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Updated: 18.12.2012 15:51
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Politik im kapitalen Überfluss

Weltwirtschaft und US-Politik im Spiegel der »New-Imperialism«-Debatte, Teil I

Von Slave Cubela

Die Liste der kleinen und großen Verfehlungen der gegenwärtigen US-Regierung ist inzwischen so lang und bekannt, dass ein weiterer Artikel zu diesem Gegenstand überflüssig scheint. Allein, wie Hegel schon feststellte: Das Bekannte überhaupt ist darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt, oder mit Blick auf die USA formuliert: Nur weil wir wissen, dass die gegenwärtige US-Regierung - wie im Übrigen viele ihrer Vorgängerregierungen auch - fast zu jedem Mittel greift, um vermeintliche US-amerikanische Interessen zu vertreten, bedeutet das noch lange nicht, dass wir deshalb erkannt hätten, welche Interessen dies genau sind, warum zu diesen und nicht zu anderen Mitteln gegriffen wird und vielleicht am wichtigsten, ob und was all dies mit den sozialen und politischen Entwicklungen in Deutschland und Europa zu tun hat. Solange diese und ähnliche Fragen unbeantwortet bleiben, scheint es fast, dass es der US-Regierung nicht nur gelungen ist, ihren und den Ruf ihres Landes gründlich zu ruinieren, sondern dass sie damit auch tatsächlich ungenierter lebt, insofern es auf einen Skandal mehr oder weniger inzwischen auch nicht mehr ankommt und öffentlichkeitswirksame Kritik, wenn sie überhaupt noch auftritt, oftmals leider nur im normativen Rahmen formuliert wird.

Umso bedeutsamer ist es da, dass seit einiger Zeit im englischsprachigen Raum eine Debatte über die gegenwärtige US-Politik entbrannt ist, in der weniger einzelne Verwerfungen der US-Regierung oder moralische Entrüstung über selbige im Mittelpunkt stehen, sondern vielmehr die Frage, ob und wie diese Politik mit der Entwicklung des globalen Kapitalismus zusammenhängt. Da diese Debatte um den sog. »New Imperialism« der USA auch hierzulande - wie der Berliner »Kapitalismus Reloaded«-Kongress im November 2005 gezeigt hatte - auf Interesse zu stoßen scheint, sollen im Folgenden zunächst deren wichtigste Punkte nachgezeichnet werden, um im zweiten Schritt einige kritische Anmerkungen zu einzelnen Aspekten folgen zu lassen.

Wie kapitaler Überfluss entsteht

Um, wie Rosa Luxemburg in ihrer Imperialismusanalyse einst schrieb, »unter diesem Wust der politischen Gewaltakte und Kraftproben die strengen Gesetze des ökonomischen Prozesses aufzufinden«, verweisen alle Teilnehmer der »New Imperialism«-Debatte zentral auf die Tendenz des Kapitalismus zur Kapitalüberakkumulation. Deshalb - und ohne den jeweiligen Situierungen und Akzentuierungen, die diese Tendenz als historisches Phänomen bei den verschiedenen Autoren erfährt, vorgreifen zu wollen - ist es sinnvoll, sich eingangs logisch-systematisch mit der Kapitalüberakkumulation und ihren Implikationen etwas vertraut zu machen.

Was also ist Kapitalüberakkumulation? Kurz gesagt: wenn Kapital Profit produzieren und Profit wiederum beständig in neues Kapital zurück verwandelt werden soll, das wiederum noch mehr Profit produzieren soll etc., dann verläuft dieser Prozess nur solange reibungslos und »gleichgewichtig«, wie der Anstieg der Kapitalmassen begleitet wird von einem »entsprechenden« Anstieg der Profitmassen. Umgekehrt bedeutet das aber: Wo und wann dies nicht mehr gelingt, wo und wann also die Profitmasse mit dem Anstieg der Kapitalmasse nicht mehr Schritt hält und die gesamtgesellschaftliche Profitrate dementsprechend zu fallen beginnt, gerät der Akkumulationsprozess des Kapitals langsam, aber sicher ins Stocken, und es entsteht Kapitalüberakkumulation, da immer mehr neues Kapital Gefahr läuft, überflüssig zu werden, insofern es relativ weniger zusätzlichen Profit oder aber im Extremfall gar keinen neuen Profit mehr produziert.

