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Updated: 18.12.2012 15:51
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Migration, Autonomie, Ausbeutung

Ein Diskussionsbeitrag von Nicholas Bell, Teil II

Im ersten Teil hatte Nicholas Bell die Produktionsbedingungen landwirtschaftlicher Erzeugnisse insbesondere in der ostandalusischen Region um El Eijdo beschrieben. Dabei befasste er sich mit der u.a. EU-indu-zierten »ethnischen Substitution« migrantischer Arbeitskräfte und den zaghaften und beschwerlichen Versuchen ihrer Organisierung. Im folgenden Teil öffnet und erweitert sich nun sein Blick auf eine Kritik des Konzeptes der »Autonomie der Migration« und auf die Möglichkeiten und Perspektiven einer autonomen Wirtschaftsweise überhaupt.

Zur Zeit konstatieren wir eine Verschärfung der internationalen Konkurrenz. Konfrontiert mit dem Aufstieg von Ländern wie China konzentriert sich Europa eher auf Dienstleistungen statt industrielle Landwirtschaft oder industrielle Produktion. In Bezug auf die Landwirtschaft führt dies zu einer massiven Konzentration in einigen wenigen Regionen. Es ist wahrscheinlich, dass sich noch innerhalb des nächsten Jahrzehnts die Intensiv-Landwirtschaft auf weniger als zehn Regionen Europas konzentrieren wird, beispielsweise Andalusien für Obst und Gemüse, die Donau-Ebene für Ackerbau etc. Gemäß den Bestimmungen des jüngsten WTO-Abkommens wird die EU ihre Subventionen und ihre protektionistischen Maßnahmen zum Schutz der EU-Landwirtschaft aufgeben, im Austausch für eine Öffnung der Dienstleistungsmärkte weltweit.

Das bedeutet, dass sich der Konkurrenzkampf zwischen Regionen wie El Ejido und Ländern wie Marokko - mit den gleichen Produktionen - in Zukunft noch verschärfen wird. Im südfranzösischen Departement Bouches-du-Rhône z.B. haben innerhalb der letzten zehn Jahre bereits 40 Prozent der Obst- und Gemüseproduzenten Konkurs angemeldet. Der einzige Weg, ökonomisch zu überleben, besteht für sie in der brutalen Ausbeutung von MigrantInnen, die ihrerseits verzweifelt nach besseren ökonomischen Bedingungen suchen. Mit anderen Worten: Diese verheerende, vollkommen inakzeptable Form landwirtschaftlicher Produktion kann nur »Dank« der Anwesenheit von MigrantInnen existieren.

Welche Fortschritte auch immer die SOC oder andere Organisationen in Bezug auf die Verbesserung der Arbeitsbedingungen oder die Unterbringung der MigrantInnen in El Ejido machen: Dies ist und bleibt ein Modell der Agrarproduktion, das abgeschafft werden muss. Denn wofür steht dieses Modell? Für den Ruin kleinerer Landwirte und einer qualitativ hochwertigen Produktion - sowohl hier in Europa als auch in den Herkunftsländern der MigrantInnen.

Das zentrale Problem ist eine extrem intensivierte und hoch konkurrente Form der landwirtschaftlichen Produktion, die ungesunde Lebensmittel für KonsumentInnen auf den Markt wirft, die nach den billigsten Produkten suchen - ohne ein Bewusstsein von den sozialen und den Umweltbedingungen zu entwickeln, unter denen diese Produktion stattfindet. Eine andere Form der Landwirtschaft, die auf Ernährungssicherheit für alle Länder basiert, mit kleineren Betrieben, die qualitativ hochwertige Produkte herstellt, würde den Bedarf an solchen hochgradig arbeitsintensiven landwirtschaftlichen Produktionssystemen erübrigen - und damit auch die Notwendigkeit der Beschäftigung von MigrantInnen.

Moderner Kapitalismus braucht die kontrollierte Migration mehr oder weniger verzweifelter Menschen. Die aktuelle Immigrationspolitik und die durchlässigen Grenzkontrollen, verbunden mit einem neuen Quoten-System für die legale Zuwanderung je nach Arbeitsmarktbedarfen, sichern die notwendige Mischung von undokumentierten und legalen Werkvertragsarbeitskräften, die für ein Maximum an Profit bei den Unternehmen sorgen.

Patrick Taran, langjähriger Fachmann für Migration bei der ILO, spricht von einer »wohlwollenden Toleranz bestimmter Staaten gegenüber schlechten Arbeitsbedingungen und nicht gesetzlich geregelten Situationen, die irreguläre Arbeit anziehen. Eine solche Toleranz scheint in einigen Staaten so gut wie offizielle Politik zu sein, um damit ökonomische Aktivitäten aufrecht zu erhalten, die sich an der Rentabilitätsgrenze bewegen, aber nichtsdestotrotz Beschäftigung, Exportmöglichkeiten etc. gewährleisten«.

Dies zementiert eine nicht tolerierbare Form der Segmentierung des Arbeitsmarkts, die nicht nur für die migrantischen ArbeiterInnen Konsequenzen hat. Es entsteht eine neue Form von »Unterklasse«, die sich sowohl aus migrantischen als auch aus inländischen Zeit- bzw. Leiharbeitskräften zusammensetzt, die sich wechselseitig in einer Art permanenter Rotation - die aber immer prekär bleibt - ersetzen.

