Home > Diskussion > Wipo > Finanzen > international > Finanzmarktkrise 2008 international > gindin
Updated: 18.12.2012 15:51
Aktuelle Meldungen im neuen LabourNet Germany

Transformation der Macht

Sam Gindin* über notwendige Konsequenzen aus der Krise

Während des letzten Vierteljahrhunderts ist die Linke im größten Teil der entwickelten Welt als gesellschaftliche Kraft weitgehend marginalisiert worden. Die ›Kultur der Möglichkeiten‹ für linke Alternativen hat sich entsprechend verengt. Nun eröffnen historische Veränderungen, vor allem die Delegitimierung des Neoliberalismus, die Chance, dieses vormalige Scheitern doch noch umzukehren. Angesichts der anhaltenden Unruhe an den Finanzmärkten und der Tatsache, dass die globale Ökonomie am Beginn des stärksten Abschwungs seit der Großen Depression der 1930er Jahre steht, ist klar genug geworden, dass Alternativen verzweifelt nötig sind. Die Frage lautet nun: Können wir die Handlungsfähigkeit (capacity) entwickeln, wieder ein relevanter gesellschaftlicher Akteur zu werden?

Bis jetzt war die Öffnung für die Linke vor allem polemischer Natur. Natürlich stimmt es, dass Politiker – kanadische ebenso wie US-amerikanische – in den letzten Wahlen immer noch auf Steuersenkungen bestanden haben und sich vor einer signifikanten Umverteilung von Einkommen oder gar Reichtum und Macht scheuen. In den USA kann man darüber hinaus jede noch so bescheidene Kritik an der Außenpolitik nur äußern, wenn man sich gleichzeitig zum Patriotismus bekennt. Aber die neoliberale Ideologie ist ins Straucheln geraten, die Delegitimierung freierer Märkte als Rezept für alles hat die politische Rechte im Bezug auf ökonomische Fragen bereits mehr in die Defensive gedrängt, als das zuletzt eine Generation lang der Fall gewesen ist. Sie kommt jetzt nicht mehr damit davon, nach der Befreiung der Konzerne und Finanzinstitutionen von jeglicher Regulierung zu rufen, um ›die Kreativität der Märkte freizusetzen‹ oder staatliches Eingreifen zu Gunsten sozialer Bedürfnisse in Bausch und Bogen abzulehnen.

Darüber hinaus werden die Intensität und der globale Charakter des Abschwungs dem Staat kaum eine andere Wahl lassen, als massive Staatsausgaben zu tätigen. Erwerbstätige Familien, die im Moment eine beängstigende Erosion ihrer Ersparnisse, ihrer Pensionen und Eigenheime erleben, haben bereits begonnen, zu Gunsten einer gewissen Absicherung ihre Konsumausgaben zu reduzieren. Private Investoren, die das geschäftliche Umfeld negativ beurteilen und mit Vorsicht und Unsicherheit in die Zukunft blicken, investieren nicht. Weder private Anreize, noch freiere Märkte, noch leicht erhältliche Kredite, noch das Versprechen steigender Exporte werden den Meldungen über Firmenpleiten und steigende Arbeitslosenzahlen in naher Zukunft ein Ende bereiten. Staatliche Investitionen sind die einzige Chance, der Ökonomie wieder auf die Beine zu helfen.

All dem muss Rechnung getragen werden. Vielleicht markiert es sogar das Ende einer Ära. Dennoch müssen wir realistisch bleiben, wenn wir uns fragen, wie weit uns die Krise und ihre Konsequenzen bringen werden. Denn auch wenn die Rhetorik und einige der Praktiken des Neoliberalismus sich ändern, bleibt ein Großteil von dem was zählt, nämlich Strukturen, Macht und Logik der neoliberalen Periode, fest verankert.

