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Updated: 18.12.2012 15:51
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Marseille: Nahverkehrsstreik gerichtlich verboten und nach 33 Tagen (vorläufig?!) eingestellt

Nach 33 Tagen ging am Samstag, möglicherweise nur vorläufig, der Streik bei den Marseiller Verkehrsbetrieben RTM (Régie des transports marseillais) zu Ende.

Am Vortag hatte das eingeschaltete Verwaltungsgericht den Streik für illegal erklärt: Er verfolge in Wirklichkeit "politische Ziele", da er sich im Kern hauptsächlich gegen die Drohung einer Privatisierung der beiden Marseiller Straßenbahnlinien richte. Damit handele es sich um einen rechtswidrigen politischen Streik. Ferner bemängelte das Gericht, und dies mag als Widerspruch zur soeben genannten Kritik durch die Richter erscheinen, die tatsächliche Hauptforderung der Streikenden (nämlich die Verhinderung eben dieser Privatisierung) werde in der Streikankündigung von Anfang Oktober nicht explizit genannt. Hätten die Streikenden also in ihrer Ankündigung eine Forderung benennen müssen, die, folgt man demselben Gericht, gleichzeitig angeblich illegal ist? An solchen Widersprüchen hielt das Verwaltungsgericht sich nicht auf.

Illegaler Streik?

Ein Streik muss in Frankreich in den öffentlichen Diensten (nicht aber im Privatsektor) 5 Tage vorher angekündigt werden, so will es ein Dekret aus dem Jahre 1963. Die erforderlichen Merkmale eines Streiks sind in Frankreich, nach geltender Rechtsprechung, die auf ein Urteil des obersten Gerichtshofs vom Januar 1968 zurückgeht. Demnach braucht es eine "konzertierte Arbeitsniederlegung", d.h. die Arbeitsniederlegung von mindestens zwei Beschäftigten (es sei denn, das betroffene Unternehmen beschäftigt nur einen Lohnabhängigen, in diesem Fall kann dieser auch allein das Streikrecht ausüben) "für die Erreichung berufsbezogener Forderungen". Anders als in Deutschland wird keine Unterstützung durch eine Gewerkschaft benötigt, damit der Streik rechtmäßig ist. Im Hinblick darauf, was "berufsbezogene Forderungen" ist, war die Auslegung durch die Gerichte und vor allem in der Praxis bisher eher weit gefasst: Alles, was die Regulierung der Wirtschafts- und Arbeitsbedingungen betrifft, also auch beispielsweise gesetzliche Neuregelungen, gegen die legal gestreikt werden darf. Es ist eher schwer einzusehen, warum die Forderung nach Abwehr einer drohenden Privatisierung nicht darunter fallen soll.

33 Tage Arbeitskampf

Der Ausstand bei dem Marseiller Métro-, Bus- und Straßenbahnbetreiber RTM hatte Anfang Oktober begonnen, und zwar im Zuge der Solidarität mit dem Streik gegen die Privatisierung der Schifffahrtsgesellschaft SNCM. (Der Kampf bei der SNCM endete Mitte Oktober mit einer Niederlage. Labournet berichtete ausfühlich.) Am Anfang stand, wie in anderen Betrieben und öffentlichen Diensten der Mittelmeermetropole, die Arbeitsniederlegung aus Solidarität mit den SNCM-Beschäftigten. In ihrer Streikankündigung erhoben die Mitarbeiter der Nahverkehrsbetriebe freilich eigene (vor allem lohnbezogene) Forderungen, um die Kriterien, die einen legalen Streik ausmachen, erfüllen zu können.

Rasch aber kam die Privatisierungsdrohung, die auch über den Verkehrsbetrieben der RTM hängt, in die Diskussion. Denn die Stadt hat bereits einen Übernahmevertrag für einen öffentlichen Dienst, der durch einen Privaten ausgeübt wird ("délégation de service public", DSP) für die beiden durch die RTM betriebenen Straßenbahnlinien ausgearbeitet. Die Stadt Marseille, die durch den wirtschaftsliberal-konservativen Oberbürgermeister Jean-Claude Gaudin regiert wird, will als private, "Partner" die Firma Connex hereinholen, einen Ableger des Véolia-Konzerns (ehemals Vivendi). Dieselbe Firma wird auch, nachdem der dortige Streik gegen die Privatisierung niedergeschlagen worden ist, bei der Schifffahrtsgesellschaft SNCM einsteigen. Sie hat ferner in den letzten Jahren durch ihre üble Rolle bei den privatisierten britischen Eisenbahnen von sich reden gemacht (Labournet berichtete).

