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Updated: 18.12.2012 15:51
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ver.di goes FLUPO

Tarifergebnis und Streikerfahrungen im Öffentlichen Dienst - eine Auswertung mit Bernd Riexinger und Werner Sauerborn

Kurz nach Unterzeichnung des TVÖD im September letzten Jahres kündigten die Kommunalen Arbeitgeberverbände Hamburgs, Niedersachsens und Baden-Württembergs die im neuen TVÖD vereinbarten Arbeitszeitregelungen, die für Bundesbeschäftigte einheitlich die 39-Stundenwoche und für die Beschäftigten in den Kommunen 38,5 Stunden (West) bzw. 40 Stunden (Ost) vorsahen. ver.di hatte offenbar nicht damit gerechnet, dass die KAV von einer Öffnungsklausel Gebrauch machen würden, die es erlaubt, in den westdeutschen Gemeinden die Arbeitszeit unbezahlt auf 40 Stunden auszudehnen. Während des neunwöchigen Streiks für den Erhalt der vereinbarten 38,5 Stunden pro Woche stand die Argumentation im Vordergrund, Mehrarbeit führe zu einem Verlust von Arbeitsplätzen - allein für Baden-Württemberg hatte ver.di einen Personalüberhang von 10000 Beschäftigten bei einer Ausweitung der Arbeitszeit im von den Öffentlichen Arbeitgebern geforderten Umfang errechnet. Nun kam Anfang April ein Ergebnis zustande, das - anders als in den differenzierten Arbeitszeitklauseln Hamburgs und Niedersachsens - eine einheitliche Arbeitszeit von 39 Stunden für alle kommunalen Beschäftigten, die Beibehaltung der 38,5-Stundenwoche für Azubis und die Zusage beinhaltet, Mehrarbeit nicht zum Personalabbau zu nutzen, sondern in »Qualitätsverbesserungen« umzuwandeln. ver.di spricht von einem Erfolg, der in der Abwehr der 40-Stundenwoche bestehe. Andere charakterisierten das potentielle Ergebnis vorab schon als »Sieg in der Niederlage« (so z.B. Werner Sauerborn in seinem Beitrag für das Info der Gewerkschaftslinken, s. express 3/06).

Wir befragten Werner Sauerborn, Gewerkschaftssekretär beim ver.di-Landesbezirk Ba-Wü, und Bernd Riexinger, Gewerkschaftssekretär beim ver.di-Bezirk Stuttgart, zum faktischen Abschluss und den Streikerfahrungen.

Wie bewertet ihr das Baden-Württemberger Ergebnis angesichts der Vorgeschichte und der Rahmenbedingungen materiell und politisch - war mehr nicht drin?

Riexinger: In der Tat war mehr nicht drin. ver.di hatte in einem 9-wöchigem Streik das vorhandene Streikpotential ausgeschöpft. Eine Steigerung war nicht möglich, und in manchen Bereichen war eine deutliche Erschöpfung zu spüren. Am wenigsten in Stuttgart, dort lief der Übergang zur so genannten flexiblen Streikstrategie sehr gut. Zum Zeitpunkt des Tarifabschlusses bestand nur noch die Alternative, diesen Abschluss zu machen oder keinen. Keinen Abschluss zu machen war jedoch nach neun Wochen Streik nicht mehr darstellbar. Die Streikenden hätten dies wahrscheinlich als Niederlage empfunden. Diesen Abschluss sehen jedoch fast alle als Erfolg ihres Kampfes. Das Ergebnis spiegelt das Kräfteverhältnis wieder. Das beweist auch der tiefe Zwist im Arbeitgeberlager über den Abschluss. Nach wie vor wollen Landkreise und Kommunen deshalb den Arbeitgeberverband verlassen. Die Hardliner im Kommunalen Arbeitgeberverband waren die Landräte und Bürgermeister mittelgroßer Städte. Dort war jedoch die Streikfähigkeit von ver.di gering ausgeprägt im Unterschied zu den großen Städten. Letztere hatten dann Druck im Arbeitgeberverband gemacht und mit eigenständigen Lösungen gedroht.