Warum dies im Einzelnen der Fall ist, muss hier nicht ausgeführt werden, interessant aber ist soviel: Kapitalüberakkumulation ist unter Ökonomen ein 'alter Hut'. Schon Adam Smith schrieb im »Wohlstand der Nationen« 1776: »Das Kapital eines Unternehmers kann durchaus so stark zunehmen, dass er es nicht mehr im eigenen Gewerbe im vollen Umfange investieren kann (...). Das gleiche dürfte auch für den Kapitalüberschuss eines großen Landes gelten.« Unterschiedliche Vorstellungen bestehen zwischen den Ökonomen nur hinsichtlich der Frage, wie man die Tendenz des Kapitalismus zur Kapitalüberakkumulation einschätzt. Grob unterteilt kann man sagen, dass die »Gleichgewichts«-Ökonomen sie lediglich als vorübergehendes Phänomen sehen, das durch externe Behinderungen der Kapitalallokation im Prinzip leicht zu beheben ist (z.B. Ricardo, Say); die »Ungleichgewichts«-Ökonomen hingegen akzeptieren zwar, dass es auch eine partielle Kapitalüberakkumulation gibt, die im Übrigen mit ihrem überflüssigen Kapital wichtig für die Dynamik des Kapitalismus sei; aber sie erkennen, dass immer auch die Tendenz zur allgemeinen Kapitalüberakkumulation vorhanden ist, die eben nicht mehr auf einzelne Unternehmen, Branchen oder Länder beschränkt bleibt, sondern globale Wirtschaftskrisen zur Folge haben kann. Innerhalb der letzten Gruppe von Ökonomen besteht bis heute große Unklarheit darüber, inwieweit die Tendenz des Kapitalismus zur allgemeinen Kapitalüberakkumulation sich nicht durch die stetige Entwicklung der Produktivkräfte verschärfen muss. Versteht man nämlich unter Entwicklung der Produktivkräfte die Fähigkeit des Kapitalismus, mit gleichem oder weniger Kapital immer mehr Profit zu produzieren, dann scheint dies doch zu implizieren, dass mit der Zunahme der Produktivkräfte ein stetig steigendes Ungleichgewicht zwischen immer schneller und immer mehr produziertem Profit bzw. Neukapital und immer weniger tatsächlich benötigtem Produktionskapital die Folge ist. Also: je gewaltiger die Entwicklung der Produktivkräfte, desto schneller entsteht die Gefahr der allgemeinen Kapitalüberakkumulation, desto schwieriger die zumindest temporäre Lösung derselben?

Wie dem auch sei, ein Blick auf die möglichen Folgen von Kapitalüberakkumulation verdient - gerade weil die »New-Imperialism«-Debatte dieselben historisch diskutiert - Aufmerksamkeit. Je weniger Kapital unmittelbar produktiv reinvestiert werden kann, desto mehr wird als Kredit weiterzugeben versucht, so dass mit der Kapitalüberakkumulation die Bedeutung des Finanzkapitals ansteigt. Damit insbesondere die spezialisierten Finanzinstitutionen dieses Vertrauen der Kapitaleigner rechtfertigen und damit auch den möglichst reibungslosen Verlauf der Kapitalakkumulation überhaupt gewährleisten können, müssen sie immer neue Kapitalanlagemöglichkeiten finden, aber auch darauf achten, dass bezogen auf das gesellschaftliche Gesamtkapital die Profitmassen »entsprechend« wachsen, wobei sie zu diesem Zwecke darauf drängen werden, die Kapitalmärkte zu liberalisieren, damit sie die steigenden Kapitalmengen möglichst schnell und reibungslos ihrem Zweck entsprechend leiten und umleiten können. Dass daraus eine Verschärfung des Wettbewerbs auf verschiedenen Ebenen der kapitalistischen Akkumulation resultieren muss, ist leicht nachzuvollziehen, denn Einzelkapitalien egal welcher Art, die nicht profitabel genug sind, geraten in die Gefahr, als nicht mehr kreditwürdig zu gelten oder aber von anderen Kapitalien übernommen zu werden. Deshalb steigt auch der allgemeine Druck, die Produktionsfaktoren stetig kostengünstiger zu machen, so dass z.B. geringere Löhne immer wichtiger werden. Je weiter dieser Prozess gedeiht, desto wahrscheinlicher kommt es zu sog. »Korrekturen«, also zur Zerstörung von überflüssigem Kapital, und desto häufiger und wichtiger werden koordinierende Eingriffe des Staates. Zumindest die großen Industriestaaten verfügen hier zum einen über größere finanzielle Spielräume, um beispielsweise als »lender of last resort« (Kreditgeber letzter Instanz) Kapitalzerstörungen zu begrenzen und aufzufangen, ehe sie sich zu globalen Krisen auswachsen können; die spezifische Legitimation des Staates ermöglicht es diesem zum anderen überhaupt, als Vertreter der Allgemeinheit national und international zu mobilisieren und zu vermitteln.