Globalisierung und Freihandel werden sich nicht in Luft auflösen. Das letzte G-20-Treffen hat wenig erreicht, aber es hat die Verpflichtung der teilnehmenden Staaten auf die Vermeidung von Protektionismus demonstrativ bekräftigt. Der Versuch, einen totalen Zusammenbruch zu vermeiden, wird dem Finanzwesen sicherlich einen neuen institutionellen Look verpassen. Die neuen Regulationen werden jedoch dazu dienen, einer kleiner gewordenen Anzahl größer gewordener Privatbanken national und international wieder auf die Beine zu helfen und sie zu stärken.

Der verschärfte Wettbewerb und die Restrukturierung haben zwar Arbeitsplätze vernichtet und das Vertrauen der Beschäftigten untergraben – aber auch sie werden sich nicht in Luft auflösen. Der Druck auf die Beschäftigten der Autoindustrie wird zum Beispiel größer werden, die Verordnung von Strukturanpassungsmaßnahmen für die ›Dritte Welt‹ wird vielleicht etwas mehr kritisiert werden, aber dennoch weiter dominieren. Und auch wenn die Krise der Subprime-Kredite [1] vielleicht einigen Eigenheimbesitzern für den Moment die Zwangsversteigerung erspart hat, bleiben die Wurzeln des Problems bestehen: Jahrzehnte der Lohndrückerei und Armutsproduktion sowie die Weigerung, Wohnen eher als ein Recht denn als eine Ware zu betrachten.

Was die USA betrifft, so hat diese sicherlich einiges von ihrem Glanz verloren. Aber das bedeutet noch lange nicht das Ende des Amerikanischen Empire oder den Verlust seiner Führungsrolle: Kein anderer Staat kann (oder will) die USA ersetzen, die Krise hat die Abhängigkeit der Welt vom US-Finanzsystem erneut bestätigt, und die Bewältigung dieser nun internationalen Krise hängt fundamental davon ab, wie die USA als Vorreiter einer mehr oder weniger koordinierten Antwort agieren.

Nachdenken über Alternativen

Wenn wir uns darüber klar werden wollen, was zu tun ist, sollten wir uns zunächst bewusst machen, wie begrenzt unsere Kapazitäten zur Zeit sind. Wir können im Hinblick auf einige Details der Krise etwas bewegen, aber wir können bei der Lösung der Finanzkrise keine große Rolle spielen; unser Fokus muss auf etwas anderes gerichtet sein. Abstrakte Aufrufe zur »Re-Regulierung« auf der Basis der Annahme, dass Staaten und Märkte im Widerspruch zueinander stehen, würden diejenigen, die wir mobilisieren wollen, nur noch mehr verwirren anstatt sie zu politisieren.

Die aktuellen staatlichen Interventionen haben es gezeigt: Wenn man die Balance zwischen den gesellschaftlichen Kräften als gegebenen annimmt, sucht Regulierung zunächst nur einen technischen Weg, Märkte vor den Folgen ihrer eigenen Volatilität zu schützen. Dann geht es ihr aber nicht darum, Machtverhältnisse in der Gesellschaft fundamental neu zu ordnen, damit sie auf gesellschaftliche Bedürfnisse reagieren. Auch wo die Regierung das Scheitern einzelner Kapitalisten hat geschehen lassen, haben staatliche Interventionen stets auf Rekonstitution und damit Machterhalt der Finanzkapitalisten als Klasse abgezielt.

Entsprechend missversteht man, wenn man die Antwort in einer breiteren Rückkehr zu den guten alten vor-neoliberalen Tagen sucht, die Verbindung zwischen damals und jetzt. Der Neoliberalismus war eine Antwort auf die fehlende Nachhaltigkeit der vorangegangenen Periode. Die Krise der 1970er Jahre wurzelte im Druck der Arbeiterklasse auf die Unternehmensprofite, was die Konzerne dazu veranlasste, Investitionen zu reduzieren und mit Kapitalverlagerung ins Ausland zu drohen. Damals sahen einige Gruppierungen der Linken bereits voraus, dass die Optionen polarisiert waren: Wenn Banken und Unternehmen nicht stärker kontrolliert und Planung nicht demokratisiert würden, dann würden die Arbeiter zermalmt werden, um Macht und Profite der Unternehmen wiederherzustellen – wie es dann auch geschehen ist. Eine Rückkehr zur vorangegangenen Epoche würde daher lediglich die Rückkehr zu diesem Konflikt und der ihm zugrunde liegenden Frage bedeuten: ob die Macht der Unternehmen von Neuem bestätigt wird, um die Krise in den Griff zu bekommen, oder ob sich eine demokratische Alternative durchsetzen kann.