Sauerborn: Jeder Streik ist ein tiefgreifender Lernprozess. Das gilt besonders für diesen Streik, der so ganz anders war als die kurzen und heftigen Flächenstreiks im ÖD bisher. Unter den gegebenen Bedingungen haben wir annähernd das Menschenmögliche erreicht. Allerdings sind wir an den »gegebenen Bedingungen« nicht ganz unschuldig!

Was ist von der Zusicherung zu halten, dass die faktische Arbeitszeitverlängerung nicht zu Stellenabbau führen werde? Welche Möglichkeiten wurden vereinbart, die versprochene Umwandlung in Qualitätsverbesserung und Qualifizierung zu gewährleisten? Gibt es konkretisierte Ansprüche der Beschäftigten auf Qualifizierungsmaßnahmen? Was ist insbesondere unter der vagen Aussage, die Qualität der Öffentlichen Dienstleistungen solle verbessert werden, zu verstehen?

Riexinger: Die Zusicherung bzw. Regelung im Tarifvertrag hat keine große Bedeutung im Sinne eines klaren Rechtsanspruches. Sie ist jedoch politisch hilfreich, wenn Personalräte und ver.di gegen Stellenabbau vorgehen oder Qualifizierungsansprüche fordern. Ich gehe davon aus, dass es insbesondere im Kita-Bereich zu keinem Personalabbau kommen wird, in allen anderen Bereiche wird die Auseinandersetzung jedoch weiter gehen.

Sauerborn: Das ist natürlich Watte. Vage zugesagt wurde nur, die Arbeitszeitverlängerung »nicht 1:1 in Stellenabbau umzusetzen«. Ob dieser Stellenabbau wirklich stattfindet, wird in einem »Kampf nach dem Kampf« Bereich für Bereich entschieden. In expandierenden Sektoren des ÖD, wie der Kinderbetreuung, wird der Abbau gebremst oder gar nicht stattfinden; das hatte z.B. die Stadt Stuttgart taktisch geschickt schon während des Streiks herausgestellt. Negativ ausgedrückt, haben wir die Chance nicht nutzen können, in diesen wenigen wachsenden Bereichen einen Stellenaufbau durchzusetzen.

Während des Streiks hat die Qualität des Öffentlichen Dienstes trotz der allgegenwärtigen Rede von Dienst-leistungs- und Kundenorientierung fast keine Rolle gespielt. Eine Verbindung zu diesem gesellschaftspolitischen Thema wurde höchstens indirekt über die Folgen einer steigenden Arbeitsbelastung hergestellt. War die Betonung der arbeitsmarktpolitischen Konsequenzen in der ersten Phase des Streiks richtig? Hätten sich möglicherweise mehr Gemeinsamkeiten mit den NutzerInnen Öffentlicher Dienstleistungen herstellen und Sympathien für den Streik gewinnen lassen, wenn das Thema »Qualität« stärker in den Vordergrund gerückt worden wäre?

Riexinger: Den Focus auf die Stellenstreichung in Folge der Arbeitszeitverlängerung zu richten war sinnvoll. Das hat die hohe Sympathie in großen Teilen der Bevölkerung begründet. Das Thema Qualität wirkungsvoll aufzubereiten ist ungeheuer schwierig. Es wurde teilweise in den Bürgerinfos angesprochen. Im Kindertagesstättenbereich spielte dieses Thema aber eine Rolle, und viele Eltern unterstützten die Streikenden u.a. aus diesem Grund.

