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Updated: 18.12.2012 15:51
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Rückwärts-"Reform" der Arbeitszeit beschlossen

"Raffarin vertraut den Unternehmen die Zukunft der 35-Stunden-Woche an", so lautet die Titelschlagzeile der konservativen Tageszeitung ‚Le Figaro‘ vom heutigen Freitag. Na, da wird sie ja in guten Händen sein!, möchte man hinzusetzen.

Am gestrigen Donnerstag, 8. Dezember stellte der französische Premierminister Jean-Pierre Raffarin seinen "Vertrag (mit, für) Frankreich 2005" (Contrat France 2005) vor. Es handelt sich um eine Agenda der Regierung für das kommende Jahr, die u.a. Bestimmungen zur Arbeitszeitpolitik und zur geplanten "Schulreform" enthält. Wie seit circa einer Woche angekündigt, beinhaltet diese erhebliche Neuerungen zur Arbeitszeit, die im Kern die seit dem 1. Februar 2000 geltende "gesetzliche Regelarbeitszeit" von (theoretisch) 35 Stunden pro Woche massiv in Frage stellen.

Wie wiederholt im Labournet dargestellt wurde, hat die französisch konservativ-liberale Regierung sich seit einigen Monaten nicht für eine frontale Attacke zwecks simpler Abschaffung des "35-Stunden-Gesetzes" der sozialdemokratischen Vorgängerregierung entschieden, sondern für eine indirekte Aushebelung einiger von dessen Bestimmungen.

Denn die "beiden Aubry-Gesetze" (loi Aubry 1 und loi Aubry 2), mit denen in den Jahren 1998 bis 2000 die Verkürzung der gesetzlichen Regelarbeitszeit organisiert wurde, haben auch erhebliche Vorteile für die Arbeitgeber. Vor allem erleichtern sie sehr stark die Einführung variabler Arbeitszeiten: Die 35 Stunden wöchentlich sind denn auch nur ein theoretischer Richtwert, da die Arbeitszeit im Betrieb nunmehr genauso gut im Jahresmaßstab (1.600 Stunden pro Jahr, ohne Berücksichtigung der zuässigen Überstunden) festgelegt werden kann. Dementsprechend macht die regierende Rechte jetzt nicht die gesamte Gesetzgebung zur "35-Stunden-Reform" rückgängig, sondern schickt sich nunmehr an, der damals eingeführten "Flexibilität" noch weitere "Flexibilität" hinzuzufügen – freilich dieses Mal bei gleichzeitiger Verlängerung, statt Verkürzung, der Arbeitszeiten.

Die Regierungsbeschlüsse zur Rückwärts-"Reform

"Die gestern von Premierminister Raffarin präsentierte, rückwärts gerichtete "Reform" beruht auf folgenden Grundsätzen:

1) Das per Gesetz festgelegte Kontingent der zulässigen Überstunden wird von 180 auf 220 (Über-)Stunden pro Jahr erhöht. Bei voller Ausschöpfung des gesetzlichen Kontingents werden die abhängig Beschäftigten in einem Betrieb damit faktisch (durchschnittlich) 40 Stunden pro Woche arbeiten. Der Unterschied zu einem "schlichten" Rückkehr zu der früheren 40-Stunden-Woche wird dabei aber nicht nach einem vorher feststehenden Arbeitszeit-Schema gearbeitet, denn die Überstunden können vom Arbeitgeber auf "flexible" Weise festgelegt werden – dann, wenn der Arbeitgeber sie benötigt. Umgekehrt ist der Betrieb bei schlechterer Auftragslage nicht verpflichtet, diese (zusätzlichen) Arbeitsstunden abzurufen und zu bezahlen.

2) Bleibt ein kleiner Nachteil für die Arbeitgeber: Überstunden sind (etwas) teurer als "normale" Arbeitsstunden. Normalerweise ist, nach französischem Gesetz, ein Überstundenzuschlag von 25 Prozent zu bezahlen. Doch in den kleineren Betrieben (unter 20 Beschäftigten) sah ein Gesetz vom Januar 2003 vor, dass sie die ersten vier Überstunden pro Woche nur mit einem verringerten Überstundenzuschlag, in Höhe von 10 Prozent statt 25 Prozent des Stundenlohns, zu entlohnen brauchen. Das Regierungsprojekt ‚Contrat France 2005‘ schreibt diese, vom Gesetz abweichende, Verbilligung der Überstunden bis zum 31. Dezember 2008 fort.