Ein weiterer Faktor muss beim Nachdenken über Alternativen beachtet werden: das Ausmaß, in dem die Arbeiterklasse in die Finanzmärkte integriert worden ist. Aufgrund der niedrig gehaltenen Löhne der 1970er Jahre wurden Kredite für die Arbeiter mehr und mehr zum einzigen Weg, Konsum zu ermöglichen. Außerdem sahen sie sich auf dem wachsenden Aktienmarkt um, um ihre Renten aufzustocken; und diejenigen, die Eigenheime hatten, freuten sich über steigende Immobilienpreise, denn der Vermögenszuwachs reduzierte die Notwendigkeit zu sparen und erlaubte so mehr Konsum. Was die Klassenbildung angeht, fragmentierte dies die Arbeiterklasse noch weiter: Während der Kampf um Löhne und staatliche Leistungen auf Klassensolidarität beruhte und diese konstituierte, führte die Fixierung auf Kredite (und niedrigere Steuern) zu dem Zweck, den privaten Wohlstand zu halten, zu einem Absterben kollektiver Handlungsfähigkeit. Die aktuelle Krise hat die Folgen dieser Beziehung zu den Finanzmärkten nur allzu deutlich gemacht: Anstatt Volkszorn über das Hilfspaket für die Wall Street dominierte allgemein, wenn auch widerstrebend, das Verständnis für die Notwendigkeit solcher staatlichen Hilfen, um das ›System zu retten‹, von dem sie abhängig geworden waren.

Ebenso zentral für die Unterminierung der Arbeiterklasse als einer oppositionellen Kraft ist die Schichtung, die sich im Laufe der letzten drei Jahrzehnte innerhalb der Arbeiterklasse entwickelt hat. Diese interne Ungleichheit hat wechselseitige Ablehnungen und Spaltungen verursacht: zwischen denjenigen, denen es relativ gut zu gehen schien, und den Marginalisierten. Die ersteren konnten leichter isoliert werden, wenn die Unternehmen Konzessionen verlangten, denn ihnen würde es trotz Konzessionen noch besser gehen als den meisten anderen Arbeitern; die Letzteren wurden oft beschuldigt, an steigenden Steuern schuld zu sein, die hart Arbeitende bezahlen mussten, um nicht so hart Arbeitende zu unterstützen.

Die strategische Frage, die sich uns jetzt stellt, könnte folgendermaßen formuliert werden: Alle Alternativen müssen bei den Bedürfnissen der Leute ansetzen, aber können wir unsere Antworten auch so strukturieren, dass sie die Fähigkeit der Arbeiterklasse stärken, unabhängig von der Logik des Kapitalismus zu handeln und die Macht des Kapitals zugleich wenigstens zu einem gewissen Grad zu begrenzen? Auch wenn wir annehmen, dass sich die Verhältnisse wieder stabilisieren, wird es immer noch eine große Rezession und eine Periode langsameren Wachstums geben, wenn das Nachspiel der Finanzkrise sich entfaltet. In diesem Zusammenhang werden zwei Fragen an vorderster Front der Politik auftauchen: Wer wird für das Nachspiel der Krise bezahlen, und welche Form werden die Lösungen zur Wiederbelebung der Ökonomie (nicht nur des Finanzwesens) annehmen?