In dieser Kernfrage war und ist die Stadtregierung von Marseille nicht gewillt, nachzugeben. Sie setzte im Umgang mit dem Streik auf "Aussitzen", oder wie man im Französischen sagt: "pourrissement" (Verfaulen-, Verkommenlassen). Wochenlang ließ sie den Streik einfach, ohne an ernsthafte Verhandlungen zu denken, vor sich hinlaufen. Um die Streikfolgen abzumilden, die im Laufe der Wochen tatsächlich vor allem für die EinwohnerInnen der (proletarisierten und teilweise subproletarischen) Nordquartiere von Marseille - die weitab vom Stadtzentrum liegen - immer schwerer zu ertragen waren, ließ die Stadt Ersatzbusse einsetzen, die von Privatfirmen gefahren wurden. Allerdings fuhren die Ersatzbusse nicht dieselben Linien ab wie die "normalen" Busse der RTM, da die Stadt sonst wegen rechtswidriger Beeinträchtigung der Ausübung des Streikrechts hätte verurteilt werden können. Ende vorletzter Woche forderte die Stadtregierung zudem die Präfektur (juristische Vertretung des Zentralstaaats) dazu auf, zum Rechtsmittel der "réquisition" (autoritäre Dienstverpflichtung unter Strafandrohung) zu greifen. Der Präfekt hatte sich zunächst noch geweigert, da er nach eigenen Angaben dieses Mittel als "Atombombe" - also als extremes Eskalationsmittel - im Rahmen eines Arbeitskampfs betrachtete. Zugleich hatte der Präfekt angekündigt, ab Donnerstag letzter Woche würde er über die "réquisition" mit sich reden lassen. Am folgenden Tag kam es dann aber zum gerichtlichen Verbot des Streiks.

Zwischendurch hatte die Pariser Regierung auch einen "Vermittler" nach Marseille entsandt, den Wirtschaftswissenschaftler Bernard Brunhes. Dieser kehrte aber am Donnerstag unverrichteteter Dinge zurück.

Wie weiter?

Der Präfekt hatte die Ausständischen nach dem Gerichtsurteil dazu aufgefordert, über die Beendigung des Streiks abzustimmen - aber mit geheimem Stimmzettel und nicht (wie in den Streik-Vollversammlungen üblich) per erhobener Hand, da von letzterer Methode stets eine "Gruppendynamik" zugunsten der Fortsetzung des Arbeitkampfs befürchtet wird. Als eine Art von Trotzgeste stimmten die Streikenden dann am Samstag vormittag aber doch per erhobener Hand ab. Allerdings votierten sie dann angesichts der Strafandrohung (die Streikenden sollten pro weiterem Streiktag zusammen 10.000 Euro bezahlen, falls sie nicht binnen 12 Stunden nach Urteilsverkündung die Arbeit aufnähmen) einstimmig für die vorläufige Wiederaufnahme der Arbeit.

Dies wurde jedoch sogleich mit der Anmeldung eines neuen Streiks ab Freitag dieser Woche, 11. November verknüpft. Dieses Mal soll dafür Sorge getragen werden, dass die Streikankündigung das "richtige" Motiv erwähnt, um weniger gerichtlich angreifbar zu sein. Gleichzeitig erklärten die Vertreter der Streikenden sich für die Zwischenzeit zu Verhandlungen bereit. Die Stadtregierung ihrerseits hat jedoch erklärt, hart bleiben zu wollen, und Oberbügermeister Jean-Claude Gaudin tönte: "Die Gewerkschaften machen hier nicht das Gesetz!" und "Gegenüber der CGT werde ich nicht klein beigeben".

Ob ein erneuter Arbeitskampf ab Freitag nochmals eine neue Dynamik entwickeln kann, wird sich noch erweisen müssen. Vielen Streikteilnehmern hängt derzeit bereits die sprichwörtliche Zunge heraus, da sie bereits 33 Tage Lohn einbüßten. (In Frankreich können die Lohnabhängigen auch unabhängig von ihrer Gewerkschaft legal streiken - aber es gibt auch kein Streikgeld! Bei erfolgreichen Streiks wird normalerweise der Arbeitgeber im Protokoll zum Streikende verpflichtet, einen Teil der Streikkosten für die abhängig Beschäftigten zu übernehmen. Aber in Fällen wie diesem tragen die abhängig Beschäftigten ihre volle Lohnausfälle allein.)

Zu notieren bleibt, dass der landesweite Dachverband der CGT, dessen Ableger bei der RTM die stärkste Gewerkschaft bildet, die Streikenden bei den Marseiller Verkehrsbetrieben weitestgehend allein im Regen hat stehen lassen.

Bernhard Schmid (Paris)


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