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Updated: 18.12.2012 15:51
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Eine Pleite nach der andern

Anton Kobel zur Tarifrunde Einzelhandel in der Krise

Erst die Pleiten bei Hertie, Woolworth, Sinn Leffers, Wehmeyer, Arcandor/Karstadt/Quelle mit den jeweiligen Konzerntochterfirmen. Und jetzt kommen noch die Tarifabschlüsse im Einzelhandel dazu! Auch im Einzelhandel hat die Finanz- und Wirtschaftskrise die sog. Realwirtschaft und die zuständige Gewerkschaft ver.di voll erreicht.

Starke Worte als fulminanter Start

Nach der 18-monatigen Tarifrunde 2007/8 und einem Abschluss "mit letzter Kraft" (s. express, Nr. 8/2008) hatte sich ver.di einiges für die Tarifrunde 2009 vorgenommen. "Es gibt was zu verteilen! Jetzt sind wir dran!", titelte die ver.di-Zeitung 1/2009 der "Tarifkampagne für faire Löhne im Handel". In der selben Ausgabe verkündete die für den Handel zuständige stellvertretende ver.di-Bundesvorsitzende Margret Mönig-Raane: "Wir werden die Lippen nicht nur spitzen, sondern pfeifen!", und: "Wir werden dank koordinierter, bundesweiter Aktionen, der Unterstützung durch andere Fachbereiche sowie der Einbeziehung von Kunden und Öffentlichkeit eine kurze und erfolgreiche Tarifrunde erleben." Auf der bundesweiten Auftaktveranstaltung am 27. März 2009 in Stuttgart machte sie zusammen mit Frank Bsirske und ver.di-Verhandlungsführern vor über 1000 Beschäftigten Mut und Dampf. Neue Arbeitskampf- und Streikformen wurden angekündigt: "Kunden sollen überzeugender denn je angesprochen werden, aus Solidarität nicht in bestreikten Betrieben einzukaufen." Gegen den Einsatz von Leiharbeitskräften als Streikbrecher "wird es verstärkt Aktionen geben, bei denen die Beschäftigten nach der "Raus-Rein-Strategie" für eine begrenzte Zeit ihren Arbeitsplatz verlassen, wieder zurückkehren, wieder streiken und so weiter", so Mönig-Raane.

Ergänzt werden sollten die bundesweit zu koordinierenden Aktionen von Anfang an durch eine "professionell" erstellte - und ziemlich teure - Tarifkampagne. Deren Slogans lauteten: "Fair heißt mehr" und "Von uns lebt der Handel".

Deutlich sichtbar wirkte hier die von mehreren Landesbezirken am Ablauf der Tarifrunde 2007/8 formulierte, harsche Kritik an der Bundesfachbereichsleitung Handel.

Eine deftige Forderung und klare Begründung

Die selbständig entscheidenden Großen Tarifkommissionen der einzelnen Bundesländer forderten im Schnitt 6,5 Prozent höhere Entgelte, zum Teil mit Mindestbeträgen bzw. einem monatlichen Mindesteinkommen von 1550 Euro sowie regionalen Spezifika. Auf einer bundesweiten "Koordinierungskonferenz" waren dazu am 23. März 2009 folgende Ziele für die Tarifrunde beschlossen worden: "...deutlich verbesserte Realeinkommen ... Stärkung der Binnennachfrage ... als echtes und wirksames Konjunkturprogramm ...". Ein "erheblicher Nachholbedarf" und "soziale Komponenten" sollten sich in einem zwölfmonatigen Tarifabschluss niederschlagen. Gefordert wurde auch, dass die Einkommenssteigerung "tabellenwirksam sein muss", d.h. Einmalzahlungen und sog. Nullmonate nicht akzeptiert werden würden.

Um diese Ziele zu erreichen, wurden "Grundsätze für eine gemeinsame Verhandlungs-, Mobilisierungs- und Arbeitskampfstrategie" verabschiedet. Ferner wurde festgehalten: "In einer weiteren KO-Konferenz Ende Mai/Anfang Juni 2009 werden wir gemeinsam den Zwischenstand der Auseinandersetzungen bewerten und notwendige Schlussfolgerungen ziehen." Zu dieser Koordinierungs-Konferenz kam es dann auf Druck von Baden-Württemberg am 23. Juni, allerdings erst nach dem von der ver.di-Spitze am 11. Juni öffentlich zum Pilotabschluss erklärten Tarifabschluss in NRW.