Akkumulation durch Enteignung

Genau an diesem letzten Punkt, dem Verhältnis von Staat und kapitalistischer Akkumulationsdynamik, setzt die Argumentation des Oxforder Geographen David Harvey ein, der hier als erster Autor der »New-Imperialism«-Debatte behandelt werden soll. [1] Um imperiale Politik, wie die der Bush-Regierung, verstehen zu können, so Harvey, müsse man sich den Unterschied zwischen kapitalistischem und vorbürgerlichem Imperialismen verdeutlichen. Seine Antwort als Kurzformel lautet: Kapitalistischer Imperialismus sei »die widersprüchliche Verschmelzung der Politik von Staaten und Imperialen mit den molekularen Prozessen der Kapitalakkumulation in Raum und Zeit.« (Harvey 2005, S.33). Was das genau meint, lässt sich anhand der umfangreichen Erläuterungen Harveys und seiner vielen Vorarbeiten zu diesem Themenkomplex - hervorzuheben dabei sein eigener Verweis auf sein bereits 1982 veröffentlichtes Buch The Limits of Capital - in drei wesentlichen Aspekten zusammen fassen: Erstens: Harvey betont immer wieder die Differenzen zwischen der (politisch-) territorialen Logik und der Logik des Kapitals und warnt dementsprechend dringend davor, ein notwendig funktionales Verhältnis zwischen diesen beiden Logiken zu unterstellen. Gleichwohl bestimmt er die spezifische Synthese dieser beiden Logiken im kapitalistischen Imperialismus als den staatlichen Versuch der Erhaltung »asymmetrischer Strukturen des räumlichen Tausches« (Harvey 2005, S.38), deren Genese und Entwicklungslogik dann auch im Mittelpunkt seiner Überlegungen steht. Deren Resultat ist seine »Theorie der räumlich-zeitlichen Fixierung« (Harvey 2005, S.89), in der er davon ausgeht, dass es die wiederkehrende Tendenz des Kapitalismus zur Kapitalüberakkumulation ist, die diesen immer wieder zwingt, a) durch zeitliche Verschiebungen (etwa in langlebige Kapitalprojekte oder via Staat in öffentlich-soziale Ausgaben) oder b) durch räumliche Verschiebungen (z.B. Erschließung neuer Märkte, neuer Produktionsstätten und -kapazitäten sowie neuer Ressourcen) oder auch durch eine Kombination von beidem Kapitalüberschüsse abzubauen und dabei global sich permanent wandelnde asymmetrische Strukturen des räumlichen Tauschs zu erzeugen. Drittens schließlich ergänzt er diese Theorie der räumlich-zeitlichen Fixierung und damit seine Analyse der molekularen Prozesse der Kapitalakkumulation durch den Hinweis auf die außerordentliche Bedeutung der Akkumulation durch Enteignung für den kapitalistischen Akkumulationsprozess. Im Anschluss an die Marxsche Theorie der ursprünglichen Akkumulation und deren Umformulierung durch Hannah Arendt geht Harvey davon aus, dass »der Kapitalismus stets einen Vorrat von Vermögenswerten außerhalb seiner selbst« braucht, »um dem Druck der Überakkumulation zu begegnen und ihn zu umgehen« (Harvey 2005, S.141). Nur durch die Enteignung dieser Vermögenswerte (Harvey nennt z.B. die Kommodifizierung natürlicher Ressourcen, die Privatisierung kollektiven, öffentlichen oder staatlichen Eigentums) finde der Kapitalismus in schwierigen Zeiten vorübergehend neue und profitable Anlagen für das überflüssige Kapital.