Sauerborn: Die Verknüpfung der unmittelbaren gewerkschaftlichen Anliegen mit den Funktionen öffentlicher Dienstleistungen und ihrer Qualität ist ständig Thema unserer Argumentationen und Kampagnen. Die konkrete Verbindung Arbeitszeitverlängerung = Qualitätsverschlechterung in der Situation des Streiks herzustellen, wo eben diese Dienstleistung vorenthalten wird, ist jedoch nicht so einfach. Der Zusammenhang von Arbeitszeit und Arbeitslosigkeit ist dagegen unmittelbar plausibel und hat sich im Diskurs als das stärkere Argument im Vergleich mit der »nur 18 Minuten«-Verdummung erwiesen. Dies hat dem Streik, der mit vielen Belastungen für Eltern, PatientInnen oder BürgerInnen allgemein verbunden war, bis zum Schluss eine Mindestunterstützung erhalten, ohne die ein so langer Streik nicht zu führen gewesen wäre.

Wie war die Streikbereitschaft in den Wochen nach der gescheiterten Schlichtung? War aus Eurer Sicht ein Abbröckeln der Unterstützung für den Streik bei den Beschäftigten bzw. unter den betroffenen BürgerInnen feststellbar?
Warum hat ver.di seine Streiktaktik nach der gescheiterten Schlichtung geändert und eine »zweite Phase« eingeläutet? Welchen Stellenwert hatte die Gewinnung neuer Beschäftigtengruppen dabei?

Riexinger: Nach der Schlichtung in der sechsten Streikwoche trat in vielen Bereichen eine starke Erschöpfung ein. Verschiedene wichtige Streikbetriebe kündigten an, dass sie wieder arbeiten gehen würden (z.B. die Müllabfuhr in mehreren Städten). In Karlsruhe war die Müllabfuhr bereit, auf weitere Streiks zu verzichten, wenn gleichzeitig alle Neueingestellten mit 38,5 Stunden beschäftigt und alle bereits geschlossenen Verträge korrigiert würden - dies wurde vertraglich dann auch mit ver.di Karlsruhe vereinbart. Manche Bezirke hatten ernsthafte Schwierigkeiten, die Streiks weiter fortzusetzen. Die Entwicklung der »flexiblen Streikstrategie« war in erster Linie eine Reaktion auf die abnehmende Streikdynamik und den Einsatz von privaten Firmen, z.B. bei der Stuttgarter Müllabfuhr. Bei den Bürgern gab es zwar viel Sympathie, aber nie wirklich praktische Unterstützung, von wenigen Ausnahmen abgesehen. Bei den Eltern der betroffenen Kindertageseinrichtungen entwickelte sich eine Polarisierung zwischen denen, die den Streik ablehnten und sogar Demonstrationen organisierten (jedoch mit schwacher Beteiligung), und denen, die ErzieherInnen unterstützten oder zumindest Verständnis für sie hatten. Neue Beschäftigungsgruppen konnten meines Wissens nach durch die »neue« Streikstrategie nicht gewonnen werden.

Sauerborn: Nach der sechsten Woche hatte der Streik sozusagen einen Durchhänger. Es war frustrierend für viele Streikende, dass trotz guter Streikmoral keine Bewegung bei den Arbeitgebern erkennbar war. Es gab Stimmen, den Streik abzubrechen, wenn bis zu einem bestimmten Datum kein akzeptables Ergebnis zu erzielen sei. Die Umorientierung auf die neue Streikstrategie, die schließlich eine klare Mehrheit fand, dauerte dann länger als gedacht.

Die zweite Phase des Streiks sollte unter dem Stichwort »FLUPO«-Streik geführt werden. Das Kürzel steht für »flexibel, unberechenbar, politisch«. Was war darunter zu verstehen, und welche Erfahrungen habt Ihr gegebenenfalls mit der neuen Streiktaktik gemacht?