Unmittelbare Forderungen

Angesichts der Auswirkungen der Immobilienkrise auf so viele Amerikaner und der massiven Delegitimierung des Finanzsektors ist es recht erstaunlich, wie wenig direkten Widerstand es gegeben hat. Keine Demonstrationen, keine kommunalen Übernahmen der an die Banken gefallenen Eigenheime, kein massenhafter Ausdruck von Frustration und Wut. Als der finanzielle Vulkan mitten im US- und kanadischen Wahlkampf explodierte, hätte man erwarten können, dass der Wahlprozess zum Katalysator für breite Diskussionen von dramatischen Alternativen wird, aber auch diesbezüglich blieb es bemerkenswert still. In Kanada ist die historisch niedrigste Wahlbeteiligung seit hundert Jahren ein Indikator für die Malaise zwischen Volk und Politik. Dies gilt zwar nicht für die US-Wahl, aber dennoch setzten Opfer der Hypothekenkrise so viel Hoffnung in einen Obama-Sieg, dass sie eher warteten, als zu handeln. Der erste Punkt ist daher, dass jegliche spezifischen Aktionen zur Verteidigung der Eigenheime, Ersparnisse, Jobs oder Sozialprogramme der arbeitenden Bevölkerung aktiv ermutigt und unterstützt werden sollten.

Aber was ist mit den allgemeineren Forderungen, die wir in diesem potenziell radikalisierenden Moment erheben könnten? Drei solche Forderungen, die von der US-amerikanischen Linken in der Periode vor dem Hilfsprogramm erhoben wurden, scheinen sowohl den Sorgen der Bevölkerung Rechnung zu tragen, als auch größere strategische Potenziale zu bergen: allgemeine Krankenversicherung (in Kanada momentan in Erosion befindlich, aber immer noch mit großer Legitimation), die Entwicklung des öffentlichen Rentensystems und der Aufbau einer öffentlichen Infrastruktur.

Jede dieser Forderungen reduziert die Abhängigkeit der Arbeiterklasse von den Märkten und vom Privatsektor. In den USA würde eine allgemeine Krankenversicherung bedeuten, dass man mit dem Job nicht gleich auch die Krankenversicherung verliert und entsprechend weniger unter Druck steht, ›seine‹ Firma zu stärken – und sei es durch Konzessionen. Staatliche Renten bedeuten weniger Abhängigkeit von den Erträgen, die Rentenfonds aus Wachstum auf dem Aktienmarkt beziehen, und Absicherung gegen die wachsende Tendenz der Unternehmen, gewerkschaftliche Rentenpläne zu schlucken. Öffentliche Infrastruktur, speziell wo sie eine Berücksichtigung der ökologischen Krise einschließt, schafft Arbeitsplätze und ermöglicht eine Verschiebung: weg von der Abhängigkeit von Marktanreizen, hin zu dem Versuch, das Richtige zu tun, und es direkt zu tun.

Darüber hinaus reduziert jede der obigen Forderungen die privatwirtschaftliche Kontrolle über unser Leben – sei es durch Krankenversicherungsunternehmen, Manager von institutionellen Fonds oder Unternehmen, von denen man andererseits erwartet, ökonomische Anreize durch weitere Steuereinschnitte und ein günstiges ›Klima‹ zu erhöhen (was im allgemeinen bedeutet: weniger günstig für die Rechte der Bevölkerung). Am wichtigsten jedoch ist, dass diese Forderungen wegen ihrer Orientierung an universellen Rechten und kollektiven Bedürfnissen dazu tendieren, Spaltungen innerhalb der Arbeiterklasse zu überwinden und zum Aufbau von Klassengeschlossenheit und Solidarität beizutragen.