Ein Tarifabschluss mit ganz anderer Begründung

Am frühen Morgen des 11. Juni 2009 kam es zum Abschluss in NRW: Ab 1. September 2009, d.h. nach vier Nullmonaten, werden Gehälter, Löhne und Azubi-Vergütungen um zwei Prozent und nach vier weiteren Nullmonaten (Mai-August 2010) zum 1. September 2010 um zusätzlich 1,5 Prozent erhöht. Für den Zeitraum 1. Oktober bis 1. Dezember 2010 erhalten Vollzeitbeschäftigte eine Einmalzahlung von 150 Euro (Teilzeitkräfte anteilig) und Auszubildende 75 Euro, zahlbar im April 2010. Für den Zeitraum 1. Januar bis 30. April 2011 gibt es 150 Euro als "tarifliche Vorsorgeleistung", für Teilzeitkräfte anteilig und für Azubis 75 Euro. Die Zahlung in 2011 kann "auf Wunsch der Arbeitnehmer auch als Warengutschein" erfolgen.

Diesem Ergebnis hatten vor der endgültigen Zusage an die Arbeitgeber in einer Telefonkonferenz die Bundesspitze von ver.di-Handel sowie alle Verhandlungsführer der Landesbezirke außer Baden-Württemberg zugestimmt.

Begründet wurde dieser Abschluss, der weder etwas mit der Höhe der Forderungen noch mit den Zielen der KO-Konferenz noch mit deren Begründungen zu tun hat, wie folgt:

  • Angesichts von derzeit null Prozent Preissteigerung gebe es "eine reale Einkommenssteigerung".
  • "Angesichts der wirtschaftlichen Lage im Einzelhandel, insbesondere vor dem Hintergrund mehrerer Insolvenzen, ist das Ergebnis aus heutiger Sicht ein tragfähiger Kompromiss."
  • "Wir sind stolz darauf, wieder einen Tarifvertrag zu haben. Tarifverträge schützen auch in unsicheren Zeiten, wie wir sie derzeit im Handel haben."
  • "Wir sind stolz darauf, im Vergleich zu den letzten Jahren in so kurzer Zeit einen Abschluss erreicht zu haben." (Alle Zitate aus dem Tarifflugblatt NRW)

Zudem hätte ver.di die Forderungen der Arbeitgeber nach einer Nullrunde für Azubis und nach betrieblichen Öffnungsklauseln, wonach die "Erhöhungszeitpunkte sowie die Höhe der Einmalzahlung ... verschoben, gesenkt oder gestrichen werden können", abgewehrt.

Diesen Tarifabschluss erklärte das für den Handel zuständige Vorstandsmitglied Mönig-Raane sofort öffentlich zum Pilotabschluss. Damit rief sie vor allem in Baden-Württemberg, wo schon seit Wochen heftig gestreikt wurde, erneut harsche und anhaltende Kritik hervor. (s. Resolutionen aus Stuttgart, Mannheim/Heidelberg und Fils/Neckar/Alb auf den Seiten 5 bis 7 unten)

Öffentliche und interne Resonanz

In ver.di hat am 23. Juni die 2. Koordinierungs-Konferenz gegen wenige Stimmen, darunter die aus Baden-Württemberg, den NRW-Abschluss zum bundesweit verbindlichen Pilotabschluss erklärt. Vorher hatten Hamburg, Saarland, Rheinland-Pfalz diesen Abschluss 1:1 übernommen und Bayern mit leichten zusätzlichen Verbesserungen ebenfalls abgeschlossen.

"Ein richtig guter Abschluss" kommentiert die Süddeutsche Zeitung am 12. Juni. Darin werden die zwei dürren Prozentsätze, wie inzwischen üblich, durch Zusammenrechnen zu 3,5 Prozent aufgeplustert. Richtig gut sei der Abschluss, weil "die Inflationsrate gegen Null tendiert" und "die Arbeitnehmer nicht nur brutto spürbar mehr in der Tasche haben werden, sondern auch netto". Das Wissen, dass die tatsächliche Inflationsrate für BezieherInnen von Einkommen unter 1500 Euro - und das sind im Einzelhandel viele - dauerhaft ca. zwei Prozent über der veröffentlichten Preissteigerung liegt, hat offensichtlich weder bei ver.di noch in allen Zeitungsredaktionen Einzug gehalten. Da wird aus real schnell irreal, wobei die nach der Bundestagswahl im September präsentierten Rechnungen fürs Begleichen der Kosten der Finanz- und Wirtschaftskrise noch gar nicht einbezogen sind.

