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Updated: 18.12.2012 15:51
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Kein Mensch ist »asozial«

Anne Allex* zu Kontinuitäten und Brüchen einer Verunglimpfung / Teil II

Im ersten Teil ihres Beitrags über eine Veranstaltungsreihe Anfang des Jahres in Berlin, auf der auch betroffene Zeitzeugen zu Wort kamen, hatte sich Anne Allex insbesondere mit der historischen Stigmatisierung »Asozialer« während des Nationalsozialismus befasst. Im folgenden Teil II ihres Beitrags werden diverse Kontinuitätslinien über die beiden deutschen Staaten bis ins vereinigte Deutschland nach- und aufgezeichnet.

»Asoziale« Opfer?

Elvira Manthey, Opfer der rassistischen Hetze in der Nazi-Zeit, sprach bei der Veranstaltung über ihre Kindheit. Sie wurde mit vier Jahren mit ihrer zweijährigen Schwester aus ihrer Familie in ein Krankenhaus, später in ein Erziehungsheim gebracht. Beide Kinder wurden als »schwachsinnig« und »bildungsunfähig« bezeichnet. Die kleine Elvira wird vom Stress und den miserabeln Lebensbedingungen im Heim blasenkrank. Sie galt als »Bettnässerin« und wurde den anderen Kindern morgens täglich »vorgeführt«. Nach ähnlichen Schikanen dieser Art und der Tatsache, dass die Kinder weder Spielzeug hatten, noch sich unterhalten durften, wird Elvira vier Jahre später zu einer »ärztlichen Untersuchung« verbracht. Alle Kinder müssen sich ausziehen, ein Arzt sieht in die jeweilige Akte und schickt Kind für Kind in einen Raum hinter einer Stahltür. Zum Schluss wird Elvira – bereits entkleidet – hinter einem Wärter vergessen und dann zum Anziehen aufgefordert und in ein vergittertes Verlies gebracht. Alle anderen Kinder werden vergast, auch ihre kleine Schwester Lisa. Erwachsene Menschen wie der junge Heinrich Pister, der nach Alkoholkonsum zu »Krawall oder Unfug« neigt, bringt dieses Verhalten letztlich 1942 in das KZ Dachau, in dem er drei Monate nach der Inhaftierung stirbt.

Die rassistische Volkskörperpropaganda ermöglichte jedem und jeder die Denunziation von anderen Menschen, die sich nicht im Herrschaftssinne der Nazis verhielten. Und es wurden nicht nur Menschen wegen ihrer Lebensform denunziert, sondern auch wegen ihrer Position zu offiziellen politischen Verlautbarungen und zur aktuellen Politik. Frank-Uwe Betz hat sich in seiner Heimatstadt Schwetzingen der Mühe unterzogen herauszufinden, warum jemand unter der NS-Herrschaft zu Tode kam. Er stößt bei seinen Untersuchungen auf kleine Selbständige wie Gewerbetreibende, Händler, Pächter, Pensionsbetreiber. Widerspenstige, Widerstehende oder sich einfach von der Politik Abwendende werden wegen kritischer Bemerkungen zur offiziellen Politik von Nachbarn, Gästen oder Angestellten denunziert. So Marie Schwarz. Noch beim ersten Mal wird sie wegen »Hetze« nur zur Haft verurteilt, beim zweiten Mal wird sie zum Tode wegen wiederholter wehrkraftzersetzender Hetze gegen den Staat verurteilt und in Plötzensee ermordet.

Rehabilitation und Entschädigung der NS-Opfer

Im Bewusstsein der Opfer ist die Bezeichnung »asozial« eine Schmähung und Verunglimpfung. Während sie sich selbst in der Regel nicht als »asozial« begreifen, bezeichnen sie andere Menschen aber durchaus so. Da die Opfer selbst den Begriff als solchen und seinen Entstehungszweck nicht durchschauen, können sie keine Gruppenidentität aufbauen und keine Vertretung organisieren, die allgemein nach Rehabilitation und Entschädigung verlangt. Die Zuschreibung in den Opferakten existiert noch immer, auch bei inzwischen Verstorbenen. Die Opfer und ihre Nachkommen verlangen eine öffentliche Anerkennung, dass die Stigmatisierung als »Asoziale« durch ein öffentliches Wort aufgehoben und in einem individuellen Dokument nachgewiesen wird. Vereinzelt haben Opfer des NS-Staates, die wegen der Bezeichnung als »Asoziale« schweres Unrecht erlitten haben, in verschiedenen Bundesländern Anträge an Härtefonds wegen gesundheitlicher Schäden gestellt. Eine Bundesstiftung dafür gibt es nicht. Andere Rehabilitationsvorhaben des deutschen Staates sind ebenfalls nicht bekannt.