Um in diesem Kontext die Politik der Bush-Regierung verstehen zu können, verweist Harvey auf eine tiefgreifende Veränderung der US-Politik in den siebziger Jahren: Profitierten die USA als unangefochten größte Wirtschaftsmacht der Nachkriegszeit bis zu dieser Zeit in jeglicher Hinsicht von den asymmetrischen Strukturen des Tausches, so habe sich die US-Politik ab den siebziger Jahren - gezwungen insbesondere durch den Aufhol- und Akkumulationsprozess von Ländern wie der BRD und Japan in der herstellenden Industrie, die immensen Kosten des Kalten Krieges und durch starke soziale Proteste in den USA - immer mehr auf die Aufrechterhaltung der eigenen Vormachtstellung in Bezug auf die globalen Finanzmärkte konzentriert: »[D]as Finanzkapital rückte in dieser Phase der US-Hegemonie in den Mittelpunkt des Interesses.« (Harvey 2005, S.68) Die Folgen dieser Verschiebung des imperialen Projekts der USA skizziert Harvey wie folgt: Die USA fochten national und international besonders konsequent für die Liberalisierung der Finanzmärkte; wo es ging oder nötig geworden sei, habe die US-Politik sich unbeeindruckt von den sozialen Kosten für verschiedene Formen der Akkumulation durch Enteignung eingesetzt, um neue Anlagemöglichkeiten für die immer chronischer werdende Kapitalüberakkumulation bereitzustellen; bestand Gefahr, dass die komplexer werdenden globalen Kapital- und Kreditketten reißen könnten, hätten die USA ohne zu zögern interveniert; schließlich hätte es die US-Regierung klaglos hingenommen, dass sich das eigene Land immer weiter deindustrialisierte, lediglich zugunsten des Agrobusiness und der rüstungsnahen Industrie sei immer wieder schützend eingegriffen worden.

Sei diese Stellung und Politik der USA international lange Zeit erwünscht gewesen und sei auch in den USA trotz der Entwicklung zur Dienstleistungsgesellschaft »genügend Wohlstand zusammen[gekommen], um den Konsumgeist fortleben zu lassen, der schon immer die Grundlage für den sozialen Frieden gewesen war« (Harvey 2005, S.70), so habe sich diese Konstellation infolge der Unfähigkeit der USA, das Problem der globalen Kapitalüberakkumulation tiefgreifend und anhaltend zu lösen, verändert. Der Aufstieg der ostasiatischen »Tiger-Staaten«, der dieses Problem zu lösen versprach, schuf gleichzeitig neue globale Konkurrenz und gefährdete 1997/1998 im Gefolge der ostasiatischen Finanzkrise die Weltwirtschaft. Die neuen IT-Technologien, die ein Zeitalter des krisenfreien Kapitalismus einzuläuten schienen, seien im Jahr 2001 durch das Platzen der Börsenblase entmystifiziert worden und hätten erneut für eine bedrohliche Situation für die Weltwirtschaft gesorgt. Der Aufstieg Chinas, der gegenwärtig die globalen Kapitalmärkte erheblich entlaste, bedeute wiederum steigende wirtschaftlicher Konkurrenz - und dies in einem Land, das infolge seiner Größe mittelfristig das Zeug zur Weltmacht habe. Hinzu komme eine heikle Situation auf den globalen Energiemärkten, ein doppeltes Defizit von US-Staatshaushalt und -Leistungsbilanz, Angst vor einem Dollar-Absturz sowie ein aktuelles Wachstum der US-Wirtschaft, das wesentlich von steigenden Immobilienpreisen und niedrigen Immobilienzinsen abhänge. Vor diesem Hintergrund sei ein Politikwechsel »vom Konsens zum Zwang« (Harvey 2005, S.179), wie ihn die politische Rechte in den USA mit der Bush-Regierung vollziehe, laut Harvey keineswegs verwunderlich - und damit auch nicht der US-amerikanische Nationalismus, Wertefundamentalismus und Rassismus dieser Regierung (Harvey 2005, S.188, 196), ihre Orientierung an geopolitischen Konzepten (Harvey 2005, S.193) und ihr Drang zum Militarismus (Harvey 2005, S.200). Aber, so Harvey, diese Politik sei eine Politik der Schwäche (Harvey 2005, S.77, 213), und ihre Erfolgsaussichten seien gering, denn: »Die einzig mögliche, wenn auch befristete Antwort auf dieses Problem innerhalb der Regeln einer kapitalistischen Produktionsweise ist eine Art von »New Deal« mit weltweitem Einflussbereich«, der die Logik der Kapitalzirkulation und -akkumulation von ihren neoliberalen Ketten befreie, die Staatsmacht in Richtung erweiterter Eingriffs- und Umverteilungsmöglichkeiten umforme, die Spekulationsmacht des Finanzkapitals einschränke und die überwältigende Macht der Monopole und Oligopole eindämme (Harvey 2005, S.202). Angesichts der sozialen und politischen Konstellation in den USA und Europa könne selbst eine solche temporäre Linderung, wie Harvey skeptisch betont, allenfalls Produkt des Kampfes demokratischer, progressiver und humaner Kräfte von unten sein (Harvey 2005, S.204).

