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Updated: 18.12.2012 15:51
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Debatte um Abbau des Streikrechts durch Verpflichtung zum `Service minimum´ dauert an

Ankündigung: Am gestrigen Donnerstag Abend hat Präsident Nicolas Sarkozy über 90 Minuten im französischen Fernsehen gesprochen, um auf die Streikbewegung vom 29. Januar zu antworten. Dabei kündigte er an, seinen Kurs im Kontext der Finanz- & Wirtschaftskrise aufrechtzuerhalten, aber auch „eine soziale Geste“ vorzunehmen. Nun bleibt die Reaktion der Gewerkschaftsverbände, die sich am Montag Abend versammeln, abzuwarten. Bislang ist die Einheitsfront der acht Gewerkschaftszusammenschlüsse nicht zerbrochen, obwohl der rechtssozialdemokratische CFDT-Chef François Chérèque schon als Bremser auftrat (man könne „nicht zehn Demonstrationen gegen die Krise durchführen", vgl. Artikel externer Link) Eine nähere Analyse der Ansprache Sarkozys und der ersten Reaktionen darauf folgt an dieser Stelle am Montag oder Dienstag.

Ein grünes Autochen vom Typ VW-Käfer fuhr, im Schritttempo, inmitten der riesigen Menschenmenge. Es blieb nicht unbemerkt. Und weniger noch das riesige Transparent, das mit Hilfe von Stangen auf seinem Dach aufgebaut war und nach beiden Seiten - vorne und hinten - weit überragte. Darauf stand zu lesen: „Wenn es heute in Frankreich einen Streik gibt, dann bleibt er unbemerkt.“ Ein Zitat von Staatspräsident Nicolas Sarkozy, das er vor einem halben Jahr – am 5. Juli 2008 - in höhnischer Absicht ausgesprochen hatte (vgl. im LabourNet). Rund um das Auto herum wogte eine Menge von mindestens 150.000 DemonstrantInnen. Die Menschenmasse benötigte annähernd sechs Stunden, um über die Pariser Boulevards zu ziehen.

Dieses Mal, jedenfalls, blieb der Streik definitiv nicht unbemerkt. Vor allem die Demonstrationen vom 29. Januar dieses Jahres hatten bedeutende Dimensionen: Rund anderthalb Millionen Menschen nehmen an Protestmärschen gegen die Sozial- und Wirtschaftspolitik der Regierung in diesen Krisenzeiten teil (vgl.im LabourNet). Unter den streikenden Sektoren waren insbesondere die Ausstände bei den Lehrerinnen und Lehrern sowie bei den Eisenbahnern an jenem Tag erfolgreich (vgl. Artikel externer Link).

Doch die Debatte um die Einschränkung des Streikrechts, die seit Mitte Januar 2009 durch Präsident Sarkozy und sein Regierungslager angestoßen worden war, nachdem eine unangemeldete Arbeitsniederlegung – auf der Grundlage des gesetzlich vorgesehenen „Rechts auf Rückzug aus einer Gefahrensituation“ – den Bahnhof Saint-Lazaire in Paris einen Abend lang lahmgelegt hatte, geht fort. (Zu ihren Anfängen vgl. im LabourNet)

Neue Runde von Vorschlägen über Beschränkungen des Streikrechts

Präsident Nicolas Sarkozy und der neue Arbeits- und Sozialminister, Brice Hortefeux, haben sich in den letzten Januartagen ihrerseits nochmals positiv zur der Idee erklärt, die bestehende Gesetzeslage (also das Gesetz vom August 2007 zum (Service minimum) zu verändern und die Bedingungen für einen Streik - in den öffentlichen Diensten und insbesondere den Transportbetrieben - zu verschärfen. Hortefeux hatte sich bei Amtsantritt in seinem „neuen“ Ministerium Mitte Januar d.J. zunächst einen Monat Zeit gegeben, um „Konsultationen vorzunehmen und Vorschläge für eine Änderung der Gesetzeslage auszuarbeiten“. (Vgl. Artikel externer Linkoder Artikel externer Link)