»Asozial« in der DDR

Landläufig wird das Adjektiv »asozial« gern benutzt, um sich von Leuten, die unzuverlässig, alkoholkrank oder unverbindlich sind, die wegen ihrer abgerissenen und schmutzigen Kleidung nach außen hin auffallen, als verwahrlost gelten oder die keiner Erwerbs-»Arbeit« nachgehen, abzugrenzen. Angeblich können bzw. wollen diese Menschen sich nicht in die Gemeinschaft einfügen, deren Regeln nicht erkennen oder anerkennen. Auf Grund dieser pauschalen Unterstellung werden Menschen heutzutage als »nicht sozial« und »nicht bindungsfähig« abgestempelt.

In der DDR galt der Begriff »asozial« vor allem als Synonym für alkoholkranke oder die Arbeit meidende Menschen. Nach den Denklinien des Nationalsozialismus fanden sich in einem DDR-Wörterbuch unter »asozial« folgende Wortgruppen: »die Gesellschaft schädigend«, »gemeinschaftsfeindlich«, »volksfeindlich«, »gemeinschaftsunfähig« oder »verbrecherisch« [1]. In der DDR drohten nach dem Paragraph 249 des Strafgesetzbuches für »asoziale« Lebensweise zwei Jahre Haft. Doch der Paragraph wurde auch gegen Aufmüpfige und politisch Missliebige angewandt. »Um als asozial zu gelten, reichte es, sich einer zugewiesenen Arbeitsstelle zu verweigern. Aber aufmüpfige Jugendliche konnte es ebenso treffen wie Menschen mit sozialen Problemen, die man quasi in den Knast entsorgte.« [2] Für solche Menschen konnte eine Verurteilung nach § 249 StGB/DDR in weitere Haftstrafen münden. Nach der Entlassung bekamen sie oft nur eine miserable Wohnung und einen schlechten Job mit Arbeitsplatzbindung und zahlreichen Auflagen zugewiesen. Überwiegend wurde der Begriff »asozial« jedoch auf diejenigen angewandt, die nicht an der Arbeit teilnehmen wollten bzw. konnten.

»Asozial« im vereinigten Deutschland

In der Bundesrepublik steht »asozial« für »unfähig zum Leben in der Gemeinschaft« oder »am Rande der Gemeinschaft lebend« [3] . Derartige Begriffe wurden in den 1970er Jahren für die Mitstreiter der APO, für Gammler, für Punks und andere nicht genehme Gruppen verwendet, meist für Alkoholkranke und immer noch auch für körperlich und geistig Behinderte. Im Kern jedoch werden alle Gruppen, die sich zur NS-Zeit unter dem Begriffsschirm »Asozial« wiederfanden, auch heute noch mit diesem Adjektiv betitelt. Vor 2005 wurde der Begriff »Asozial« vor allem für Sozialhilfebeziehende verwandt. Mit Hartz IV gibt es einerseits eine Verschärfung der materiellen und sozialen Situation vieler Bedürftiger und Erwerbsloser; andererseits nehmen seitens der Politik und spezieller Medien gezielte Hetze gegen sie, abwertende Bemerkungen und Diskussionen oder ihre Zurschaustellung zu. Unternehmern kommt ein Begriff wie »Minderleister« ganz natürlich über die Lippen. In Ostdeutschland wird über die Zunahme der »Assis« und der »faulen Erwerbslosen« geschimpft. Die Medien verbreiten Stereotype wie »Sofaplattsitzer«, »süchtige Fernsehgucker«, »Hartz IV-Stelzen«, »durch schlechte Ernährung und zu wenig Bewegung fettwerdende Nichtstuer«. Hinter ihrem Rücken werden Hartz IV-Beziehende naserümpfend als »ungepflegt«, »unmodisch« und »schäbig bekleidet« bezeichnet. Leierkastenartig wird ihnen »Bildungsferne« und »soziale Schwachheit« vorgeworfen. Nicht fehlen darf auch in der Berichterstattung des öffentlich-rechtlichen Fernsehens eine Sequenz über Kinder vor militärischen Computer-»Games«, um die Unfähigkeit armer Eltern anzuprangern. Dass Erwerbslose und Bedürftige wegen akuter Einkommensnot nicht am »normalen« gesellschaftlichen Leben teilnehmen können, wird außer beim Thema »Kinderarmut« kaum erwähnt. Stattdessen wird die »Hilflosigkeit« Alleinerziehender hervorgehoben, werden arme Eltern als Rabeneltern diffamiert. In Talkshows wird darüber diskutiert, ob man solchen Leuten nicht die Kinder wegnehmen müsste. Dieser Überlegung widersprach der Geschäftsführer des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Ulrich Schneider erschrocken und meinte, dass dies eine Bankrotterklärung an die deutsche Familienpolitik wäre.