Riexinger: In Stuttgart, aber auch in anderen Städten und Regionen wurde der Streik bereits von Anfang an gezwungenermaßen flexibel geführt. Bis auf die Arbeiterbereiche gibt es im öffentlichen Dienst wenig hoch organisierte Betriebe, mit deren Belegschaften in unbefristete Streiks gegangen werden konnte. Um den Streik lange durchhalten zu können hatten deshalb die KollegInnen des Stuttgarter Klinikums ab Beginn des Streiks die Strategie entwickelt, in der ersten Streikwoche einen Tag, in der zweiten zwei Tage, der dritten drei Tage usw. zu streiken. Allein das hat ihnen ermöglicht, neun Wochen durchzuhalten. Die Kindertageseinrichtungen hatten sich für die Strategie entschieden, in jeder Woche in jeweils anderen Stadtbezirken je drei Tage zu streiken. In der Fläche wurde oft nur ein oder zwei Tage gestreikt. Wir haben jede Woche mindestens eine Demonstration in der Stuttgarter Innenstadt organisiert. An diesen Tagen wurden dann in der Regel alle Beschäftigten zum Streik aufgerufen. Zu den Demos kamen jeweils zwischen 2000 und 4500 TeilnehmerInnen. Insofern war die Umstellung auf die sog. flexible Strategie nicht wirklich neu. Sie eröffnete jedoch neue Handlungsmöglichkeiten in den Bereichen, wo eine Fortsetzung des unbefristeten Streiks nicht mehr möglich oder sinnvoll war. So haben wir es zur Überraschung aller geschafft, eine neue Strategie für die Müllabfuhr zu entwickeln. Überraschende Streiks ohne Ankündigung haben hervorragend geklappt und die Geschäftsleitung auch beim Einsatz Privater in völlige Verwirrung gestürzt. Den KollegInnen hat das richtig gefallen. In Ulm hatten die KollegInnen die Umstellung auf die neue Strategie genutzt, um in vielen Betrieben während der Arbeitszeit Mitgliederversammlungen als Warnstreik zu organisieren und über die weitere Planung zu beraten. Insgesamt hat die neue Streikstrategie am ehesten in den Bezirken funktioniert, die am aktivsten gestreikt haben. Im weiteren Verlauf wären diese Ansätze sicherlich noch ausgebaut worden. Aber gerade dort, wo ver.di schwach war - in den mittleren Städten und Landkreisen - und wo auf der Arbeitgeberseite die Hardliner saßen, wurde von wichtigen Ausnahmen abgesehen weder unbefristet noch wirklich flexibel gestreikt. Diese Schwäche muss ver.di dringend beheben.

Sauerborn: Der Streik sollte umgestellt werden: weniger intensiv, dafür langatmig. Zeitlicher Horizont Sommerpause. Er sollte die schwierige Balance zwischen Erzwingungsinteresse einerseits und Überforderung der BürgerInnen andererseits Bereich für Bereich spezifischer austariert werden. Er sollte insofern unberechenbar sein, als er es der Arbeitgeberseite erschweren sollte, sich mit dem Streik einfach zu arrangieren. Erstaunlich, welch ein Chaos sich organisieren lässt, wenn eine ganze Belegschaft, für die der Arbeitgeber Streikbrecherfirmen eingeplant hatte, sich organisiert spontan zur Arbeit meldet! So geschehen z.B. bei der Abfallwirtschaft in Stuttgart und Ulm oder bei den technischen Bereichen des Staatstheaters in der Landeshauptstadt. Eine solche Streiktaktik erfordert viel eine höhere Disziplin und Moral der Beteiligten. Sie musste verabredet, geradezu geübt werden.

Zum Konzept des FLUPO-Streiks gehörte offenbar auch die Absicht, eine Verbindung zu anderen Tarifkonflikten wie dem der IG Metall oder gar internationale Bezüge herzustellen, wie z.B. zu den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen in Frankreich um die Abschaffung des Kündigungsschutzes für Berufsanfänger oder in Großbritannien um die Erhöhung des Rentenalters. Das wäre eine für deutsche Tarifauseinandersetzungen, die traditionell meist auf unmittelbare Lohnfragen bezogen sind, ungewöhnliche Politisierung des Streiks gewesen. Habt Ihr davon etwas mitbekommen, und wie stand es um die Umsetzung dieses Anspruchs?