3) Im Namen eines neuen Prinzips, das "temps choisi" (ungefähr: Arbeitszeit nach Wahl) genannt wird, können sowohl Branchen-Kollektivverträge als auch als Betriebsvereinbarungen vorsehen, dass das Überstundenkontingent noch über die vom Gesetz künftig vorgesehenn 220 Stunden jährlich hinaus angehoben wird. Gerechtfertigt wird dies damit, dass die abhängig Beschäftigten sich ja auch dafür entscheiden könnten, länger zu arbeiten und dafür mehr Geld zur Verfügung zu haben. Verdächtig dabei ist unter anderem, dass dieser angebliche Gefallen, der den Lohnabhängigen dabei getan werde, gestern vor allem durch die Arbeitgeber lautstark begrüßt wurde. Der Präsident des Arbeitgeberverbands MEDEF, der Baron Erneste-Antoine de Seillière, begann seine Ansprache vor der Presse mit dem Satz: "Es ist künftig möglich, mehr zu arbeiten, um mehr zu verdienen" – als ob er und die Seinen es wären, die von dieser tollen "Möglichkeit" unmittelbar betroffen wären.

4) Ferner werden die Möglichkeiten zur Auszahlung von bisher gesetzlich vorgesehenem Freizeitausgleich in bar, anstatt von (obligatorischer) Ruhezeit, sehr stark ausgeweitet. Bisher sieht das Arbeitszeitgesetz ein so genanntes "Compte épargne temps" CET (Arbeitszeitkonto) vor. Der Freizeitausgleich, der obligatorisch durch das Leisten von Überstunden entsteht, kann durch eine Entscheidung des abhängig Beschäftigten auf dieses Konto platziert werden – in bestimmten, durch das Gesetz definierten Grenzen auch durch Entscheidung des Arbeitgebers. Aber bisher können höchstens 22 Tage (im Sinne voller Arbeitstage) jährlich auf das CET gutgeschrieben werden. Der abhängig Beschäftigte kann die auf dem CET gutgeschriebene Arbeitszeit in Form von Freizeitausgleich oder von Geld statt Freizeit (aber bisher nur in engen Grenzen, bspw. fünf Tage pro Jahr) "nehmen". In den letzten 5 Jahren vor der Rente kann er sie sich auf die künftige Rentenzeit anrechnen lassen, um seinen Ruhestand zeitlich vorzuziehen.

Jetzt werden an diesen Regeln einige fundamentale Änderungen vorgenommen. Laut dem "Contrat France 2005": Die Obergrenze von 22 Arbeitstagen jährlich wird verschwinden. Nunmehr können bisher obligatorische Freizeitausgleichs-Stunden oder Tage, aber auch vom Gesetz vorgeschriebene Urlaubstage auf dem CET gutgeschrieben und in Geldform ausbezahlt werden. Auch verschwindet die Maximalgrenze von 5 Jahren vor Erreichen des Ruhestands, so dass Lohnabhängige auch lange Zeit vor dem Rentenalter "vorsorglich" Arbeitstage für den in fernerer Zukunft liegenden Ruhestand auf dem Konto gutschreiben lassen können. Um die Zukunft ihres Arbeitsplatzes besorgte Beschäftigte können so etwa, durch ausgedehnte Mehrarbeit, eine Form von Zukunftsvorsorge betreiben – aber auf Kosten ihres Wohlbefindens und ihrer Gesundheit.

Reaktionen

Der Arbeitgeberverband MEDEF begrüßte, wie bereits zitiert wurde, die ankündigte neue "Reform" durch den Gesetzgeber lautstark. Dagegen zeigten die Gewerkschaften sich skeptisch bis ablehnend, am vernehmbarsten gestern die CGT. Sie sprach von einem "Täuschungsmanöver" für die Lohnabhängigen, denen vorgespiegelt werden, ihnen werden nunmehr eine Möglichkeit zu ihren Gunsten (Mehrarbeit für mehr Geld) eröffnet. In Wirklichkeit hingegen gehe es nur um eine Verbilligung "flexibilisierter" Arbeitszeiten für die Arbeitgeber, da der Umweg über die Gutschreibung auf dem Arbeitszeitkonto CET dem Arbeitgeber etwa die Bezahlung von Überstundenzuschlägen erspare. "Unter den Bedingungen der Marktwirtschaft" sei klar, dass es letztendlich die Arbeitgeber seien, die die Entscheidung zwischen "mehr Freizeit" und "Mehrarbeit für (etwas) mehr Geld" künftig treffen werden. In einer weiteren gewerkschaftlichen Reaktion hieß es: "Für die Bosse ist bereits jetzt Weihnachten!"

Bernhard Schmid, Paris

 

 


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