Eine vierte Forderung nach öffentlichem Wohnungsbau spricht eine weitere zentrale Dimension universeller Rechte an und kommt auf den Punkt des Widerspruchs, der die Finanzkrise ausgelöst hat: Eine Politik, die die Menschen in Armut gehalten hat, hat ihre Fähigkeit begrenzt, ihre Hypotheken zu bedienen, was nur eine gewisse Zeit lang verborgen bleiben konnte. Die Antwort hierauf ist nicht nur eine Abkehr von marktförmigen Lösungen für die Armen, sondern die Demonstration der breiteren Potenziale einer öffentlichen Vorhaltung von Dienstleistungen: Können wir uns ein Wohnungswesen vorstellen, welches nicht nur innovativ und bezahlbar ist, sondern auch ein neues Verständnis der Kommune (community) und ihrer Beziehung zur umgebenden Stadt einschließt? – ein Wohnungswesen, das für die Potenziale öffentlicher Intervention beispielhaft ist?

Hinsichtlich der stets gestellten Frage nach der Finanzierbarkeit ist die Forderung: »Lasst die Reichen bezahlen!«, immer noch der beste Ansatzpunkt, umso mehr in Anbetracht der Vermögen, die auf dem Weg in die aktuelle Krise gemacht wurden. Die Diskussion wird gerne auf Einkommenssteuern verengt, aber es sollte auch um Vermögen gehen, denn vor allem der Reichtum ist monströs verteilt in Kanada und (noch mehr) den USA. Es reicht aber nicht aus, die Reichen in den Blick zu nehmen. Wenn sie wirksam sein wollen, müssen Steuererhöhungen auf die Arbeiterklasse ausgedehnt werden, und das bedeutet den Kampf gegen populistische Anti-Steuer-Reflexe, die einen spezifischen Individualismus verstärken, welcher die Klassensolidarität und jegliche Vision von kollektiven Bedürfnissen beschädigt. (Er unterminiert auch ein grundlegendes Eigeninteresse, da Steuersenkungen im allgemeinen so verkauft werden, dass man den Arbeitern ein paar hundert Dollar überlässt, während der Löwenanteil in die Taschen der Reichen wandert und die Einschnitte, mit denen all das bezahlt wird, massiv zu Lasten der Arbeiterklasse gehen.)

Umverteilung allein wird die Krise aber auch nicht lösen: Ersparnisse müssen mobilisiert werden, um die großen Infrastruktur-Programme zu unterstützen. Dies kann über Staatsanleihen geschehen, wie sie bspw. aufgelegt wurden, um die Ausgaben für den Zweiten Weltkrieg zu bezahlen. Momentan, da in der Geschäftswelt Furcht und Unsicherheit vorherrschen und Investitionen verhindern, sind es tatsächlich vor allem Staatsanleihen, die dem Geld eine sichere Anlage bieten können.

Widersprüche

Weil aber all solche Reformversuche immer noch in einer kapitalistischen Gesellschaft stattfinden würden, würden sie an unvermeidliche Grenzen stoßen. Eine Zunahme von sozialstaatlichen Programmen basiert auf Wirtschaftswachstum, aber letzteres hängt am privaten Sektor: Wie kann man also das private Kapital gleichzeitig angreifen und erhalten? Würden sie nicht, wenn sie nicht zufrieden sind, Investitionen verweigern oder dem Land auf der Suche nach höheren Profiten und größeren Freiheiten den Rücken kehren? Neben der Frage, warum die Menschen überhaupt in die Armutsfalle geraten sind, müsste ein innovatives Wohnungswesen sich außerdem damit beschäftigen, die städtischen Räume neu zu überdenken, von denen das Wohnungswesen ein Teil ist (inklusive der Verfügbarkeit eines Nahverkehrs vor allem für Wohngebiete außerhalb der Stadtzentren).