Riexinger: Das ist definitiv schlecht bis überhaupt nicht gelungen. Wir hatten zwar Redner der IGM auf unseren Kundgebungen, und bei der Blockade der Müllabfuhr halfen viele KollegInnen anderer Gewerkschaften, aber gemeinsame Aktionen gab es praktisch keine, von einer gemeinsamen Streikplanung einmal ganz abgesehen. Wir hatten den Eindruck, dass dies von großen Teilen der IGM nicht unbedingt gewollt war, wobei die IGM-Spitze sich sogar eindeutig dafür ausgesprochen hatte. Aber selbst unsere eigenen Fachbereiche außerhalb des ÖD haben keine große und sichtbar Solidarität gezeigt. Internationale Bezüge wurden hergestellt, indem wir an einem Streiktag mit 3000 Streikenden aus Baden-Württemberg und über 1000 aus Stuttgart in Straßburg gegen die Bolkesteinrichtlinie demonstriert hatten. Das war eine sensationelle Erfahrung. Stuttgarter und Straßburger Müllwerker Hand in Hand gegen Deregulierung und Sozialdumping. Der Streik im Ganzen war hochpolitisch, und das wurde im Verlauf auch von den meisten Streikenden so begriffen, es kam zu einer äußerst positiven Politisierung. Eine Verbindung mit anderen gesellschaftlichen Gruppen bzw. Teilen der sozialen Bewegung und Themen hat dagegen praktisch nicht stattgefunden, weil es in Deutschland keine soziale Bewegung gibt. Die praktische Unterstützung dieser Gruppen ist fast völlig ausgeblieben, und attac muss sich z.B. schon fragen lassen, warum sie eine bundesweite Kampagne für die 30-Stunden-Woche organisiert, aber in einer konkreten Auseinandersetzung um das gleiche Thema zu keiner einzigen sichtbaren Solidaritätsaktion fähig war. Bei den Streikenden haben Themen wie die Rente mit 67 ständig eine Rolle gespielt. Sie sind nach meiner Wahrnehmung gestärkt und politisiert aus diesem Konflikt herausgekommen.

Sauerborn: Das Thema des Streiks, die Frage der Arbeitsumverteilung, zu politisieren, war von Anbeginn des Streiks und nicht erst seither, ein zentrales strategisches Anliegen, das mit der zweiten Streikphase noch mal richtig gepuscht werden sollte. Dies ist aber nur begrenzt gelungen. Einsamer Höhepunkt des Schulterschlusses mit den französischen KollegInnen war die Anti-Bolkesteindemo am 14. Februar. 12000 Streikende aus Baden-Württemberg treffen auf Zehntausende Demonstrierende und Streikende aus ganz Europa mit gleichen Betroffenheiten und Anliegen! Für viele eine neue und sicher politisch prägende Erfahrung. Aber ein unterschätztes und singuläres Ereignis, an das in der weiteren Entwicklung nicht mehr angeknüpft wurde. Die Idee eines französisch-englisch-deutschen Streikgipfels, den das FLUPO-Konzept vorgesehen hatte, wurde weder realisiert noch angegangen. Enttäuschend war auch die geringe Bereitschaft der IGM, sich auf punktuelle Bündelungen der Streiks einzulassen, die den verdi-Streik politisch gestärkt und dem IGM-Streik, bei dem es mit der Steinkühlerpause ja u.a. auch um ein arbeitszeitpolitisches Thema ging, sicher nicht geschadet hätte.