Folgen des Tarifabschlusses

Für die Beschäftigten wurden weder die niedrigen Entgelte deutlich erhöht, noch der von ver.di genannte Nachholbedarf gegenüber anderen Wirtschaftszweigen abgebaut. Ein solcher, von vielen Streikenden und Aktiven erneut als schlecht und undemokratisch zu Stande gekommener Abschluss verstärkt den Frust über die eigene Gewerkschaft. Deren Argumente vor der Tarifrunde - u.a. hatte sie getrommelt: "Die deutschen Einzelhandelsunternehmen erzielten 2007 einen Gewinn nach Steuern von 16,1 Mrd. Euro - Verglichen mit dem Jahr 2000 ist das eine Steigerung um 64,3 Prozent" - haben mit den "Argumenten" für den Abschluss nichts mehr zu tun. Neben Insolvenzen existieren im Einzelhandel nämlich auch 2008/9 Unternehmen mit kräftigen Umsatz- und Gewinnsteigerungen, z.B. bei H&M, IKEA, Rewe, Edeka, Lidl-Konzern, Aldi, C&A. Auch der Metro-Konzern verdient mit seinen Handelstöchtern Kaufhof, real, Media Markt/ Saturn, extra, Metro C&C so viel, um Arcandor/Karstadt kaufen zu können.

Die Krisen-Gewinner - vor allem Fachmärkte und Discounter - profitieren von solchen Tarifabschlüssen zusätzlich. Sie können damit das für die weitere Konzentration im Einzelhandel notwendige Kapital scheffeln. Nebenbei werden so die Einzelhandelsstrukturen, ansonsten zu Recht ein auch in der gewerkschaftlichen Kritik stehendes Problem, nachhaltig verändert.

Kommentar voller Fragen

Aber was hat es zu bedeuten, wenn ein schneller Tarifabschluss offensichtlich zum Organisationsziel wird! Es ist ein weiterer Beitrag zur Entfremdung von der Gewerkschaft.

Eine erneut längere Tarifrunde oder gar vorübergehende Tariflosigkeit wurde dieses Jahr im Einzelhandel ohne Not, sogar während noch gut laufender Streiks, zum Schreckgespenst aufgeblasen. Die Streikbewegung in den Kitas und Kindergärten geht weiter. Gelten dort andere Bedingungen? Warum gab es nur hie und da die sog. "solidarische Tarifpolitik"!? Warum wurde die bundesweite DGB-Demonstration am 16. Mai in Berlin nicht in die Tarifkampagne eingebaut? Warum gibt es im Einzelhandel bei ver.di an manchen Orten und in einigen Landesbezirken "Mobilisierungsprobleme"?!

Sollen bescheidene, aber schnelle Tarifabschlüsse den inneren Zustand bei ver.di-Handel zudecken? Natürlich gab es im Fachbereich Handel in den letzten Jahren massiven Personalabbau bei den Hauptamtlichen, und viele kennen die ver.di-internen, ökonomischen Gründe! Der im Einzel- und Großhandel hohe Anteil von Teilzeitbeschäftigten und die niedrigen Gehälter und Löhne bedeuten niedrige Beitragseinnahmen für die zuständige Gewerkschaft. Bei ver.di betrug im Dezember 2008 der monatliche Durchschnittsbeitrag in den Fachbereichen Telekommunikation 20,90 Euro, bei Ver- und Entsorgung 20,03 Euro, Verkehr 18,01 Euro, Post und Logistik 15,18 Euro und im Handel ganze 12,04 Euro! Diese Beitragseinnahmen bestimmen im Wesentlichen die Anzahl der im Fachbereich tätigen Hauptamtlichen. Der Fachbereich Handel ist vielerorts unterbesetzt. ver.di insgesamt muss dazu neue Lösungen finden. Miese Tarifabschlüsse in wichtigen Tarifbereichen wirken sich auch in andere Bereiche negativ aus. ver.di war 2001 bei der Gründung mit dem Ziel angetreten, sog. weiße Flecken, d.h. gewerkschaftsfreie Zonen zu beseitigen. Inzwischen entstehen solche, auch in Folge der ver.di-Strukturen.

Das erklärt jedoch noch nicht diese Tarifpolitik und die "Nicht-Politik" in den von den Krisen und Insolvenzen besonders betroffenen Teilbranchen des Einzelhandels. Beides, schlechte Tarifabschlüsse und Sozialpläne, die in von Insolvenz betroffenen Unternehmen auch nicht viel für die Beschäftigten vor der Arbeitslosigkeit hergeben, sind zudem schlechte Krisenlösungen. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass "Angst essen Seele auf" vielerorts und auf allen Ebenen bei ver.di der bestimmende Prozess ist.

Erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 6/09


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