Sozialdemokraten haben sich durch diese Widersprüche veranlasst gesehen, sich auf bescheidenere Forderungen zurückzuziehen. Damit sind sie gescheitert. Die Lektion daraus lautet, dass wir unsere Erwartungen nicht zurückschrauben, sondern größer denken und weiter gehen sollten. Wenn Demokratie nicht einfach eine Regierungsform, sondern eine Gesellschaftsform sein soll, muss die Ökonomie, die für die Gestaltung unserer Lebensverhältnisse so fundamental ist, schließlich auch demokratisiert werden. Dies wird die Verstaatlichung der Banken einschließen müssen. Sie müssen eine demokratisch geführte öffentliche Einrichtung werden, die den Rest des Finanzsystems überwacht und nationale Ersparnisse anlegt. Wenn einheimisches oder ausländisches Kapital mit Verlagerung droht (wie es eher früher als später zu erwarten ist), müssen wir bereit sein, die Kontrolle des Kapitals auf die Tagesordnung zu setzen. Wenn wir die Ersparnisse der Gesellschaft so kanalisieren wollen, dass sie gesellschaftliche Bedürfnisse erfüllen – und das ist natürlich die zentrale Motivation für die Kontrolle des gesellschaftlichen Mehrwerts –, dann müssen sich die Kontrollen mit einheimischen wie mit internationalen Kapitalflüssen befassen.

Damit kommt letztlich die Frage nach Planung auf. Wenn wir bspw. die ökologische Krise ernst nehmen, reichen einige Umweltprojekte beim Wiederaufbau der öffentlichen Infrastruktur nicht aus. Umweltorientierung erfordert eine komplette Transformation dessen, was wir produzieren, und wie wir es produzieren. Sie kann nicht durch willkürliche Marktentscheidungen einzelner Unternehmen erreicht werden, die ausschließlich an Profiten interessiert sind und nicht handeln werden, bevor sie wissen, was die anderen machen. Die Krise in der Autoindustrie bestätigt das. Staatliche Hilfen allein setzen der Existenz von Überkapazitäten kein Ende, auch wenn sie dafür sorgen, dass andere Modelle gebaut werden. Warum kann man Produktionsstätten, anstatt sie zu schließen, nicht umstellen auf die neuen oder veränderten Produkte, die eine umweltbewusste Ökonomie benötigen wird? Angesichts der Tatsache, dass die Autoindustrie im Allgemeinen auf bestimmte Kommunen konzentriert ist, geht es außerdem nicht so sehr um eine Autokrise wie um eine Krise in den betroffenen Kommunen. Im kanadischen Windsor bspw., wo schon vor der letzten Krise Tausende Autoarbeiter entlassen wurden, ist ein Wiederaufbauplan vonnöten, der die Autoindustrie einschließt, aber ebenso eine öffentliche Infrastruktur und ein Spektrum sozialer Dienstleistungen, die dem Begriff »Kommune« (community) wieder eine umfassendere Bedeutung geben.

Solche Planungsthemen werfen alle möglichen technischen und demokratischen Fragen auf, die nicht unterschätzt werden sollten. Am wichtigsten aber ist, dass sie uns dazu zwingen, uns mit der Frage der Macht auseinanderzusetzen. Wenn wir über sozialen Wandel nachdenken wollen, müssen wir die Handlungsfähigkeit entwickeln, die Machtverteilung in unserer Gesellschaft zu transformieren.

In diesem Zusammenhang der Entwicklung individueller und kollektiver Handlungsfähigkeit muss auch die Frage der Arbeitszeit wieder aufgeworfen werden, die von der Liste der Forderungen der Arbeiterklasse verschwunden war. Die Arbeiterbewegung hat lange für eine Reduzierung der Arbeitszeit gekämpft, um so die besseren Vollzeitstellen teilen und damit neue Stellen schaffen oder zumindest die alten erhalten zu können. Das kann in bestimmten Branchen sehr wichtig sein und ist darüber hinaus ein wertvolles solidarisches Prinzip. Die größte Bedeutung der Forderung nach Arbeitszeitverkürzung liegt allerdings in einer weiteren Perspektive der Arbeiterklasse begründet, die auf die frühesten Tage der Gewerkschaftsbewegung zurückgeht: die Anerkennung der Tatsache, dass volle bürgerschaftliche und politische Teilhabe Zeit erfordert, um sie auszuüben – Zeit zum Lesen, Denken, Lernen, zum Besuch von Zusammenkünften und Veranstaltungen, Debattieren, zum Ausarbeiten von Strategien und zur Organisierung anderer.