Die stete Veränderung des zyklisch Wiederkehrenden

Weitgehender als Harveys Folgerungen aus seiner Analyse des kapitalistischen Akkumulationsprozess sind die Beiträge Giovanni Arrighis [2], Professor für Soziologie an der Universität Baltimore und Vertreter der sog. Weltsystemtheorie. Arrighi akzeptiert im Wesentlichen Harveys Überlegungen zur Kapitalüberakkumulation und deren Bedeutung für die soziale und politische Dynamik des globalen Kapitalismus, wirft ihm aber vor, dass seine Ausführungen welthistorisch zu ungenau situiert seien. Ihre Implikationen erschlössen sich erst, wenn sie in eine längere historische Betrachtungsperspektive eingebettet würden (H II, S.2). Das Ergebnis, zu dem Arrighi im Anschluss an die historischen Studien Fernand Braudels kommt, lautet: Phasen der sich verstetigenden globalen Kapitalüberakkumulation, wie wir sie gegenwärtig erleben - und damit der Expansion des Finanzkapitals und der Akkumulation durch Enteignung -, sind ein zyklisch wiederkehrendes Phänomen, das entscheidenden geographischen und politisch-sozialen Neuordnungen des Weltkapitalismus vorhergeht. Diese Phasen zeigen nicht nur an, dass sich ein globaler Kapitalakkumulationszyklus und die mit ihm einhergehende internationale politische Machtverteilung im Herbst ihres Daseins befinden, in ihnen formiert sich bereits jener neue Komplex von Institutionen und Akkumulationsbedingungen (»gouvernemental-business complex« (H II, S.3)), der den nächsten globalen Kapitalakkumulationszyklus ermöglichen und begleiten wird.

Diese weitreichenden Basisthesen werfen Fragen auf. Welche globalen Zyklen der Kapitalakkumulation gingen dem jetzigen voraus, und gibt es Unterschiede zwischen den einzelnen Zyklen? Wenn wir im Herbst eines solchen Zyklus leben, wie sieht ein Winter aus? Was tritt an die Stelle der USA, bzw. welche soziale und politische Dynamik erwartet die Welt im folgenden Zyklus?

