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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Sozialtarifvertträge und lokale Arbeiterbewegungen »Das bedeutet ja nicht, daß man sich völlig widerstandslos enthaupten lassen muß.«[1] Mario Candeias/Bernd Röttger [2] [.] »Passion for print« lautet der Slogan des Traditionsunternehmens aus Heidelberg, auch in der Fabrik in Kiel gingen die Beschäftigten im Herbst noch voller Leidenschaft ihrer Arbeit nach, sie produzierten Maschinen für die Druckindustrie, durchaus mit Erfolg. Sie hatten gerade einige Restrukturierungswellen und eine Standort- und Beschäftigungssicherungsvereinbarung mit massiven Einschnitten hinnehmen müssen. Doch im März 2003 kam dann der Schock: Die Firmenleitung kündigte an, weitere 200 Millionen Euro einsparen zu wollen, die Produktion digitaler Druckmaschinen sollte in die USA verlagert werden, 770 von knapp 1.500 Beschäftigte standen vor der Arbeitslosigkeit. Verlagerungen ins Ausland, das sogenannte offshoring , stellt Arbeitnehmervertreter vor große Herausforderungen: Sollen sie nachgeben, um Arbeitsplätze zu retten? Oder sollen sie hart bleiben, aufmüpfig sein, sich wehren? Es offenbaren sich die Schwachstellen in den Institutionen der industriellen Beziehungen, die das Verhältnis von Kapital und Arbeit regeln. Dabei galt gerade das deutsche, das duale System der Interessenvertretung weltweit als vorbildlich. Es ruht auf zwei Säulen: Die Gewerkschaften handeln mit den Unternehmensverbänden Tarifverträge aus, in denen die wichtigsten Eckpunkte des Arbeitsverhältnisses geregelt werden: Löhne und Arbeitszeit. [.] Aus Sicht der Gewerkschaften hat dieses System Vor- und Nachteile: Im Rahmen von Tarifverhandlungen für alle Beschäftigten einer Branche haben sie potentiell sehr viel Macht: Wenn alle Arbeiter in der Metallindustrie gleichzeitig streiken, steht buchstäblich »alles still«, nicht nur die Maschinen in einer einzelnen Fabrik. Gleichzeitig war das Betriebsverfassungsgesetz eine Art »Gewerkschaftsverhinderungsgesetz«, sie verloren an Einfluß in den Betrieben. In Zeiten von Wirtschaftswunder und Wohlfahrtsstaat war das kein Problem, es herrschte der » heilsame Zwang zum Kompromiß« , die Arbeiter wurden in Form wachsender Einkommen an der steigenden Produktivität beteiligt. Mit den Erfolgen professionalisierte sich allerdings die Arbeit der Interessenvertreter. Unternehmer und Gewerkschaftsvertreter in grauen Anzügen handelten hinter verschlossenen Türen Verträge aus. Die Arbeiterbewegung war während der letzten 50 Jahre »eher durch Stellvertreterprinzipien geprägt, als durch basisdemokratische Ansätze«, erklärt ein Gewerkschaftsfunktionär im Interview. [.] Doch unter den Bedingungen der neuen »Landnahme« funktioniert diese Stellvertreterpolitik nicht länger. Verlagerungsdrohungen stehen die Gewerkschaften oft relativ ohnmächtig gegenüber, sie müssen sich auf Kompromisse einlassen, Zugeständnisse machen. Gewerkschaftlicher Erfolg bedeutet heute, »Schlimmeres verhindert zu haben«, doch Konzessionen lassen sich nicht dauerhaft als stolze Ergebnisse präsentieren. Man sei heute oft gezwungen, »Scheiße als Schokolade zu verkaufen«. Dieser Situation wollten sich die Beschäftigten bei Heidelberger nicht beugen, sie wollten kämpfen. Verlagerungen oder Werkschließungen werden normalerweise über Sozialpläne abgewickelt: »Der Betriebsrat tritt auf den Plan und verhandelt den Interessenausgleich« . Doch »dann sind die Gewerkschaften außen vor«, beklagt ein Gewerkschaftssekretär. In Kiel wählte man einen anderen Weg: Man setzte auf die Beschäftigten, sie sollten unmittelbar an der Auseinandersetzung beteiligt werden, der Konflikt sollte auf das Firmengelände getragen werden. Die Betriebsräte nutzten ihre Rechte aus, sie hielten während der Arbeitszeit Versammlungen ab. Als das Betriebsratsbüro aus allen Nähten platzte, verlegten sie sie in die Kantine. Man diskutierte, entwickelte gemeinsam Strategien und Forderungen. Mit den Diskussionen wurde die Basis kampfeslustig, »die Leute empfanden, daß sie endlich mal gefragt wurden«. Selbst in Bereichen, »die sonst weiße Flecken der Gewerkschaftsarbeit sind«, z. B. bei gut bezahlten Angestellten in Forschung und Entwicklung, war die Mobilisierung erfolgreich, immer mehr Leute strömten in die IG Metall. Der Organisationsgrad stieg von 28 auf 67 Prozent. Gleichzeitig machten die Betriebsräte Gebrauch von ihren Informationsrechten, die Kollegen aus dem Controlling berichteten über die wirtschaftliche Lage, von außen wurde eine Unternehmensberatung hinzugezogen, das Ergebnis war eindeutig: Die Firma arbeitete profitabel. Also entwickelte man einen Plan: Zusammen mit der Gewerkschaft wollte man eine tarifliche Auseinandersetzung führen, keine erneute Betriebsvereinbarung abschließen, die "man anscheinend in der Pfeife rauchen kann", wie die Standort- und Beschäftigungssicherungsvereinbarung, die man kurz zuvor unterzeichnet hatte. Zunächst forderte man eine drastische Verlängerung der Kündigungsfristen, um den Zeitpunkt der Schließung hinauszuzögern. Außerdem standen Qualifizierungsmaßnahmen, die Fortzahlung der Vergütung für zwei volle Jahre, sowie Abfindungen in Höhe von zwei bis drei Monatsentgelten pro Beschäftigungsjahr auf der Liste der Beschäftigten. W enn die Firma wirklich geschlossen werden sollte, wollten sie wenigstens nicht vor dem Nichts stehen. [.] Sie entschieden sich mit 99 Prozent für einen Streik, für die nächsten sechs Wochen war der Betrieb fest in ihrer Hand, » die Geschäftsleitung kam gar nicht mehr in den Betrieb, hat aber brav weiter die Löhne bezahlt«. Später bestätigte das Arbeitsgericht in Kiel die Rechtmäßigkeit des Streiks. Es mag absurd klingen, wenn Beschäftigte eine Firma, die sie angeblich nicht mehr braucht, zwingen wollen mit einem Streik eine Standortschließung oder -verlagerung zu verhindern. Doch auch in diesem Fall sind Produktionsausfälle ärgerlich: Die Firma verpaßt Termine, außerdem entsteht unnötiger Wirbel, die Medien werden aufmerksam und es drohen empfindliche Kratzer am Image. Vor allem, wenn es den Beschäftigten gelingt, für Öffentlichkeit und breite Unterstützung in der Zivilgesellschaft zu sorgen. Genau das versuchten die Leute von Heidelberger Druckmaschinen in Kiel: Sie setzen nicht länger auf graue Stellvertreterpolitik, sondern eine lebendige lokale Arbeiterbewegung in Gang. Jeden Tag versammelten sich Hunderte von Menschen vor den Werkstoren, sie kamen von anderen Betrieben und aus anderen Städten. Man knüpfte Bündnisse mit Kirchen und Kommunalpolitikern. Gemeinsam organisierte man die Demonstration »Kiel steht auf«, bei der 7.000 Menschen auf die Straße gingen. Und Kiel stand nicht nur auf - Kiel »rockte«: Im Veranstaltungszentrum »Pumpe« fand ein großes Solidaritätskonzert statt. Für Gewerkschafter und Betriebsräte war das eine großartige Erfahrung. Sie sahen, daß es sich lohnte, sich »nicht einfach so zu fügen«, auch mal »aufmüpfig« zu sein und »sich zu wehren«, erzählt eine Betriebsrätin. Am Ende konnten die Entlassungen nicht verhindert werden, der Fertigungsbereich wurde geschlossen. Doch immerhin konnten die Beschäftigten weitgehende Forderungen durchsetzen. D er Vorsitzende des Betriebsrats freut sich, daß » der Streik im Volumen des ausgehandelten Ergebnisses noch einige Millionen gebracht« hat. Vor allem aber sei der »Zusammenhalt gestärkt« worden, »die Leute haben sich nicht so ohnmächtig gefühlt, sondern konnten etwas gegen die Situation unternehmen«. Daß Beschäftigte direkt einbezogen und gefragt wurden, daß sie echte Entscheidungsmöglichkeiten hatten, war die treibende Kraft des Konflikts. Der Konflikt in Kiel war so etwas wie eine Initialzündung für eine neue »Kultur der Beteiligung«, die sich die IG Metall inzwischen auch offiziell auf die Fahnen geschrieben hat. [.] Tatsächlich gelang bei der AEG und bei Infineon der Abschluß eines Sozialtarifvertrags. Betriebliche Tarifbewegungen und Streiks für Sozialverträge, sind, das hat zuletzt das Landesarbeitsgericht in Kassel entschieden, rechtlich zulässig. Die juristische Seite ist jedoch nur das eine. Wichtiger scheinen die Überwindung der korporativen Stellvertreterpolitik und die stärkere Einbindung der Basis, der »Kampf um die Köpfe« der Beschäftigten. Hier war der Konflikt an der Ostsee stilbildend. Bei der AEG dagegen wurde das Konfliktpotential, das oft in erpreßten Belegschaften schlummert, nicht wirklich ausgeschöpft. Der Konflikt wurde von Funktionären bald wieder in die Bahnen von Konsens und Kompromiß gelenkt. Dabei legen die Auseinandersetzungen bei der AEG, bei Infineon, vor allem aber bei Heidelberger eine historische Traditionslinie der Gewerkschaftspolitik frei, die Beteiligung der Mitglieder an der Basis. [.] Das Konzept der beteiligungsorientierten Tarif- und Betriebspolitik stellt also nur die formale Hülle dar, in der sich politische Ziele erst entfalten müssen: Ohne eine Erneuerung der Konfliktbereitschaft in den Betrieben werden die Gewerkschaften jedoch nicht aus ihrer defensiven Position kommen. Allerdings müssen für eine »Politik der Beteiligung« oft erst die Voraussetzungen geschaffen werden. [.] Sie wissen, » daß die Leute in den Betrieben Angst um ihre Arbeitsplätze haben und alle möglichen Konzession machen, um ihre Arbeit zu behalten. Und da kann eine solche beteiligungsorientierte Betriebs- und Tarifpolitik natürlich nur nach hinten losgehen.« Doch ihr Kampf hatte einen anderen Hintergrund, sie »wollten die Leute organisieren und mobilisieren«, um sich gegen das erpresserische Vorgehen des Unternehmens zu wehren. Anmerkungen 1) Alle Zitate stammen aus Erhebungen im Rahmen des von der Hans-Böckler-Stiftung und der Otto-Brenner-Stiftung finanzierten Forschungsprojekts »Global mitbestimmen - lokal gestalten. Bürgerschaftliches Engagement von Betriebsräten«. 2) Es handelt sich um Auszüge eines Beitrages aus dem Buch "Und jetzt? Politik, Protest und Propaganda" (Band 2500 der edition suhrkamp), herausgegeben von Heinrich Geiselberger. Siehe die Homepage zum Buch mit weiteren Informationen, Inhaltsverzeichnis und Leseproben |