Der Begriff ‚Service minimum’ bezeichnet die Pflicht zur Einhaltung einer Notbelegschaft oder garantierten Mindestbelegschaft - die den Dienst bis zu einem gewissen Grade aufrechterhalten kann - im Streikfalle. Dieses politisches Ziel soll besonders in den Transportgesellschaften umgesetzt werden, trifft inzwischen aber mit zunehmend hohem Druck auch das Schulwesen: Just am 30. Januar 09 wurde die „rosa-rot-grün“ regierte Stadt Paris, die sich bislang zur Einrichtung eines solches ‚Service minimum’ in ihren Schulen verweigert hatte - denn es gehe dem Staat mit dieser Forderung ohnehin nur darum, im Falle eines Unterrichtsausfall durch Streik die Schüler/innen durch Aufsichtspersonal zu „verwahren“, was auch keinen pädagogischen Wert habe - gerichtlich verurteilt. Sie habe, so die Richter, das 2007 verabschiedete Gesetz über die „Mindestdienstpflicht“ einzuhalten. Noch am Vortag, dem 29. Januar, hatte die Pariser Stadtverwaltung angesichts der bevorstehenden Streiks die Eltern aufgefordert, ihre Kinder nicht zur Schule zu schicken, da man nicht genügend Personal aufweise, um Aufsicht zu üben. (Vgl. Artikel externer Link)

Wie Anfang Februar o9 bekannt wurde, hat die Stadtregierung laut dem Urteil nun eine Frist bis zum 1. März d.J. gesetzt bekommen, um der Präfektur - der juristischen Vertretung des Zentralstaats - eine Liste mit potenziellen „Dienstwilligen“ im Falle eines Arbeitskampfs in den öffentlichen Schulen der Stadt zu übermitteln. (Vgl. Artikel externer Link) Die Stadt Paris hat am 3. Februar angekündigt, sie werde das Urteil einhalten.

Zurück zu den Plänen zur Abänderung des ohnehin vorhandenen, aber in der Praxis auf Schwierigkeiten stoßenden Gesetzes zum ‚Service minium’. Minister Hortefeux betonte dabei, es gehe ihm darum, das Gesetz zum ‚Service Minimum’ – also zu der Verpflichtung, im Streikfalle in öffentlichen Diensten eine „Mindestbelegschaft“ zu garantieren – zu „verbessern“. Er wolle allerdings das „Recht auf Rückzug aus einer Gefahrensituation“ (droit de retrait), das den Lohnabhängigen garantiert wird, beibehalten. Es war die Ausübung dieses gesetzlichen Rechts, die am 13. Januar 2009 im Saint Lazare-Bahnhof zu den massiven Arbeitsniederlegungen und zum zeitweisen Stillstand führte – Labournet berichtete ausführlich. Dieses Recht wird sich auch schwerlich abschaffen lassen. Brice Hortefeux kündigte allerdings an, trotz Aufrechterhaltung dieses grundlegenden Rechts könne es künftig „nicht angehen, dass seine Ausübung zur vollständigen Lahmlegung des Verkehrs führt“. Wie man allerdings ein gesetzliches Recht nicht antastet, gleichzeitig aber die Auswirkungen seiner Ausübung kontrolliert, konnte Hortefeux bislang nicht näher erläutern. Es dürfte möglicherweise auch der Quadratur des Kreises nahe kommen.

Unter Federführung des ziemlich rechtsaußen angesiedelten Wirtschaftsliberalen und Abgeordneten Hervé Mariton, einem ehemaligen Weggefährten von Alain Madelin (vgl. Artikel externer Link ), wurde am Mittwoch Nachmittag - o4. Februar o9 – inzwischen ein neuer parlamentarischer Untersuchungsbericht zum Thema Streikrecht vorgelegt. In ihm wird insbesondere vorgeschlagen, künftig längere Fristen für die obligatorische Voranmeldung von Arbeitskämpfen einzuführen - diese können bereits heute in den Fällen von Verkehrsbetrieben bis zu zwei Wochen ausgewalzt werden -, und die derzeit besonders angeprangerten „59-Minuten-Streiks“ unter finanzielle Sanktionen zu stellen. Auch soll es Gewerkschaften erschwert werden, mehrere Streiks zu denselben Themen und mit denselben Themen hintereinander (etwa für Montag, Mittwoch und Freitag einer der kommenden Wochen) vorab anzumelden. Hingegen stuft der Bericht eine zwangsweise Verpflichtung von Streikwilligen zum Dienst als nicht realistisch ein. (Vgl. Artikel externer Link)

