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Updated: 18.12.2012 15:51
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Politik im kapitalen Überfluss

Weltwirtschaft und US-Politik im Spiegel der »New Imperialism«-Debatte, Teil II / Von Slave Cubela

Im ersten Teil seines Beitrags erläuterte Slave Cubela, was Kapital über Akkumulation ist und referierte die Argumentation von David Harvey und Giovanni Arrighi, der dessen Thesen zuspitzt und zugleich historisch genauer situiert. Während Arrighi einen massiven Erosionsprozess der US-Hegemonie annimmt, werden im zweiten Teil nun Positionen vorgestellt, die diese These in Frage stellen.

Dass solche und ähnliche Verabschiedungen der USA als einziger ökonomischer und militärischer Supermacht [1] nicht unwidersprochen bleiben, dafür sorgt die letzte Gruppe von Autoren. Neben Peter Gowan [2] sind dies vor allem Leo Panitch und Sam Gindin, die allein schon aus zwei Gründen besondere Aufmerksamkeit verdienen. Zum einen ist Leo Panitch der Anstoß- und in gewisser Weise auch der Namensgeber der gesamten Debatte, insofern er bereits im Jahr 2000 anmahnte, dass es überfällig sei, das, was Nicos Poulant-zas bereits in den siebziger Jahren als »Neuen Imperialismus« antizipiert habe, einer genaueren Betrachtung zu unterziehen - nämlich die gegenüber der unmittelbaren Nachkriegszeit sich langsam abzeichnende Neuausrichtung der globalen US-Hegemonie. [3] Zum zweiten haben Panitch und Gindin zusammen mit Colin Leys als Herausgeber des jährlich erscheinenden Socialist Register (SR) dieser Mahnung in jüngster Zeit umfassend Rechnung getragen und mit den SR-Ausgaben 2004 und 2005 zwei sehr umfangreiche Aufsatzbände zum Thema »New Imperialism« zusammengestellt [4], in denen namhafte Autoren aus unterschiedlichen Perspektiven neben der ökonomischen Dimension dieses Themas auch eine ganze Reihe von politischen, ökologischen, kulturellen und regionalen Sonderaspekten eingehender betrachten, so dass jeder Interessierte hier ausreichend Material sowohl zur Übersicht als auch zur Vertiefung findet.

Was die Kritik von Panitch und Gindin an den Verkündern eines baldigen Endes der globalen US-Hegemonie betrifft, so ist ihr Ausgangspunkt vor allem ein anderes Verständnis des bürgerlichen Staates, denn [5] »Die zeitgenössische marxistische Analyse des Imperialismus und seines Cousins Globalisierung ermangelt durchweg einer adäquaten Theorie des Staates«, wobei insbesondere »der Umfang, in welchem Staaten, statt passives Opfer der Globalisierung zu sein, als deren Urheber und Erfüllungshelfer anzusehen sind, unterschätzt« und damit auch »die besonders wichtige Rolle der USA für die Entstehung und Durchsetzung der Globalisierung marginalisiert« werde (SGC, S.1). Demgegenüber müsse eine den gegenwärtigen Zeiten angemessene Theorie des bürgerlichen Staates die »relative Autonomie des kapitalistischen Staates« (SGC, S.2) in den Mittelpunkt stellen. Auf diese Weise lasse sich die Gebundenheit kapitalistischer Staaten an bzw. Relativität ihres Einflusses gegenüber den Prozessen der Kapitalakkumulation festhalten, ohne die Bedeutung der Kapitalüberakkumulation zu leugnen (SGC, S.11). Gerade durch den Verweis auf die Autonomie des Staates sei es möglich, Widersprüche zwischen Politik und Ökonomie, die Abhängigkeit des Staates von den jeweiligen sozialen Kräfteverhältnissen sowie den Umstand zu berücksichtigen, dass inzwischen »kapitalistische Staaten eine ganze Reihe von Maßnahmen entwickelt haben, um sowohl die Kapitalakkumulation zu unterstützen und zu orchestrieren, aber auch um kommende Probleme zu antizipieren und zu begrenzen« (SGC, S.2).