Ich kann nicht umhin, mich zu fragen, ob nicht die negativen Folgen für die Zukunft aufgrund der unbewussten Teilnahme der MigrantInnen an der kontinuierlichen Transformation globalisierter Produktionsmethoden ein größeres Gewicht haben als die positiven Momente in Bezug auf ihre Fähigkeit, diesem System zu widerstehen und es herauszufordern.

Selbstverständlich bezweifle ich damit nicht die Tatsache, dass Tausende von Menschen, die unter den Bedingungen von extremer Armut leben, unter Dürre, politischer Repression, sozialen oder familiären Einschränkungen leiden, das Recht haben, ihre Heimat auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen zu verlassen. Dennoch: Viele Beobachter der Situation in einem Land wie Marokko berichten von einer weithin geteilten »Besessenheit« von der Idee zu emigrieren. Selbst unter relativ wohlhabenden MarokkanerInnen grassiere dieses Phänomen. Dabei ist die Situation, die sie in Europa vorfinden, oft weit schlimmer als die, die sie hinter sich lassen.

Eine marokkanische Organisation, die »Vereinigung der Freunde und Familien von Opfern illegaler Immigration« (Amis et Familles de Victimes de l'Immigration Clandestine; AFVIC), hat kürzlich ein Projekt entwickelt, das den Titel »Kooperativen der Hoffnung« (cooperatives de l'espoir) trägt. Es sind meist jüngere Menschen, oft eine ganze Gruppe aus einem Dorf oder einer Familie, die sich gemeinsam entscheiden, das Ri-siko einer Mittelmeerüberquerung einzugehen. Sie entrichten hohe Summen an die Eigentümer der Fluchtboote. Oft gelingt es ihnen gar nicht, das Meer zu überqueren, und sie müssen mehrere Versuche machen. Und natürlich ertrinken auch viele von ihnen. AFVIC stellt fest, dass die Gesamtsumme, die diese Gruppen für ihren Migrationswunsch entrichtet, etwa in eine Dorfkooperative investiert und so eine zukunftsträchtige wirtschaftliche Basis vor Ort geschaffen werden könnte. Bislang hat dieses Projekt allerdings aufgrund der mangelnden Unterstützung seitens der Behörden und Banken nur wenig Erfolg gehabt.

Es versteht sich eigentlich fast von selbst, dass wir innerhalb des Europäischen Bürgerforums und von Longo Maï Mobilität nicht nur begrüßen, sondern auch selbst praktizieren. Aber ich meine, dass wir noch mehr darüber nachdenken müssen, wie wir ein Netzwerk alternativer Strukturen nicht nur im Norden, sondern auch im Süden schaffen und stärken können, in dem ein Austausch auf der Basis von Gleichheit und gegenseitigem Respekt stattfinden kann und das Migration aus anderen Gründen als purem ökonomischem Zwang erlaubt. Auf einem sehr bescheidenen Niveau haben wir begonnen, Verbindungen zu Menschen in Marokko aufzunehmen, die versuchen, ihre ökonomischen und sozialen Strukturen in den Dörfern des Atlas-Gebirges und anderer Regionen aufrechtzuerhalten und weiterzuentwickeln.

Die kürzlich geschaffene Internetplattform »this tuesday« (vgl. express 4/2004) betont das Konzept der Autonomie der Migration und dessen potentiellen Einfluss als »globalisierter Graswurzel-Widerstand gegen die verschiedenen Formen der Ausbeutung, Ausgrenzung, Segmentierung und Auslese des herrschenden Wirtschaftssystems«. Ich denke, es ist sehr viel wahrscheinlicher, dass diese Autonomie der Migration eine Form der Globalisierung von unten annimmt, wie sie Alain Tarrius in seinem Buch »Mondialisation par le bas« (Balland, Paris 2002) beschrieben hat.

Es handelt sich hierbei um eine erstaunlich dynamische, erfolgreiche und hochgradig strukturierte Schattenökonomie, deren Zentrum sich im Bezirk Belsunce in Marseille befindet. Sie beruht auf dem Handel zwischen den Mittelmeer-Anrainerstaaten, der von Tausenden von »Ameisen« betrieben wird, die Konsumgüter für einen Markt transportieren, der für die weißen Einwohner der City von Marseille unsichtbar bleibt. Eine große Anzahl von MigrantInnen haben ihre eigenen Mittel zur Existenzsicherung entwickelt - eine »parallele Welt« bzw. genauer: ein paralleler Markt. Eines der zentralen Charakteristika ist dabei die Unsichtbarkeit. Es sind sicherlich nicht diese MigrantInnen, die das vorherrschende ökonomische und politische System in Europa in Frage stellen werden.

Hier stehen wir nun, voller Widersprüche und Zweifel, aber dennoch willens zu handeln. In den nächsten paar Monaten werden wir uns in der Kampagne zur Unterstützung der SOC engagieren - wie wir hoffen, gemeinsam mit vielen anderen Organisationen. Doch unsere Fragen werden bleiben.

Aus dem Englischen: Dagmar Fink, Kirsten Huckenbeck

email: forumcivique.europe@wanadoo.fr; Nicholas Bell: nicholas.bell@gmx.net

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 2/05


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