Der Reihe nach. Die Frage nach den bisherigen Zyklen und ihren Charakteristika beantwortet Arrighi, indem er vier globale Akkumulationszyklen unterscheidet: einen genuesisch-iberischen Zyklus, der vom 15. bis ins frühe 17. Jahrhundert reicht; danach einen niederländisch dominierten Zyklus, der vom späten 16. bis ins späte 18. Jahrhundert dauerte; sodann einen britischen Zyklus, dessen Zeitspanne von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis ins frühe 20. Jahrhundert langt; und schließlich einen US-amerikanischen Zyklus vom späten 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Die Benennung der unterschiedlichen politischen und akkumulativen Zentren innerhalb der jeweiligen Zyklen durch Arrighi macht sofort deutlich, dass Arrighi nicht, wie einige Kritiker ihm vorwerfen, die stete Wiederkehr des Gleichen behauptet, sondern dass er vielmehr davon ausgeht, dass »wenn 'das Gleiche' (d.h. die wiederkehrende systemweite Expansion des Finanzkapitals) sich wiederholt, doch stets neue Runden zwischenkapitalistischer Konkurrenz, zwischenstaatlicher Rivalitäten, von Akkumulation durch Enteignung und der sich stetig ausweitenden Produktion kapitalistischer Räume überhaupt stattfinden, die die Geographie und den Modus operandi des Weltkapitalismus sowie sein Verhältnis zu imperialen Praktiken verändern.« (H II, S.5) Ohne diese Zyklen hier detailliert rekonstruieren zu können [3], muss man laut Arrighi jedoch zwei allgemeine Entwicklungslinien konstatieren: Zum einen finde über die verschiedenen Zyklen hinweg ein Fortschritt im Machtumfang (»containers of power«, H II, S.5) der jeweils dominierenden politischen und akkumulativen Zentren statt, von Stadtstaaten und ihrer kosmopolitischen Geschäftsdiaspora über Nationalstaaten wie die USA, die eine nahezu kontinentale Einflusssphäre erreichen, bis zu einem weltumspannenden System von transnationalen Unternehmen, Militärbasen und Institutionen der Weltregierung (»world governance«). Zum zweiten lasse sich eine wachsende Bedeutung imperialistischer Praktiken konstatieren, die Arrighi auf die zunehmende wechselseitige Durchdringung kapitalistischer und politisch-territorialer Machtstrategien (H II, S.6) zurückführt.

Diese genauere Bestimmung seiner ersten Basisthese bleibt nicht ohne Folgen für Arrighis Antwort auf die zweite Frage, wie ein politisches und akkumulatives Zentrum vergeht und durch ein neues ersetzt wird. Denn wenn man die stete Veränderung des zyklisch Gleichen als zentrale historische Perspektive unterstellt, dann wird man zwar sehr bestimmt den Herbst eines Zyklus feststellen können, muss aber gleichzeitig sehr genau den jeweiligen Fall, also die stets veränderte äußere Form, auch des Zyklenübergangs und der Herausbildung eines neuen Zentrums untersuchen. Arrighi betont auf der einen Seite die prinzipielle Vielgestaltigkeit der Übergangsprozesse, indem er z.B. darauf verweist, dass die niederländische Weltmacht bei ihrem Untergang bereits derart geschwächt gewesen sei, dass sie gar keinen Widerstand mehr leisten konnte und deshalb vergleichsweise still und leise abgetreten wäre, während das britische Imperium sich wiederum aggressiv gegen seine Abdankung zur Wehr gesetzt und damit nicht nur den Zusammenbruch des Weltmarkts, sondern auch eine lange Zeit zwischen-imperialer Spannungen mitprovoziert habe (GT, S.39). Auf der anderen Seite tritt damit aber auch die Analyse der Situation des jeweils untergehenden Zentrums unmittelbar in den Mittelpunkt der Frage, so dass Arrighi sich ausführlich der Gegenwart der USA zuwendet.