Vor diesem Hintergrund kommen Panitch und Gindin zu einer Einschätzung der US-Politik, die den Überlegungen Harveys und Arrighis zunächst entgegengesetzt ist. Denn den beiden sei zwar, wie Panitch und Gindin schreiben, zuzustimmen, wenn sie für die siebziger Jahre eine Kapitalüberakkumulationskrise für den globalen Kapitalismus konstatierten (SR I, S.20; SR II, S.56/57), doch habe insbesondere die neoliberale Wende durch die US-Politik und das US-Finanzkapital diese Krise bewältigt: »Die USA waren natürlich nicht das einzige Land, das den Neoliberalismus bei sich etablierte, aber von dem Moment an, in welchem die USA dies taten, hatte der Neoliberalismus einen neuen Status: Der Kapitalismus insgesamt begann sich an einer neuen Form der sozialen Herrschaft zu orientieren, die drei wichtige Ergebnisse versprach und tatsächlich zur Folge hatte: a) die Erneuerung der produktiven Basis für den Erhalt der US-Dominanz; b) ein universelles Modell, um die Bedingungen der Profitabilität in den anderen entwickelten Ländern zu erneuern; und c) die ökonomischen Bedingungen für die Integration des globalen Kapitalismus, also für die sog. Globalisierung.« (SR I, S.21f.) Dementsprechend zeichnen Panitch und Gindin auch ein völlig anderes Bild der ökonomischen und politischen Gegenwart als Harvey und Arrighi. An der Spitze, so führen sie aus, stünden die USA als globaler Hegemon, die ökonomisch trotz kleinerer Einbußen nach wie vor z.B. mit Blick auf die Wachstumsraten oder die Position in der weltweiten High-Tech-Produktion mehr als nur mithalten können, die durch den Dollar und die Wall Street besondere Privilegien auf den globalen Kapitalmärkten genießen (SGC, S.9) und die sowohl durch ihre militärische Übermacht, als auch durch ihre Dominanz in globalen Wirtschafts- und Finanzinstitutionen wie dem Weltwährungsfonds oder der Weltbank ihre Interessen weiterhin massiv vertreten (insb. SR II, S.70). Etwas unterhalb der USA stünden die anderen großen Industriestaaten, die bisweilen gegenüber den USA abweichende Meinungen und Interessen verträten, wie im Falle des Irakkrieges, deren Interessen letztlich aber so sehr mit denen der USA korrespondierten, dass weder ein nachhaltiges Abweichen von der neoliberalen Politik noch eine antiamerikanische Politik noch eine ökonomische Isolation der USA von dieser Seite zu befürchten sei (SR I, S.24f.). Zu guter Letzt blieben noch China und die Länder und Regionen außerhalb der kapitalistischen Zentren. Im Falle Chinas sehen Panitch und Gindin keine baldige Supermacht, sondern ein Land, das noch einige mühevolle und schwierige Jahrzehnte der ökonomischen Entwicklung vor sich habe, bevor es überhaupt eine Herausforderung für die USA darstellen könne (SR I, S.25; SGC, S.14). Lediglich die Länder außerhalb der kapitalistischen Zentren stellten für die USA eine schwer zu kalkulierende Variable dar, aber auch hier plädieren Panitch und Gindin dafür, die Gefahren für die USA nicht zu dramatisieren, insofern auch Strategiedispute zwischen den großen Industriestaaten und militärische Fehlschläge keineswegs das tatsächliche Druckpotential der USA nachhaltig erschüttern würden.

Obgleich Panitch und Gindin dieses Bild einer extrem stabilen US-Hegemonie an einigen Stellen aufweichen und ökonomische Instabilitäten des Neoliberalismus nicht völlig ausschließen wollen, vermeiden sie es jedoch, diese Ahnungen etwas systematischer zu Ende zu denken. Stattdessen verweisen sie darauf, dass eine Gefährdung des Neoliberalismus und der US-Hegemonie sich gegenwärtig, wenn überhaupt, »eher durch politische Legitimationsprobleme als durch einen plötzlichen ökonomischen Kollaps« (SR II, S.74) ergeben werde. Und sie fügen hinzu: »In Anbetracht dieser Umstände sollten wir der Versuchung widerstehen, Gespenster an die Wand zu malen durch die Ausrufung eines baldigen Endes der US-Hegemonie. Müssen die Verhältnisse wirklich noch schlimmer werden, damit wir das gegenwärtige System verurteilen? Die Welt, wie sie gegenwärtig ist, schreit nach einer Veränderung; die Aufgabe besteht darin, alternative politische Institutionen zu schaffen, aus denen ein neues Selbstbewusstsein resultieren kann, welches Grundlage eines Wechsels innerhalb der sozialen Kräfteverhältnisse ist.« (SGC, S.14; SR I, S.26f.)

