Ungewohnte Töne
IG-Metall-Vize Detlef Wetzel fordert in internem Strategiepapier Neuausrichtung der Gewerkschaft.
»Weniger Co-Management und Stellvertreterpolitik« Daniel Behruzi Was für eine Zukunft haben die Gewerkschaften unter den Bedingungen der Globalisierung und des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus? Mit welchen Strategien können sie ihre Krise überwinden, die sich in Mitgliederverlusten sowie schwindender tarif- und gesellschaftspolitischer Durchsetzungsfähigkeit ausdrückt? Mit diesen Fragen beschäftigt sich ein u.a. von IG-Metall-Vize Detlef Wetzel verfaßtes Papier, das derzeit unter den Funktionären der Gewerkschaft kursiert. Mit ungewohnter Offenheit werden darin die Schwächen und Probleme der Beschäftigtenorganisation benannt und Lösungsvorschläge unterbreitet.
Am Anfang der Analyse steht die Erkenntnis, daß das jahrzehntelang dominante System der »Sozialpartnerschaft« von der Gegenseite aufgekündigt wurde. »Der soziale Konsens der alten Bundesrepublik ist aufgebrochen: Die Kapitalseite stellt bewährte Mechanismen der Ausgleichsfindung in Frage. Die Basis der Sozialpartnerschaft ist brüchig geworden«, heißt es in dem jW vorliegenden Papier. Als Belege führt Wetzel unter anderem die sinkenden Mitgliedszahlen an, die sich »nach mehr als einem Jahrzehnt des Rückgangs wieder auf dem Niveau der 60er Jahre« befänden. Zudem stellten Tarifflucht, die Verlagerung von Regelungen auf die Betriebsebene sowie schwindende institutionelle Verankerung die Gewerkschaften vor neue Herausforderungen. Vor diesem Hintergrund stoße das gewohnte gewerkschaftliche Handeln an seine Grenzen. Gemeint ist damit insbesondere die bislang vor allem auf Stellvertretung und nicht auf möglichst weitgehender Einbeziehung basierende Gewerkschaftsarbeit. Wetzel schreibt: »Stellvertretungspolitik kann immer weniger gute Ergebnisse erzielen. Ein Legitimationsdefizit entsteht. Schwindende Legitimation der Interessenvertretung kann nur durch Beteiligung wieder hergestellt werden.« Deshalb müsse die IG Metall in Zukunft »konsequent beteiligungsorientiert denken und arbeiten«.
Zentraler Ort für die strategische Neuausrichtung ist für Wetzel, der gemeinhin dem Lager der »Modernisierer« im IG-Metall-Apparat zugerechnet wird, der Betrieb. Hier entscheide sich die Zukunft der Gewerkschaft. Allerdings müsse die IG Metall ihren Betriebsbegriff weiterentwickeln. Die dramatische Zunahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse – wie Leiharbeit, Werkverträge und Praktika – habe einen »Betrieb neuen Typs« hervorgebracht. Dieser bestehe nicht mehr aus einer einheitlichen Belegschaft, »sondern aus einem tendenziell kleiner werdenden Kern an Mitarbeitern und einem wachsenden Rand von temporär in dem Betrieb eingesetzten Beschäftigten«. Die Betriebs- und Mitbestimmungspolitik der IG Metall sei jedoch »immer noch auf den Stammbetrieb und seine Belegschaft ausgerichtet«, so Wetzel selbstkritisch.
Die Argumentation des IG-Metall-Vizes, den Betrieb mit allen Beschäftigungsformen zum Fokus gewerkschaftlicher Organisierungsbemühungen zu machen, ist nachvollziehbar. Die Formulierung, die »betriebspolitische Dimension unseres Handelns« sei »die Basis für unsere gesellschaftspolitische Verankerung und Rolle, nicht umgekehrt«, läßt allerdings befürchten, daß darunter auch eine weitere Entpolitisierung verstanden werden könnte. Zudem könnte man die im Text verschiedentlich auftauchende Warnung, die IG Metall dürfe sich nicht selbst auf den Status einer Nichtregierungsorganisation (NGO) reduzieren, als Argument gegen eine dauerhafte und gleichberechtigte Zusammenarbeit mit den sozialen Bewegungen interpretieren.
Als zentrales Instrument zur gewerkschaftlichen Erneuerung sieht Wetzel den in den USA entwickelten »Organizing«-Ansatz, den er mit den Attributen mitglieder-, beteiligungs- und konfliktorientiert versieht. Es müsse diskutiert werden, welche Elemente der von den US-Gewerkschaften unter dem Etikett »Organizing« betriebenen Kampagnearbeit auf die bundesdeutsche Situation und speziell auf die IG Metall übertragen werden könne. »Es gilt, aus der Defensive der Sozialpläne und Abwehrkämpfe herauszukommen und einen deutschen Organizing-Ansatz zu entwickeln, der eine mitgliederorientierte Offensivstrategie darstellt«, schreibt Wetzel. Ob er aber tatsächlich eine kämpferische Ausrichtung und eine Demokratisierung der Gewerkschaft im Sinn hat, wird sich zeigen. Forderungen wie die nach »weniger Co-Management –mehr konfliktorische Auseinandersetzung« und »weniger Stellvertreterpolitik – mehr direkte Beteiligung und Übernahme von Verantwortung« hat man von Spitzenfunktionären hiesiger Gewerkschaften jedenfalls schon lange nicht mehr vernommen.
Artikel von Daniel Behruzi, zuerst erschienen in der jungen Welt vom 26.08.2008
Siehe dazu:
Organizing: Die mitgliederorientierte Offensivstrategie für die IG Metall
Acht Thesen zur Erneuerung der Gewerkschaftsarbeit von Detlef Wetzel, Jörg Weigand, Sören Niemann-Findeisen und Torsten Lankau (ohne Datum). Im Text einerseits ".. In Unternehmenskulturen, die auf Kurzfristigkeit aufbauen, stellen die Beschäftigten und ihre Interessenvertretung häufig den einzig wirklichen Kontinuitätsfaktor dar. Langfristiges Denken, der Erhalt von Arbeitsplätzen und sogar technologische Zukunftsfähigkeit müssen gegen das Management durchgesetzt werden, im Interesse der Beschäftigten und der Volkswirtschaft." (S. 6) und andererseits "Weniger Co-Management - mehr konfliktorische Auseinandersetzung" (S. 14).
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