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Updated: 18.12.2012 15:51 |
"Nach kurzer Euphorie um den Gründungsgewerkschaftstag ist ver.di in der ernüchternden Realität der bundesweiten Gewerkschaften angekommen" Referat von Bernd Riexinger zur bundesweiten Tagung in Bielefeld am 27. März 2004 Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, nach kurzer Euphorie um den Gründungsgewerkschaftstag ist ver.di in der ernüchternden Realität der bundesweiten Gewerkschaften angekommen. Viele Illusionen, dass mit der ver.di-Bildung die gewerkschaftliche Krise beendet ist, sind geplatzt. ver.di verliert nach wie vor Mitglieder. In 2003 lagen die Mitgliederverluste sogar über dem Durchschnitt der DGB-Gewerkschaften. Nach einer kurzen Phase großspurigen Geldausgebens stehen wir derzeit inmitten einer größeren Finanzkrise, verbunden mit Personalabbau. Diese inneren Prozesse, die nach wie vor von heftigen Auseinandersetzungen um die Struktur begleitet werden, beschäftigten manche Gremien mehr als die dringend notwendige politische Auseinandersetzung. Im Vorfeld des ver.di-Zusammenschlusses wurde es versäumt, die erforderliche politische Klärung über die Ausrichtung, Ziele und Aktionsformen der neuen Gewerkschaft herbei zu führen. Die Analyse, dass es sich bei der Krise der Gewerkschaften in erster Linie um eine politische Krise handelt, deshalb die politische Klärung dem organisatorischen Zusammenschluss vorausgehen müsste, hat sich als richtig herausgestellt. Da die ver-di-Bildung unumkehrbar ist und es dazu auch keine Alternative mehr gibt, muss dieser politische Klärungsprozess dringend nachgeholt werden. Die aktuellen Auseinandersetzungen um die Sozialpolitik wie auch der Perspektiven-Kongress im Mai bietet der ver.di-Linken wichtige Gelegenheiten, diesen Prozess zu beeinflussen. Im politischen Gefüge der DGB-Gewerkschaften ist ver.di mit Sicherheit nach links gerückt. Unser Vorsitzender Frank Bsirske pflegt eine fortschrittliche Rhetorik. Im Kampf gegen Sozialabbau hat ver.di von allen Gewerkschaften die deutlichste Position, und im Gegensatz zum DGB und anderen ruft ver.di zur Gründung regionaler Bündnisse auf, ohne sich vorher in Abgrenzungspositionen zu begeben. Doch machen wir uns nichts vor. Die fortschrittliche Rhetorik ist häufig gepaart mit einer deutlichen Mobilisierungsschwäche wie zum Beispiel bei der Gesundheitsreform oder auch bei den Aktionen gegen die Einschränkung der Tarifautonomie. Sie geht gleichzeitig schwanger mit einem weitgehend pragmatischen Verhalten in der Betriebs- und Tarifpolitik. Während wir auf der Metaebene vertreten, dass Verzicht keine neuen Arbeitsplätze schafft und die wirtschaftliche Krise nur noch mehr verschärft, organisieren wir in der praktischen Betriebs- und Tarifpolitik permanente Kompensationsgeschäfte, die genau das beinhalten. Der 48-Stunden-Tarifvertrag bei der Post, die Errichtung einer eigenen Leiharbeitsfirma Vivento bei der Telekom, der Tarifvertrag über leistungsorientierte Vergütung bei den Banken, der Tarifabschluss im öffentlichen Dienst in Berlin, zahlreiche Absenkungstarifverträge auf Betriebs- oder regionaler Ebene sind nur einige Beispiele dafür. Ob uns die Mitglieder glauben, dass sich Verzicht nicht lohnt, wenn wir ihn permanent organisieren, ist doch mehr als zweifelhaft und letzten Endes Teil unserer Schwäche. Die bedeutendste Herausforderung auf der tarifpolitischen Ebene, nämlich die Modernisierung der Öffentlichen-Dienst-Tarifverträge kommt noch auf uns zu. Diese Widersprüchlichkeit der ver.di-Politik zwischen fortschrittlicher Rhetorik und vielfach pragmatischer Anpassung, die sich auch in der Person unseres Vorsitzenden widerspiegelt, macht einen Teil der Krise von ver.di aus. Tiefe der Kapitaloffensive weitgehend nicht begriffen. Es wäre zu einfach, die Ursache dafür in der Führung oder den inneren Strukturen von