Wieviel kapitalen Überfluss hätten wir denn gern, geht auch ein bisschen weniger?

Aber: Wie überzeugend ist diese Gegenüberstellung von Politik (bzw. »politische Legitimationskrise« oder »alternative politische Institutionen«) und Ökonomie (bzw. »plötzlichem ökonomischem Kollaps«) durch Panitch und Gindin? Steht sie nicht im Widerspruch zu ihrer Analyse, die Genese des Neoliberalismus als Folge von Überakkumulation und Profitratenfall in den siebziger Jahren zu beschreiben? Wie kann man politische Legitimationskrisen durch die neoliberale Politik der letzten drei Jahrzehnte - z.B. die steigende Arbeitslosigkeit, das Verschwinden von Hochlohnarbeitsplätzen oder Sozialstaatsabbau - von ihrem ökonomischen Hintergrund lösen? Oder meint relative Autonomie des Staates bei Panitch und Gindin genau genommen einfach ein Primat der Politik?

Es ist zu vermuten, dass Panitch und Gindin die praktischen Implikationen eines solchen Politikprimats zwar nicht teilen (vgl. express 6/2004), dass sie aber nicht bemerken, wie ein solcher Primat sich theoretisch in den nicht nur bei ihnen beliebten Formeln wie der von der »relativen Autonomie des Staates« oder der von der »entscheidenden Bedeutung der sozialen Kräfteverhältnisse« vorbereitet. Denn diese unterstellen Theoreme, die von der völligen Abhängigkeit des Staates bzw. der sozialen Kräfteverhältnisse von der Ökonomie ausgehen, d.h. diese Formeln konstruieren zunächst immer einen Ökonomismus, von dem man sich abzugrenzen hat. Diesem werden dann kritisch-differenziert zwei getrennte soziale Sphären - Ökonomie und Politik - gegenüber gestellt, die man aber als »relativ« bezeichnet, um sich von der bürgerlichen Politiktheorie abzugrenzen. Allein: das Ergebnis ist, wie z.B. in den Ansätzen der regulationstheoretischen Schule, ein stetes Einerseits-Andererseits der Argumentation. Vielfach wird dieses dann doch in Richtung eines Primats der Politik aufgelöst, da die Bedeutung des Willens und des Kampfes der jeweiligen Akteure nicht aufgegeben werden soll. Werden also auf diese Weise auch bei Panitch und Gindin nicht Scheingegner präpariert, oder anders gefragt: Wo hat sich in der jüngeren Vergangenheit ein solcher Ökonomismus größerer Zustimmung erfreut? Außerdem: ist soziale Veränderung lediglich eine Frage des guten oder bösen Willens bzw. des Kampfes und der Kräfteverhältnisse?

Ohne zu weit ausholen zu wollen, kann zumindest mit Blick auf David Harvey und Giovanni Arrighi festgestellt werden, dass hier weder nicht-ökonomische Spielräume geleugnet werden (man denke an Harveys Vorschlag eines globalen New Deal oder Arrighis Analyse der Zyklenübergänge), noch dass sie soziale Kämpfe für überflüssig erachten (z.B. kritisiert Arrighi Robert Brenner für dessen Versuch, die Krise der Weltwirtschaft seit den siebziger Jahren ohne Berücksichtigung der sozialen Kämpfe verstehen zu wollen; vgl. GT, S.18). Wenn die beiden also gegenüber Panitch und Gindin intensiver die Bedeutung der Kapitalüberakkumulation für das Verständnis der Gegenwart und der US-Politik unterstreichen, dann betonen sie im Gegensatz zu Panitch und Gindin implizit zweierlei. Erstens: bevor die Menschen kämpfen oder aber der Staat politisch intervenieren kann, produzieren die Individuen in ihrer alltäglichen, sog. ökonomischen Praxis überhaupt erst die Grundlagen der Kämpfe oder des Staatsinterventionismus. Ein Primat der Ökonomie ist also genau genommen immer eine Erinnerung an das Primat der stetigen produktiven Praxis der Individuen. Egal wie kümmerlich und frustrierend diese Praxis auch für das jeweilige Individuum sein mag, unmerklich verknüpft mit der ökonomischen Praxis der anderen Individuen legt es die Basis für Praxen wie die der Politik oder des sozialen Kampfes. Zweitens: die produktive Praxis der Individuen ist systematisch und unkoordiniert zugleich:

  • systematisch, weil ihr zentraler gemeinsamer Zweck die Kapitalakkumulation ist, so dass bestimmte Koordinationsinstanzen diese Akkumulation begleiten, aber auch eine zeitlich-räumlich Logik der Akkumulation wie eben die zyklische Kapitalüberakkumulation die Folge ist;
  • unkoordiniert, weil der gemeinsame Zweck Interessendifferenzen und Wettbewerb sowohl innerhalb als auch zwischen den sozialen Klassen unterstellt, so dass die Kampflinien vorgezeichnet sind, die sich unter entsprechenden Bedingungen zur Krise und zum offenen Konflikt steigern.

Vom kapitalen Überfluss im Reich der Mitte

Das soll jetzt allerdings nicht heißen, dass die Kritik von Panitch und Gindin in jeglicher Hinsicht gegenstandslos ist, denn insbesondere ihre Warnung an Arrighis Adresse, China vorschnell zum globalen Konkurrenten und Nachfolger der USA auszurufen, ist insofern zuzustimmen, als die vielfältigen Implikationen des rasanten Aufstiegs des Reichs der Mitte zur inzwischen viertgrößten Volkswirtschaft der Welt (FAZ v. 28. Dezember 2005 ) hierbei unzulässig vereinfacht werden.

So schreibt etwa der »Economist« über die weltwirtschaftliche Position des Landes: »Chinas globale Rolle lediglich auf seine Exporte und seine Handelsüberschüsse zu reduzieren, bedeutet, die vielen verschiedenen Implikationen von Chinas steigendem weltwirtschaftlichem Einfluss misszuverstehen und zu unterschätzen. Jedermann weiß inzwischen, dass die meisten Fernseher und T-Shirts in China hergestellt werden. Aber darüber hinaus stellt China in gewisser Hinsicht auch die Inflationsraten, die Zinsraten, die Löhne, die Profite, den Ölpreis und selbst die Immobilienpreise der Industriestaaten her - oder zumindest werden all diese Faktoren stark von China beeinflusst.« (The Economist, 30. Juni 2005) Indem Chinas Wirtschaft ein schier unbegrenztes Angebot billiger Arbeitskräfte mit einer extremen Außenhandelsorientierung und Öffnung gegenüber internationalen Finanzinvestoren kombiniere (75 Prozent des chinesischen BIP sind abhängig von Exporten bzw. Kapitalimporten; zum Vergleich: in Japan und der EU sind es jeweils lediglich knapp 25 Prozent), sorge das Reich der Mitte dafür, dass viele Produktpreise fallen bzw. dass ein anhaltender globaler Preisdruck entstehe, dessen Folgen ambivalent seien. Da etwa der Preisdruck ein Sinken der Inflationsraten nach sich ziehe, könnten eine ganze Reihe von Zentralbanken ihre Zinsraten niedrig halten, ohne kurzfristige Probleme befürchten zu müssen, was z.B. die Konsumfreude der US-Verbraucher erleichtere. Gleichzeitig führe dies aber auch zu einer globalen Immobilienblase, deren Platzen immense Folgen für China und die Weltwirtschaft hätte. Fallende Preise oder steigender Preisdruck verstärkten den Druck auf die globalen Löhne und sorgten dementsprechend für eine stagnierende Nachfrage, aber genau dies er-mögliche gegenwärtig eine Steigerung der Unternehmensprofite. Schließlich steige aufgrund des wachsenden Verbrauchs Chinas zwar der Ölpreis und spanne sich die Lage auf dem globalen Energiemarkt überhaupt an, doch noch glichen die kaum steigenden globalen Löhne diesen Ölpreisanstieg aus bzw. sorgten die fallenden Produktpreise dafür, dass es zu keiner Steigerung der Inflation durch die höheren Ölpreise wie in den siebziger Jahren komme.