Die Länderbeschäftigten befinden sich weiterhin im Streik. Der Ausgang dieses Streiks ist auch in Baden-Württemberg von Interesse, weil die Meistbegünstigungsklausel auf kommunaler Ebene leider nicht »weggestreikt« werden konnte und daher die Möglichkeit einer Übertragung von Länderregelungen, insbeson-dere die Verlängerung der Arbeitszeiten 'durch die Hintertür' besteht. Ausgerechnet im Länderbereich ist ver.di jedoch relativ schlecht organisiert. Gibt es Strategien, um hier mehr Beschäftigte einzubeziehen, und wie könnte eine Verschlechterung verhindert werden?

Riexinger: Auf alle Fälle müssen die Länderbeschäftigten weiter streiken. Wir haben hier - wahrscheinlich auch bundesweit - anders als noch vor einigen Jahren deutlich mehr harte Kerne, die streikbereit sind und auch nicht aufgeben wollen. Diese Streikbereitschaft müssen wir mit gut vorbereiteten Kampagnen verbinden, um weitere Gruppen von Beschäftigten an die Streiks und Aktionen heranzuführen. Es bringt nichts, mit einer Minderheit immer in der gleichen Form weiter zu machen. Ein großes Manko ist auch die mangelnde bundesweite Koordination. Die Streikenden kommen sich häufig verloren vor, weil sie nicht wissen und auch nicht von ver.di informiert werden, wer noch alles streikt. Es gehört eigentlich zum Handwerkszeug, dass die Moral gestärkt wird, wenn die Streikenden in eine »Gesamtbewegung« eingebettet sind. Eine Bewusstseinskampagne muss auch deutlich machen, dass es inzwischen nicht mehr alleine um Arbeitszeitverlängerung und Absenkung von Sonderzahlungen geht, sondern um die Frage, ob wir überhaupt noch Tarifverträge ab-schließen können, die nicht dem Diktat der Arbeitgeber folgen. Ohne eine bessere bundesweite Koordination und Strategie ist diese Auseinandersetzung kaum zu gewinnen.

Letztlich müssen wir auch gezielte Solidaritätsstreiks der kommunalen Beschäftigten organisieren, um die KollegInnen der Länder zu stärken. Ich glaube, das ist nach den ÖD-Streiks machbar.

Sauerborn: Im Länderbereich tritt noch deutlicher zu Tage, was auch im kommunalen Bereich einen auch materiellen Erfolg unmöglich gemacht hat: Die gewerkschaftlichen Organisations- und Tarifstrukturen wurden in den letzten zwanzig Jahren in keiner Weise auf die tiefgreifenden Umstrukturierungen der Branche Staat hin weiterentwickelt. Große Teile der Beschäftigten im Verwaltungsbereich, besonders eben bei den Ländern, haben keinerlei Streikerfahrung, weil die ArbeiterInnenbereiche (Müllabfuhr, Energieversorgung, Nahverkehr etc.) die Streiks getragen haben. Entsprechend unterentwickelt sind gewerkschaftliche Strukturen und Organisationsgrade. Die streiktragenden Bereiche sind jedoch großteils privatisiert und unter-liegen längst anderen Tarifverträgen, oder sie stehen in einer Wettbewerbssituation, die es der Arbeitgeber-seite einerseits ermöglicht, mit der Privatisierungsdrohung zu erpressen, ihr andererseits erleichtert, Streikbrechereinsätze zu organisieren.

Wenn es Verantwortung für diesen »Sieg in der Niederlage« gibt, dann können sich die streikenden Erzie-herinnen, Krankenschwestern, Müllwerker und viele andere den »Sieg« gutschreiben. Für die »Niederlage« sind die Gewerkschaften als Organisation verantwortlich, deren Aufgabe es gewesen wäre, rechtzeitig Organisations- und Tarifstrukturen auf die »gegebenen Bedingungen« auszurichten, damit Siege wieder Siege sein können. Wenn es wieder eine Perspektive geben soll, dann muss dieser Lernprozess jetzt einsetzen, genauer gesagt - organisiert werden!

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 4/06


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