Gegenvorschläge der linken Basisgewerkschaft ‚SUD Rail’

SUD Rail (SUD Schienenverkehr) hat unterdessen auf diese Vorstöße reagiert, indem die Gewerkschaft ihrerseits anbot, über eine alternative Streikstrategie nachzudenken, die „weniger belastend für das Publikum“ wäre: Statt ihre Arbeit vollständig niederzulegen, könnten die Eisenbahner/innen und abhängig Beschäftigten in den Transportbetrieben ja auch dazu übergehen, ihrem Arbeitgeber dadurch wirtschaftlichen Schaden zuzufügen, indem sie die Nutzerinnen und Nutzer - für die Dauer des Arbeitskampfs - kostenlos befördern.

Die Unterstützung des Publikums wäre einem Streik dadurch garantiert. (Allerdings mit der kleinen technischen Schwierigkeit, dass die Inhaber/innen von - im Voraus bezahlten - Monatskarten von dem vorübergehend Gratischarakter nicht profitieren. Allerdings räumt die Direktion in Fällen, wo mehrtägige oder mehrwöchige Transportstreiks stattgefunden haben, in aller Regel ihrer Abo-Kund/inn/en im Nachhinein stattliche Preisnachlässe für den darauffolgenden Monat ein. Heute jedenfalls, wo Transportstreiks in der Regel zum Ausfall des Verkehrs führen. Darauf zu achten wäre, dass es auch morgen oder übermorgen, falls es zu solcherart konzipierten Arbeitskämpfen durch Gratisbeförderungen statt zum Zusammenbruch des Nahverkehrs käme, so bliebe. Aber darum müssten dann neben den Gewerkschaften auch die Verbraucher/innen/verbände kämpfen…)

Umgekehrt stößt eine solche Streikform - gegen die das Publikum sich nicht aufwiegeln lässt, die jedoch zu beträchtlichen Verdienstausfällen führen kann - bei den Arbeitgebern auf umso geringere Gegenliebe. Zu solchen Formen von Arbeitskampf, bei dem die Bahnschaffner/innen einfach die Fahrkarten nicht abknipsten - bekannt geworden unter dem Titel „Streik der Greifzangen“ (‚grève de la pince’ oder auch ‚grève de la poinçonneuse’) - hatte es früher bereits als Streikform bei den Verkehrsbetrieben gegeben. Doch das französische höchste Gerichtshof erklärte ihn im Jahr 1989 als illegal, da eine rechtmäßige Ausübung des Streikrechts die „Nichterfüllung“ der Arbeitspflicht erfordere, in diesem Falle aber stattdessen eine (bewusste) „Schlechterfüllung“ des Arbeitsvertrags vorliege. Es handele sich also nicht um eine zulässige Form der Ausübung des Streikrechts - das in Frankreich (anders als in Deutschland) positiv in der Verfassung festgeschrieben und zusätzlich noch gesetzlich garantiert ist, gleichzeitig auch durch die Richter in ziemlich weitem Sinne ausgelegt wird.

Doch im Juli 2007 erklärte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in einem Urteil diese Streikform für zulässig. Nunmehr brachte SUD Rail die Forderung nach rechtlicher Anerkennung des „Gratisstreiks“ prompt wieder auf die Tagesordnung, und bietet sie nunmehr im Zuge der Polemik um die Transportausfälle am Saint Lazare-Bahnhof als tragfähige Alternative an. Zur Zeit sammeln SUD Rail und der Verbraucherverband FUT-SP („Vereinigung der Nutzer von Transportmitteln - öffentlichen Diensten“) seit Ende Januar 2009 Unterschriften für eine Petition zu diesem Behufe. (Vgl. Artikel externer Link und Artikel externer Link)

Es handelt sich um ein lohnendes politisches und soziales Kampfziel. Auf Begeisterung im Regierungslager dürfen die Urheber/innen der Petition aber sicherlich nicht hoffen. Es bleibt übrig, entsprechende Kräfteverhältnisse in der Gesellschaft zu schaffen - und solche positiven Alternativen dem Regierungsgejammer über die „Geiselnahme der armen Passagiere durch die Streikterroristen“ (und ähnlichem Unfug, wie er tagein tagaus in den Medien breitgetreten wird) entgegenzuhalten…

Bernard Schmid, Paris, 06.02.2009


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