Es sind aber nicht nur weltwirtschaftliche Ambivalenzen, die das Wachstum Chinas nach sich zieht; auch innerhalb der Region und in China selbst führt das schnelle Wachstum des Landes zu einer Reihe von Problemen, die die Entwicklung des Landes äußerst unsicher machen. Wie Martin Hart-Landsberg und Paul Burkett bereits vor knapp zwei Jahren in der Monthly Review gezeigt haben [6], steigen die Spannungen in der Region auch, weil z.B. Länder wie Thailand, Malaysia und Singapur, aber auch Südkorea und Japan befürchten müssen, dass China durch seine immense Attraktivität für ausländische Direktinvestitionen sie nicht nur im Bereich arbeitsintensiver Produkte als Konkurrenten abhängt, sondern auch im Maschinenbau und der High-Tech-Produktion. Und, was auch im Hinblick auf aktuelle Diskussionen in Europa von besonderem Interesse ist: Die extrem hohen Wachstumsraten in China, so Hart-Landsberg und Burkett, führten keineswegs, wie man meinen könnte, zu einem Arbeitsplatzboom im Land selber, so dass steigende Löhne und damit ein neuer kaufkräftiger Absatzmarkt der Weltwirtschaft entstünden. Vielmehr kletterten die Arbeitslosenzahlen durch die gleichzeitige Schließung großer unrentabler Staatsbetriebe nach oben, viele chinesische Arbeiter verlören hierdurch ihr soziales Netz, also Pensionen, Wohnraum, Gesundheitsversorgung und Ausbildungsmöglichkeiten. Die immens steigende soziale Ungleichheit im Land nähere sich deshalb der von Ländern wie Brasilien oder Südafrika an, und die katastrophalen Arbeitsplatzbedingungen schließlich erinnerten an die Phase der industriellen Revolution in Europa.

Chinas Wachstum in den letzten Jahren ist ohne Zweifel imposant und hat jetzt schon zu gravierenden Veränderungen in China, Asien und der ganzen Welt geführt. Ob diese Entwicklung jedoch ökonomisch nachhaltig und frei von sozialen Konflikten ist und ob China am Ende dieses Prozesses zur Weltmacht aufsteigen wird, muss jedoch stark bezweifelt werden.

Hieronymus Bosch und der kapitale Überfluss

Zum Abschluss verdient noch ein dritter Aspekt der New-Imperialism-Debatte Aufmerksamkeit, dem von allen Autoren zwar eine große Bedeutung zugeschrieben wird, aus dem sie jedoch kaum Konsequenzen ziehen. Gemeint ist die genaue Analyse der sozialen Kräfteverhältnisse in den USA, also zum einen die Frage, wie die verschiedenen sozialen Klassen bzw. Gruppen und politischen Bewegungen der USA die ökonomische Entwicklung des Landes seit den siebziger Jahren begleitet haben, und zum anderen das aktuelle Problem, warum eine Politik wie die der Bush-Regierung in der Bevölkerung der USA trotz aller Kritik letztlich unterstützt wird.

Diese Leerstelle der New-Imperialism-Debatte ist umso ärgerlicher, da insbesondere in der Region der großen Seen (Minnesota, Wisconsin, Michigan, Ohio, Illinois, West Virginia) - aber auch in Staaten wie Kansas - eine hochinteressante Entwicklung zu beobachten ist. Auf der einen Seite ist der Niedergang der herstellenden Industrien in diesen einstmals hochindustrialisierten Regionen, derart fortgeschritten, dass die Region an den großen Seen mittlerweile als »Rust belt« (Rostgürtel) bezeichnet wird. Auf der anderen Seite sind es aber genau diese Bundesstaaten, die insbesondere bei der letzten Wahl den Ausschlag für die Bush-Regierung gegeben haben. Es hat den Anschein, als ob gerade die Regionen und sozialen Klassen in den USA, die besonders von den Umbrüchen der letzten Jahrzehnte getroffen worden sind, überproportional gegen ihre Interessen und damit republikanisch wählen.

