft.

In Bochum und München kam es jetzt zu ähnlichen Fällen der Beschlagnahme von Computern und Computerinhalten wie gegen uns. Betroffen sind jetzt die Redaktion des in Kreisen der Antifaschisten, der linken Montagsdemonstranten und Gewerkschafter und anderer Sozialbewegungen hochgeachteten Internetportals von „Labournet“ in Bochum – ihr werfen die Polizei und Justiz Fälschungen von Agentur-für-Arbeit-Briefe vor - und der Münchner Korrespondent Nick Brauns von Junge Welt und Neues Deutschland. Unter Vorwänden wurden umfangreiche Dateien entwendet und kopiert, die Kopien wurden nicht zurückgegeben.

Die Rückgabe der Archive ist jedoch nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Az. 2 BvR 1027/02 (Titel der dazu gehörigen Pressemitteilung: „Bundesverfassungsgericht verbietet willkürliche Datenbeschlagnahme“) dringend geboten.

Das Vorgehen gegen die antifaschistischen Rechercheure und linken Journalisten, denen die Arbeitsmöglichkeiten und das Zeugnisverweigerungsrecht genommen wurde, würde an die „Spiegelaffäre“ erinnern und die Medien alarmieren, wenn es sich um gutbürgerliche Redaktionen handelte. Doch mit Linken und Antifaschisten wird skandalös verfassungswidrig verfahren, ohne dass sich die überregionalen Medien einmischen. Im Falle „Labournet“ ist von „Urkundenfälschung“ die Rede, im Fall der VVN-BdA von "Amtsanmaßung". Fälschungen von Unbekannt werden zum Vorwand für diese Justizwillkür genommen. In München wurden keine Fälschungen bemüht, um gegen den linken Journalisten Nick Brauns vorzugehen. Dieser Vorgang ist zusätzlich skandalträchtig, weil die Aktion der Polizei gegen ihn und seine Arbeitsmöglichkeiten ganz offen aufgrund einer ungeprüften "Anzeige" durch erklärte Neofaschisten erfolgte. Mittels Akteneinsicht können diese nun Einblick in das Archiv des Antifaschisten erlangen. Die kopierten Unterlagen können nun den Anwälten der Neonazis zur Verfügung gestellt werden. Die Einreihung der in Dortmund, Bochum und München beschlagnahmten Unterlagen in die Archive und Dossiers der Geheimdienste ist aufgrund des Paragraphen 18 des Bundesverfassungsschutzgesetzes jederzeit möglich.

Und schon werden weitere Fälle von Justizwillkür bekannt. So wird ein VVN-Mitglied in Bochum vor Gericht gestellt, weil es wie alljährlich eine Kranzniederlegung zum 9. November 2004 gemeinsam mit rund zehn Personen, auch jüdischen, durchgeführt und nicht als Versammlung unter freiem Himmel angemeldet habe. Ferner ist ein neuer Fall aus Recklinghausen zu melden, wo die Sitzblockade vom 24. (!) Dezember 2004 gegen die Worch-Bande zur Behinderung der Nazis geführt habe, nun folgt ein Verfahren gegen die jugendlichen Blockierer wegen „Störung“ der Nazis, die ihrerseits die Weihnachtsruhe störten, was offenbar unerheblich ist. Die Tolerierung faschistischer Umtriebe schreitet fort - bis hin zur Duldung des antisemitischen Neonazi-Marsches gegen den Synagogenbau in Bochum und zu antisemitischen Aktionen ausgerechnet am Jahrestag der Reichspogromnacht im Rheinland unter der Nazilosung „Die schönsten Nächte sind die Nächte aus Kristall“.

Staatsschutz, Verfassungsschutz und Justiz laufen in konzertierten Aktionen gegen Links zur Hochform auf - im Interesse der Neonazis.

Ulrich Sander

Erschienen in in Antifa - Magazin für antifaschistische Politik und Kultur der VVN-BdA, Ausgabe Juli / August


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