»TVÖD 2.0« droht
Trotz des Desasters im öffentlichen Dienst strebt ver.di auch im Einzelhandel eine grundlegende »Tarifreform« an. Widerstand aus Baden-Württemberg
Mit den »Tarifreformen« der vergangenen Jahre haben sich die Gewerkschaften keinen Gefallen getan. Sowohl der Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVÖD) von ver.di als auch das Entgeltrahmenabkommen (ERA) der IG Metall wird in weiten Teilen der Belegschaften als Verschlechterung empfunden. Auch das stets genannte Ziel der Vereinfachung wurde in beiden Fällen nicht erreicht. Doch die ver.di-Spitze scheint aus diesen Erfahrungen nicht zu lernen. Im Einzelhandel strebt die Dienstleistungsgewerkschaft nun ebenfalls eine derartige »Modernisierung« des Tarifwesens an. Im Landesbezirk Baden-Württemberg trifft das auf Widerstand.
Unter der Überschrift »Innovative Tarifpolitik« wird in ver.di seit geraumer Zeit über eine grundlegende »Reform« der Einzelhandelstarifverträge diskutiert. Dieser hinter dem öffentlichen Dienst zweitstärkste Organisationsbereich der Dienstleistungsgewerkschaft hat bislang eine recht einheitliche Entgeltstruktur, die sich vor allem nach dem erlernten Beruf (Verkäuferin, Kassiererin etc.) richtet. Die Unternehmen halten das schon lange für »nicht mehr zeitgemäß«. Beispielsweise ist ihnen die Einstufung von Kassiererinnen an SB-Kassen in die Entgeltgruppe 3 – mit einem Monatsgehalt von 1954 bis 2403 Euro – zu hoch. Schon während der Tarifauseinandersetzung 2007/2008, als die Gewerkschaft erst nach monatelangen Streiks einen Vertrag durchsetzen konnte, hieß es vom Unternehmerverband: »Wir geben kein Geld mehr für alte Strukturen.« Bei der im Frühjahr 2011 anstehenden Tarifrunde strebt er offenbar erneut eine Verknüpfung von Einkommensentwicklung und »Tarifreform« an.
Vehement dagegen hat sich die ver.di-Tarifkommission des Einzelhandels im Bezirk Stuttgart ausgesprochen. »Anstelle der innovativen Tarifpolitik soll der bestehende Manteltarifvertrag verteidigt und im Interesse der Beschäftigten weiterentwickelt werden«, heißt es in einer einstimmig verabschiedeten Resolution. Das Konzept für eine grundlegende »Reform« der Tarifverträge beinhalte die Gefahr von Verschlechterungen, so der jW vorliegende Text unter Verweis auf ERA und TVÖD. »Tarifreformen kann man erfolgreich nur in guten Zeiten machen, und auch dann nur mit einem Mobilisierungskonzept, das bisher völlig fehlt. Es ist auch illusionär, damit die Flächentarifverträge ›retten‹ zu wollen.«
In einer gemeinsamen Arbeitsgruppe von ver.di- und Unternehmervertretern wurden die Grundzüge einer »Tarifreform« bereits erarbeitet. Doch für die Angestellten lassen die Ergebnisse nichts Gutes erahnen. Wie bei ERA und TVÖD soll die Eingruppierung künftig durch eine »analytische Arbeitsbewertung« ermittelt werden. Dabei werden die verschiedenen Tätigkeiten anhand von Anforderungsmerkmalen analysiert. Die Zuordnung der Beschäftigten zu den auf dieser Grundlage geschaffenen Entgeltstufen findet dann mit Hilfe eines Punktesystems statt. Das Ergebnis: Die relativ einheitliche Einkommensstruktur im Einzelhandel wird aufgebrochen und differenziert. Die Unternehmer bestehen – wie schon bei den bisherigen »Tarifreformen« – darauf, daß sie das Ganze in der Summe nichts kosten darf. Eventuelle Verbesserungen für die einen würden also Verschlechterungen für die anderen nach sich ziehen.
Die geplanten Differenzierungen bergen »die Gefahr neuer Spaltungen zwischen den Beschäftigten und einer Schwächung von ver.di«, warnt die Stuttgarter Tarifkommission. Die Große ver.di-Tarifkommission für den baden-württembergischen Einzelhandel, die eine ähnlich kritische Haltung einnimmt wie der Stuttgarter Bezirk, sieht in diesem Zusammenhang »das Risiko, daß sich die mit der zunehmenden Discounterisierung des Einzelhandels einhergehenden Dequalifizierungstendenzen unmittelbar in Abgruppierungen niederschlagen«. Das propagierte Eingruppierungssystem biete womöglich »geradezu Anreize dafür, daß Arbeitgeber – die über die Gestaltung von Arbeitsplätzen ja weitgehend alleine entscheiden – bisherige Mischarbeitsplätze in qualifizierte und geringer qualifizierte Arbeitsplätze aufteilen (…), um in der Summe Lohnkosten zu senken«, heißt es in einer jW vorliegenden Entschließung des Gremiums.
Eine inhaltliche und zeitliche Koppelung der »Reform« mit der im Frühjahr anstehenden Gehaltsrunde lehnen die Gewerkschafter im Südwesten kategorisch ab. Es gebe zwar Veränderungsbedarf, »aber es gibt auch erhebliche Zweifel, ob wir genügend Kraft haben, mit einer neuen Tarifstruktur sinnvolle Ergebnisse zu erreichen«. Zudem sei die Diskussion über das »Reformkonzept« bislang vor allem in kleinen Expertenzirkeln geführt worden. Die Aufnahme von Verhandlungen setze aber eine breite Debatte und Beteiligung von Mitgliedern und Aktivisten voraus. Ziel jeglicher Strukturveränderung müsse nicht nur ein größerer Praxisbezug, sondern vor allem eine nachhaltige Verbesserung der Einkommen sein. Unter den gegenwärtigen Umständen sei das 2011 nicht zu erreichen, so die Tarifkommission.
Statt dessen schlägt sie vor, die Frage der Einkommensverbesserungen in den Mittelpunkt der anstehenden Tarifrunde zu stellen. Hier bestehe schließlich »erheblicher Nachholbedarf«. Außerdem dürften die Beschäftigten für die Forderung nach deutlich mehr Geld viel leichter zu mobilisieren sein als für eine »Tarifreform«, die womöglich massive Verschlechterungen mit sich bringt.
Artikel von Daniel Behruzi, zuerst erschienen in junge Welt vom 16.11.2010 - wir danken dem Autor!
|