Die Diskussion, ob und warum dies so ist - die insbesondere vom linksliberalen Publizisten Thomas Frank [7] angestoßen wurde - ist zwar noch in vollem Gange [8], doch die ersten Ergebnisse ergänzen das hier umrissene Bild der USA um ein wichtiges und beunruhigendes Element. Wie James Straub lakonisch schreibt: »Männliche, ungelernte Arbeiter aller Rassen haben in den letzten Jahren eine dramatische Erosion ihrer Kampfmacht und ihres kulturellen Status erfahren. Mit der Schließung von Gewerkschaftshäusern und dem Aussterben einer unabhängigen Presse ist es nicht überraschend, dass viele weiße Arme Antworten auf diese Prozesse in den verschiedenen Kirchen und bei den vielen Radiodemagogen suchen.«

Die Antworten, die sie hierbei erhalten, haben es in sich und machen deutlich, wie sehr die Bush-Regierung mit ihrem Rechtsrepublikanismus im Land verankert ist. Zunächst einmal werden nämlich die sozialen Probleme dieser Menschen in den erstarkenden fundamentalistischen Kirchen und durch die neokonservativen Medien aller Art, wie Thomas Frank aufzeigt, kulturalisiert. Die Probleme der USA gelten nicht als Folge der Wirtschaftsordnung, sondern werden auf einen allgemeinen Werteverfall zurückgeführt, der sich z.B. in Schwangerschaftsabbrüchen, gleichgeschlechtlichen Partnerschaften und Ehen, verwerflichen Medieninhalten ausdrücke. Gleichzeitig, so Frank, gelinge es den verschiedene Propagandisten, diesen neuen Kulturkonservatismus als Unterklassenphänomen, als Wortergreifung der kleinen Leute darzustellen, indem sie ein polarisiertes Gesellschafts- und Weltbild transportierten, in dessen Mittelpunkt der Kampf eines »hart arbeitenden und einfachen Amerikas« gegen seine inneren und äußeren Feinde stünde, egal ob es sich hierbei um vermeintliche (links-)liberale Eliten innerhalb der USA handele oder aber um sog. Terroristen im Nahen Osten. Zu guter Letzt bieten gerade die fundamentalistischen Kirchen in den USA den Armen wichtige materielle Unterstützung, die es vielen ermöglicht, trotz niedriger Löhne, geringer Arbeitslosenunterstüt-zung und kaum vorhandener Sozialhilfe über die Runden zu kommen. Dass all dies der Bush-Regierung gefallen muss, so dass sie etwa diese kirchlichen Sozialträger mit acht Milliarden Dollar bezuschusst und weitere Gelder für die strategische Ausweitung dieser Sozialprogramme zur Einflusssteigerung in Schwarzen- und Latino-Gemeinden bereitstellt, liegt auf der Hand: »Indem die evangelikalen Kirchen ein Vakuum der sozialen Basisorganisation in vielen Gemeinden füllen, haben sie starke politische Muskeln gewonnen und stellen in ähnlicher Weise die Fußsoldaten einer neuen rechts-republikanischen Weltordnung, wie dies die Gewerkschaften einst für die Etablierung und Sicherung des New Deal taten.« (Frank 2005)

Auch wenn einzelne bedächtige Stimmen [9] betonen, dass die Verankerung des rechten Republikanismus innerhalb der US-Unterschichten noch nicht so weit fortgeschritten ist, dass man von einem »republikanischen Proletariat« (Tom Mertes) sprechen könne, und viele Aspekte noch einer genaueren empirischen Aufarbeitung bedürfen, so reichen obige Beobachtungen und Tendenzen aus, um zumindest deutlich zu machen, dass den progressiven Kräften in den USA vielleicht nicht mehr viel Zeit bleibt, um ein »Land, das eher einem Panaroma des Wahns und der Verblendung ähnelt, würdig eines Hieronymus Bosch« zu verhindern: »mit strammen Arbeiterpatrioten, die das Treuegelöbnis zu Amerika hersagen, während sie ihre ei-genen Lebenschancen abwürgen; kleinen Farmern, die sich mit ihrer Stimmabgabe voller Stolz um ihr Ackerland bringen; mit treu sorgenden Familienvätern, die eifrig dafür sorgen, dass ihre eigenen Kinder sich niemals ein Studium oder eine richtige medizinische Versorgung leisten können; mit Arbeitern in den Städten des Mittleren Westens, die jubelnd einem Kandidaten einen Erdrutschsieg bereiten, der ihrer Lebensweise mit seiner Politik ein Ende machen, ihre Region in einen »Rostgürtel« verwandeln und Leuten, wie sie es sind, Schläge versetzen wird, von denen sie sich nie wieder erholen.« (Frank 2005, S.16)

Die Zukunft des kapitalen Überflusses

Für ein klares Ergebnis sind die hier umrissenen Positionen zu implikationsreich, und es wäre viel Forschungsarbeit notwendig, um zu einer Synthese zu gelangen, die diesen gerecht würde.