Von alternativen politischen Strategien zu einer alternativen Politik

Drei Punkte möchte ich abschließend betonen.

Erstens: Der Dreiklang von unmittelbarem Widerstand, der Entwicklung von politischen Strategien für eine Mobilisierung im ganzen Land sowie der Thematisierung ›großer‹ Fragen wie der Verstaatlichung der Banken sollte nicht als Aufeinanderfolge von Aktivitäten verstanden werden. Es geht nicht darum, erst einen Schritt zu machen und dann einen weiteren, radikaleren, sondern darum, Wege zu finden, alle drei gleichzeitig einzubeziehen. Lokaler Widerstand zum Beispiel gehört zu allen Phasen; sein Erfolg ist Folge wie Vorbedingung einer Mobilisierung zu größeren nationalen Themen. Ähnlich wäre es ein Fehler, den Aufruf zur Transformation des privaten Bankensystems in eine demokratisch geführte staatliche Einrichtung so lange zu verschieben, »bis wir soweit sind«. An diesen Punkt werden wir nämlich nur dann kommen, wenn wir das von Anfang an mit auf die Tagesordnung setzen und in andere Forderungen und Kämpfe integrieren.

Zweitens: Der größte Widerspruch, mit dem sich ›die Bewegung‹ heute konfrontiert sieht, liegt im Auseinanderklaffen von guten Ideen und der Fähigkeit, sie in die Tat umzusetzen. Das größte Hindernis ist nicht so sehr die Abwesenheit von alternativen politischen Strategien (policies) – obwohl auch da noch eine Menge zu ergänzen ist – wie die Schwäche unserer alternativen Politik (politics). Dabei geht es nicht einfach darum, unsere unterschiedlichen Stärken zu bündeln. Vielmehr bedeutet es, sich angesichts von Erfahrungen des Scheiterns, einer gefahrvollen Zukunft und potenzieller Neuöffnungen im Klaren zu sein, dass jeder Teil der Bewegung neu darüber nachdenken muss, was er tut und wie er es tut, wenn wir in einer ganz neuen Weise zusammenkommen wollen.

Drittens: Eine alternative Politik, die es mit den aktuellen Herausforderungen aufnehmen kann, ist nur schwer vorstellbar ohne eine konsequente Organisierung, welche sich darauf konzentriert, die benötigten Beziehungen und politische Handlungsfähigkeit zu entwickeln – und zwar sowohl die einzelnen Gruppierungen der Bewegung übergreifend, als auch innerhalb dieser Gruppierungen. Es sollten z.B. jede Woche Hunderte, wenn nicht gar Tausende von Treffen im ganzen Land stattfinden, um zu diskutieren, was für uns momentan die zentralen Herausforderungen sind und wie wir uns ihnen stellen können. Das wird nicht einfach spontan passieren. Bei der Frage nach ‚Alternativen’ geht es letztlich darum, wie wir diese Handlungsfähigkeit entwickeln.

Sam Gindin lehrt Politische Ökonomie an der kanadischen York University.
Der Artikel ist unter dem Titel: »The Financial Crisis: Notes on Alternatives.« erschienen in: The Bullet, A Socialist Project e-bulletin, Nr. 156, 24. November 2008

Übersetzung: Anne Scheidhauer

Erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 12/08


(1) So werden Billigkredite für Leute mit niedrigen Einkommen bezeichnet.


Home | Impressum | Über uns | Kontakt | Fördermitgliedschaft | Newsletter | Volltextsuche
Branchennachrichten | Diskussion | Internationales | Solidarität gefragt!
Termine und Veranstaltungen | Kriege | Galerie | Kooperationspartner
AK Internationalismus IG Metall Berlin | express | Initiative zur Vernetzung der Gewerkschaftslinken
zum Seitenanfang