ver.di zu suchen. Über 40 Jahre sozialpartnerschaftliche Politik und über 50 Jahre Kooperationspolitik haben tiefe Spuren im Bewusstsein der Betriebs- und Personalräte sowie unserer gewerkschaftlichen Funktionäre auf allen Ebenen hinterlassen. Mein Eindruck ist, dass das daraus resultierende Politikverständnis und die Lebenspraxis in weiten Teilen der Organisation weiter wirken, obwohl das Kapital und die politische Elite Kooperation und Sozialpartnerschaft schon seit über 15 Jahren aufgekündigt haben. Nachweislich bringt uns dieses Politikmodell immer mehr in die Defensive und erhöht die organisatorische Schwäche. Trotzdem haben viele, vielleicht sogar die Mehrheit, immer noch die Hoffnung etwas unterhalb dem bisherigen Niveau könnte man einen sozialen Kompromiss erzielen. Die geübte Praxis wird fortgesetzt, nicht mehr in der Erwartung, etwas zu verbessern, sondern um das Schlimmste zu verhüten. Zentrale Ursache dafür ist, dass die Tiefe der Kapitaloffensive in weiten Teilen unserer Organisation nicht bzw. nicht in vollem Umfang begriffen wurde und wird. Wir haben uns nicht auf etwas Sozialabbau oder auf ein etwas niedrigeres Tarifniveau einzustellen, danach wird es wieder weitergehen wie seither, nein, wir haben es mit einem tiefgreifenden und langanhaltenden Angriff auf die gesamten Grundlagen der sozialen Regulierung zu tun. Dies beinhaltet nicht nur den massiven Abbau und Umbau unserer Sozialsysteme, sondern auch den Angriff auf die Tarifverträge, die Rechte der Betriebs- und Personalräte und Beschäftigten überhaupt. Die kapitalistische Formation des Shareholder-Kapitalismus will alle Lebensbereiche, Markt und Wettbewerb und damit der Profitmaximierung unterordnen. Das bedeutet weitgehende Privatisierung und Ausgliederung der öffentlichen Daseinsvorsorge, Wasser, Gesundheitsversorgung, Bildung, öffentlicher Personennahverkehr und vieles andere mehr. Das beinhaltet die weitgehende Zerstörung der sozialen Regulierungen von Tarifverträgen und demokratischen Rechten und die Unterordnung der Ware Arbeitskraft unter nackte Marktbedingungen. Die Herausbildung eines umfassenden Niedriglohnsektors ist nur ein Bestandteil dieser Politik. Das bedeutet auch die völlige Anpassung der Regierungspolitik an die Bedingungen des flexiblen und deregulierten globalen Kapitalismus. Die rot-grüne Regierung hat entschieden, dass es für sie keine Alternative zu dieser Anpassung gibt und betreibt sie in voller Konsequenz. Die SPD nimmt dafür sogar in Kauf, dass ihr nicht nur die Mitglieder, sondern auch die Wähler massenhaft davonlaufen. Die gesamte ver.di muss begreifen, dass wir uns auf dauerhafte Gegenwehr gegen die beschriebene Kapitaloffensive einstellen müssen. Das bedeutet nicht nur dauerhafte und ständige Mobilisierung, sondern auch Repolitisierung der gewerkschaftlichen Arbeit in den Betrieben und Dienststellen, die in der Vergangenheit nicht selten zu politikfreien Zonen erklärt wurden. Es mag zwar etwas altmodisch klingen, aber die Rückkehr des Kapitals zum offenen Klassenkampf erfordert die Herausbildung von Klassenbewusstsein bei den Beschäftigten. Die jetzt begonnene Bündnisarbeit mit anderen gesellschaftlichen Gruppen und sozialen "Bewegungen" muss über den 3. April hinaus fortgesetzt werden und in die Gesellschaft hinein wirken. Permanente Aufklärungsarbeit im besten Sinn des Wortes erfordert die Rückeroberung des öffentlichen und für Gewerkschafter auch des betriebsöffentlichen Raumes. Gegenaufklärung über die Medien ist in Zeiten der Vorherrschaft von großen Medienkonzernen eine Illusion. Der 3. April ist sicherlich ein entscheidendes Datum. Aber genau so entscheidend ist, dass wir über den 3. April hinaus Vorschläge und Ansatzpunkte haben, wie es weitergeht. Meine Vorstellungen, die noch unausgegoren sind, gehen dabei in drei Richtungen:
Dabei dürfen unsere Positionen bei linkskeynsianischer Nachfragestärkung nicht stehen bleiben. Die Widersprüche im Kapitalismus sind heute so groß, dass sie auch durch antizyklische Wirtschaftspolitik nicht mehr geglättet werden können, so sehr diese auch ein Fortschritt gegenüber der neoliberalen Politik wäre. Reine Wachstumskonzepte sind angesichts der ökologischen Folgen ohnehin mehr als fragwürdig. Durchschlagskraft wird ein Alternativprogramm nur entwickeln, wenn es auch Ansätze von grundlegender Kritik an der kapitalistischen Produktions- und Lebensweise enthält, dessen Destruktivkräfte grundlegend in Frage stellt und das Fetisch von Markt- Wettbewerb und Profitmaximierung entzaubert. Es dürfte eine wichtige theoretische Aufgabe der Linken sein, die grundlegende Kritik am Kapitalismus auf die Höhe der Zeit zu bringen. Schleichender Glaubwürdigkeitsverlust in der Tarifpolitik Die Tarifpolitik ist das Herz von ver.di. Kommt die Blutzufuhr ins Stocken oder gelangen immer mehr weiße Blutkörperchen hinein, droht der Kollaps des ganzen Organismus. Hier haben wir das meiste zu verlieren und hier steht unsere Glaubwürdigkeit permanent auf dem Spiel. Ich gehöre nicht zu denen, die bei jedem Tarifergebnis behaupten, es wäre mehr dring gewesen oder die Führung hätte mal wieder die Mobilisierung nicht ausgereizt. Tarifergebnisse haben etwas mit den Kräfteverhältnissen zu tun und es gibt häufig Situationen, wo die Mobilisierung sich erschöpft hat und Kompromisse geschlossen werden müssen. Ich habe das bei Banken und im Handel oft erklärt, aber auch das Gegenteil. Trotzdem glaube ich, dass die Tarifpolitik in eine gefährlich falsche Richtung geht und geradezu verfestigt wird, dass wir aus der Defensive nicht herauskommen. Einige Beispiele für pragmatische und kompensatorische Tarifpolitik habe ich schon genannt, mehr oder weniger Praxis in allen Tarifbereichen. Derzeit stehen wir vor der zentralen tarifpolitischen Auseinandersetzung, der sog. Modernisierung des öffentlichen Tarifrechtes So etwas, wie bei der sogenannten Modernisierung des öD-Tarifrechts habe ich in fast 30 Jahren Tarifarbeit noch niemals erlebt. Man will den größten Flächentarifvertrag in Deutschland modernisieren in einer Zeit, in der den Kommunen das Wasser bis zum Hals steht und die Gegenseite völlig offen ein Rollback beabsichtigt, in der Absenkungen zwischen 15 und 30 % angestrebt werden, bis hin zum völligen Ausstieg aus dem Flächentarifvertrag. Heute haben die Länder beschlossen, die Arbeitszeittarifverträge zu kündigen und zur 40/41-Stundenwoche zurückzukehren, um die "Gerechtigkeitslücke" zu den Beamten zu schließen. Man geht in Verhandlungen und sondiert in gemeinsamen Arbeitsgruppen mit den Arbeitgebern, ohne dass unsere eigenen Positionen und Forderungen formuliert, geschweige denn in der Organisation diskutiert sind. Noch schlimmer, man gibt Positionen preis, ehe überhaupt mit den Verhandlungen begonnen wurde. Man begibt sich sehenden Auges in ein Minenfeld, aus dem man kaum ohne größere Amputation wieder herauskommen kann,wie:
Wenn auch nur ansatzweise unsere kämpfenden Gruppen im Arbeiterbereich verlieren sollten, dann gute Nacht. Nicht weniger schlimm wäre es, wenn weitgehende Besitzstandsregelungen zu Lasten derer gingen, die noch nicht in den Betrieben sind, wie es z. B. bei den Spartentarifverträgen der Verkehrsbetriebe der Fall ist. Man geht ohne Mobilisierungskonzept in Tarifverhandlungen, bei denen inzwischen klar ist, dass die Gegenseite nicht modernisieren, sondern absenken will und die meisten ehren- wie hauptamtlichen Funktionäre von vorne herein die schlimmsten Befürchtungen haben. Wobei erschwerend dazukommt, dass ein nicht unerheblicher Teil unserer Funktionäre, gerade in den weniger kampffreudigen Betrieben und in der Bundestarifkommission unausgesprochen verinnerlicht hat, dass das bisherige Niveau nicht zu halten sei und deshalb zur Rettung des Flächentarifvertrages Verschlechterungen in Kauf genommen werden müssten. Ich glaube, die Linke muss die Gefahren, die hinter dieser Prozessvereinbarung lauern, schnellstens realisieren und auf eine grundlegende Kurskorrektur drängen. Diese kann nur in zwei Richtungen gehen:
Auf dem gesamten Feld der Tarifpolitik muss die G-Linke eine Richtungsdebatte anstoßen, die u. a. folgende Fragen aufwirft:
Diese Rückeroberung muss zuerst auf der geistigen Ebene beginnen. Zum Schluss zur Tarifpolitik noch zwei Thesen und ein praktischer Vorschlag:
Privatisierung öffentlicher Daseinsvorsorge und der Sozialsysteme Im letzten Teil meines Referates gehe ich auf ein Thema ein, das weit über den öffentlichen Dienst hinaus geht und von grundlegender gesellschaftlicher Bedeutung ist: Ein zentrales Element des Shareholderkapitalismus ist es, alle Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge, insbesondere Wasserversorgung, Gesundheitsversorgung, Bildung und ÖPNV der privaten Akkumulation zuzuführen. Dabei geht es um keine Peanuts sondern um Billionen. Bei der Privatisierung der Sozialsysteme wie Rentenversicherung, Gesundheitsversorgung oder gar der Bundesanstalt für Arbeit geht es neben einigen Billionen, die ebenfalls privat akkumuliert werden sollen, um die nachhaltige Verbilligung der Ware Arbeitskraft. Das Kapital will doppelt verdienen, durch die Kapitalisierung und durch die gravierende Entlastung bei den Kosten. Es ist von grundlegender Bedeutung für die weitere gesellschaftliche Entwicklung, ob es dem Kapital und der pol. Klasse gelingt, sich diese öffentlichen Güter unter den Nagel zu reißen, sie Markt und Wettbewerb unterzuordnen oder ob es uns gelingt, dies zu verhindern. Ungeeignet für den Kampf gegen Privatisierung ist die Strategie der alten ÖTV, soweit ich damit vertraut bin, "wir müssen den ÖD wettbewerbsfähig machen, dann wird er nicht privatisiert". Heute lebt dieser Gedanke in den Projekt Lebenswert wieder auf, Motto: Wir müssen mitgestalten. Eine stabile Verteidigungslinie gegen die Vermarktung der öffentlichen Daseinsvorsorge ist nur möglich, wenn wir die Position vertreten, dass sie nicht den Gesetzmäßigkeiten von Markt und Wettbewerb unterliegen darf. Bildung, Gesundheit, ÖPNV, Erziehung, Altenpflege, soziale Fürsorge u.v.a.m dürfen nicht der Profitlogik untergeordnet werden und müssen der öffentlich, demokratischen Kontrolle unterliegen oder sie werden einen völlig anderen Charakter annehmen. Ver.di sitzt bei der Auseinandersetzung um die öffentliche Daseinsvorsorge an der wichtigen Schnittstelle zwischen Beschäftigten und betroffenen Bürger/innen und kann deshalb eine entscheidende Kraft bei der Entwicklung von Gegenwehr gegen Privatisierung und Ausgliederung sein. Dabei müsste es gelungen die Zukunft der öffentlichen Daseinsvorsorge zu einer gesellschaftlichen Frage zu machen und ein zentrales pol. Projekt zusammen mit den Globalisierungskritikern und anderen interessierten Gruppen zu starten. Von vorneherein ,müsste die europäisch/internationale Dimension (EU-Wettbewerbspolitik, GATS, usw.) einbezogen und die Beteiligung an internationalen Netzwerken, Kampagnen und Aktionen einbezogen werden. Eine wichtige Voraussetzung ist die regionale/örtliche Mobilisierung der Beschäftigten im ÖD und der betroffenen Bürger/innen. Der Aufbau von sozialen Netzwerken in den Regionen kann nicht nur hilfreich sondern für das Gelingen entscheidend sein. Schluss Der grundlegende Formationswandel des Kapitalismus zum Shareholderkapitalismus lässt keine Rückkehr zu einer kooperativen Gewerkschaftspolitik, selbst auf einem etwas niedrigeren Niveau mehr zu. Wenn ver.di nicht als bedeutungsloser Papiertiger enden will, brauchen wir eine grundlegende und nachhaltige Neuausrichtung unserer Politik. Ich hoffe, dass ich auf einigen Politikfeldern Ansätze dazu aufgezeigt habe und freue mich auf die Diskussion. |