Doch soviel lässt sich sagen: Die mittelfristigen Aussichten für die USA bzw. die Weltwirtschaft sollten uns - auch hierzulande - noch mehr beunruhigen, als sie es hoffentlich schon tun. Denn trotz aller Unterschiede sprechen die hier umrissenen Überlegungen zur Kapitalüberakkumulation und ihren Folgen dafür, dass Phänomene wie der Siegeszug des Neoliberalismus seit den siebziger Jahren, der Krieg im Irak oder die schleichende Fundamentalisierung einer Gesellschaft wie der US-amerikanischen nur die Spitze sehr tiefgreifender und beharrlicher Probleme des globalen Kapitalismus sind, so dass gesellschaftliche Polarisierungen und internationale Konfliktverschärfungen in den nächsten Jahren zunehmen werden. Der jüngste Beleg hierfür sind nicht nur die internationalen Spannungen um das Atomprogramm des Iran, sondern auch das hierzulande bislang kaum registrierte Bemühen der US-Regierung, den sog. »Krieg gegen den Terrorismus« als »Long War« sprachlich neu zu definieren (Washington Post, 3. März 2006). Ob abstrakte Appelle an die Toleranz der verschiedenen Akteure, der Hinweis auf die möglichen Folgen eines solchen Krieges oder die nächsten Wahlen in den USA diese Entwicklung aufhalten werden, muss stark bezweifelt werden. Stattdessen käme es zumindest darauf an, deutlicher als bisher den Zusammenhang zwischen der beeindruckenden Radikalität der US-Regierung mit der Entwicklung des globalen Kapitalismus in der Öffentlich-keit zum Thema zu machen. Womöglich ließe sich damit auch bei den sozialen Verlierern dieser Politik des kapitalen Überflusses hierzulande wieder Gehör finden, damit nicht wie in den USA die Profiteure dieser Entwicklung paradoxerweise noch mehr sozialen und politischen Mehrwert aus ihr schöpfen als jetzt schon. Ansonsten bliebe nur die Feststellung Paul Valerys: »Die Unmenschlichkeit hat vielleicht eine große Zukunft.«

Die Literaturliste kann bei der Redaktion des express angefordert werden.

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 5/06


Anmerkungen

(1) Z.B. Immanuel Wallerstein: »Entering Global Anarchy«, in: New Left Review 22, Juli-August 2003; Simon Bromley: »Reflections on Empire, Imperialism and United States Hegemony«, in: Historical Materialism, Jg. 11, H. 3, Oktober 2003; Karl Beitel: »The US , Iraq and the Future of Empire«, in: Historical Materialism, Jg. 13, H. 3, Oktober 2005

(2) Peter Gowan: »After America ?«, in: New Left Review 13, Januar/Februar 2002

(3) Leo Panitch: »The New Imperial State «, in: New Left Review, Nr. 2, März/April 2000

(4) Leo Panitch/Colin Leys (Eds.): Socialist Register 2004: »The New Imperial Challenge« (im folgenden SR I) sowie Socialist Register 2005: »The Empire Reloaded« (im Folgenden SR II)

(5) Leo Panitch/Sam Gindin: »Superintending Global Capital«, in: New Left Review, Nr. 35, September/Oktober 2005 (im Folgenden SGC)

(6) Martin Hart-Landsberg/Paul Burkett: » China and Socialism: Market Reforms and Class Struggle«, in: Monthly Review, Juli-August 2004

(7) Tom Frank: »Sushi, Piercing und andere Besonderheiten. Krisenpopulismus in den USA«, in: Le Monde diplomatique 2/2004; ders.: »What's the Matter with Kansas? How Conservatives Won the Heart of America«, New York 2004; inzwischen auch in deutscher Übersetzung erhältlich unter dem Titel »Was ist mit Kansas los?«, Berlin Verlag 2005

(8) Aktuell etwa James Straub: »What Was the Matter with Ohio ? Unions and Evangelicals in the Rust Belt«, in: Monthly Review, Januar 2006

(9) Z.B. Paul D'Amato: »The Red, the Blue and the Ugly«, in: International Socialist Review, Nr. 39, Februar 2005


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