Im Unterschied zu Harvey stellt hierbei die Bush-Regierung für ihn keinen qualitativen Bruch im jüngeren US-Vergleich dar. Sie sei vielmehr lediglich ein weiteres verzweifeltes und vergebliches Aufbäumen gegen die finale Krise der US-Hegemonie (»one of the several 'bubbles' that punctuated the terminal crisis of US hegemony«, H II, S.1), an dem man allenfalls deutlicher als z.B. bei der Clinton-Regierung ersehen könne, wie weit inzwischen der Erosionsprozess der US-Hegemonie neben der einstmaligen Vorherrschaft in den produzierenden Industrien auch den scheinbar gigantischen Militärapparat und die Finanzhegemonie der USA unterminiert habe. So seien die USA auch im Irak - wie in Vietnam - nicht in der Lage gewesen, einen militärischen Sieg zu Lande zu erringen (H I, S.18ff.). Diese vergleichsweise einfache Tatsache habe aber immense Folgen. So stelle sich selbst innerhalb der US-Elite die Frage nach dem Zweck eines solchen Militärapparats, wenn man ihn nur begrenzt einsetzen könne. Außerhalb der USA werde die weitergehende Frage gestellt, inwiefern dieser Militärapparat überhaupt zur Problemlösung dienlich sei - zumal, wenn man gleichzeitig berücksichtige, dass viele dieser Probleme im Gegensatz zu denen von vor 1989 direkte Folgen einer kurzsichtigen Politik der USA selber seien und die USA ihren vermeintlichen militärischen Schutz auch noch teuer finanziert haben wollten (H II, S.14ff.). Schließlich: spreche die Bemühung der USA, ihre Militäreinsätze von außen finanzieren zu lassen, nicht Bände über den Staatshaushalt der einzig verbliebenen Supermacht? Sei es wirklich ein Zeichen der Stärke, dass die US-Wirtschaft seit geraumer Zeit bei der Finanzierung ihres Leistungsbilanzdefizits von externen Kapitalzuflüssen abhänge? Oder müsse man nicht konsequent davon ausgehen, dass die Gläubiger das Schicksal des Schuldners bereits in ihren Fingern hätten?

Allein, und damit kommen wir zur letzten Frage: Sind die Gläubiger der USA nicht meist befreundete Staaten, die gar kein Interesse daran haben können, selbige unter Druck zu setzen? Ja, antwortet Arrighi, bis auf eine wichtige Ausnahme: China. Denn obgleich China bis zum heutigen Tag sehr von der Konsumfreudigkeit der US-Amerikaner profitiert habe und deshalb insbesondere in den Jahren 2003 und 2004 durch massive Stützungskäufe einen Sturz des US-Dollars und damit der US-Wirtschaft verhindert hätte, wird die Symbiose zwischen China und den USA laut Arrighi nicht ewig währen, insofern ein anhaltendes Wachstum Chinas mittel- oder langfristig notwendig die Gefahr der Genese einer zweiten Supermacht neben den USA zur Folge habe. Das doppelte Dilemma für die USA laute also: entweder jetzt, wo noch Zeit bleibt, die potentielle Supermacht China verhindern, aber damit zugleich Gefahr laufen, dass für die Weltwirtschaft so wichtige Wachstum Chinas zu gefährden; oder aber Chinas wirtschaftliches Wachstum kurzfristig tolerieren, dann aber mittel- oder langfristig sich selbst als einzige Supermacht verabschieden, insofern China nicht mehr kontrolliert werden kann. So sehr Arrighi betont, dass vor diesem Hintergrund verschiedene Entwicklungsszenarien möglich seien - so diskutiert er beispielsweise die Wahrscheinlichkeit eines Bündnisses Europas und Chinas ohne die USA und damit neuer Spannungen zwischen den Großmächten (I, S.33) -, so sehr verweisen Andeutungen und Zitate aus verschiedenen Quellen darauf, dass er sich in einem Punkte sicher ist: Der nächste globale Akkumulationszyklus wird von China bzw. Ostasien dominiert werden. Oder in den Worten des »Economist«, den er positiv zitiert: »Europa war die Vergangenheit, die USA sind die Gegenwart, und ein China-dominiertes Asien ist die Zukunft der Weltwirtschaft.« (I, S.32)

Teil II

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 4/06


(1) David Harvey: »Der neue Imperialismus«, Hamburg 2005; s. auch ders: »The New Imperialism: Accumulation by Dispossession«, in: Leo Panitch/Colin Leys (Hrsg.), Socialist Register 2004: The New Imperial Challenge, London 2003, S. 63-87

(2) Giovanni Arrighi: »The Social and Political Economy of Global Turbulence«, in: New Left Review 20, März/April 2003 (im Folgenden GT); ders: »Hegemony Unravelling«, I+II, in: New Left Review 32+33, März/April 2005 und Mai/Juni 2005 (im Folgenden HI+II)

(3) s. hierzu Giovanni Arrighi: »The Long Twentieth Century: Money, Power and the Origins of Our Time«, London 1994; ders./B. Silver: »Chaos and Governance in the Modern World System«, Minneapolis 1999; eine Kurzfassung gibt es in H II


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