Hartz IV heizt »Asozial«-Begriff an

Aktuell wird neben der wiederkehrenden Betitelung als »Asoziale« auch die Zuschreibung »nicht gemeinschaftsfähig« [4] verwendet. Eben weil der Begriff »asozial« weit ausdeutbar ist und verallgemeinerbare Zuschreibungen enthält, ist er auch fest verankert im Denken der Bevölkerung. Die »Asozial«-Zuschreibung erhält durch die mit Hartz IV verbundenen Entwicklungen neue Nahrung, weil viele Leute, die ALG II beziehen, ewig darum kämpfen müssen und dabei psychisch und mitunter auch physisch kaputtgehen, zunehmend nicht mehr arbeiten und kämpfen können. Ohne dass es wahrnehmbare Proteste gäbe, dürfen Erwerbslose öffentlich mit Stereotypen wie Sozialschmarotzer beschimpft werden. Das Feindbild vom »unnützen« Menschen ist heute wieder stärker denn je vorhanden. Jeder dritte Deutsche meint 2007: »Menschen, die wenig nützlich sind, kann sich keine Gesellschaft leisten« [5] , denn diese Menschen würden für den »Standort Deutschland« nur Kosten verursachen. Denken wir nur an die Jahrzehnte andauernde unwürdige Diskussion um die Sozialhilfe-Regelsätze, das heutige Geschacher der Regierung um weitere Kürzungen bei Hartz IV oder die kommunale Behördenwillkür – erwerbslose Hilfebedürftige werfen den Ämtern völlig ohnmächtig und ungläubig vor: »Die wollen uns verhungern lassen!« Deutlich wird dies auch an einer Politik, die Menschen in Abschiebeknäste steckt und ihnen nur Sachleistungen zugesteht, wenn es sich um keine für die Verwertung willkommenen Ausländer handelt.

Die Kapital-Ideologie vom Menschen als einem Kostenfaktor kostet deshalb heute wieder Menschen das Leben, weil sie verhungern, verdursten, mit ihrer psychischen Situation oder den Anforderungen der Ämter nicht klarkommen. Dass diese Logik dazu führt, dass auch in Kauf genommen wird, wenn Menschen wieder verhungern, legt die Frage nach Parallelen und Unterschieden zum NS-System nahe, und gerade auf die fließenden Übergänge muss ein genaues Augenmerk gelegt werden. Für Betroffene ist die Parallele manchmal schon sehr deutlich. So meinte eine Freundin: »In der neoliberalen Marktgesellschaft ist es gar nicht nötig, ›nichtsnutze Fresser‹ so auffällig wie im NS-System zu entsorgen. Heute geht das subtil, denn Menschen verhungern einfach. Sogar Toten (hier: dem Toten von Speyer, einem auf einem Hochsitz verhungerten Mann) [6] wird vorgehalten, ihre Eigenverantwortung nicht wahrgenommen zu haben.«

Dass es aber viele Menschen gibt, die aus ganz verschiedenen Gründen mit der im Sozialgesetzbuch II (Hartz IV) verankerten »Eigenverantwortung« zu ihrer »Aktivierung« komplett überfordert sind (ohne gleich gesetzlich bestellte BetreuerInnen zu benötigen) oder dies wegen ihrer individuellen psychischen Konstitution nicht leisten können, geht in einer einerseits wachsenden Ignoranz gegenüber Armen und einem andererseits wachsenden Hass auf sie unter. Letztlich sind alle sozialadministrativen Maßnahmen auf die Kostenentlastung gerichtet, um vor allem die Besserverdienenden und Unternehmen zu entlasten. Aus diesem Grunde geraten so genannte Unproduktive und Unprofitable wieder stark ins Visier der bundesrepublikanischen Gesellschaft.

Es erstaunt deshalb nicht, dass von Rehabilitation und Entschädigung der Opfergruppe »Asoziale« nicht die Rede war und ist. Denn sie kann keine Lobby haben, solange Arbeit als einzige Teilhabegrundlage von der Mehrheit der Gesellschaft gesehen wird. Ein Bruch mit dem Stigma »asozial« ist nur möglich, wenn im vorherrschenden Denken die Wichtigkeit jedes einzelnen Menschen in seiner Einzigartigkeit akzeptiert ist und mit dem Denken der Nützlichkeit von Menschen rigoros gebrochen wird.

* Anne Allex ist Wegeweiserin in sozialpolitischen Landschaften und arbeitet freiberuflich in Berlin. Siehe: www.anne-allex.de externer Link

Erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 6-7/08


Anmerkungen

(1) H. Gröner, H. und G. Kempcke: Synonymwörterbuch, Leipzig, 1973, S. 69

(2) »Aufsässig oder arbeitsscheu?«, Film von Peter Grimm, mdr, 16. August 2007

(3) Die deutsche Rechtschreibung. Der Duden, 1996, Dudenverlag Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich, S.126

(4) http://hpd-online.de/node/3715 externer Link [1] Bundesprüfstelle 29. Jan 2008,Nr. 3715, Großer Ärger um ein kleines Ferkel – BONN. (hpd) Bundesfamilienministerium will religionskritisches Kinderbuch indizieren: Im Oktober 2007 kam das satirische Kinder- und Erwachsenenbuch »Wo bitte geht’s zu Gott? fragte das kleine Ferkel« von Michael Schmidt-Salomon und Helge Nyncke auf den Markt und fand sehr bald eine große Fangemeinde. Auch Pädagogen und Psychologen waren von der frechen, kleinen Geschichte (»Dawkins for Kids«) angetan. So urteilte der renommierte Kinder- und Jugendpsychiater Prof. Dr. Peter Riedesser, Direktor der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, das Buch sei »als Gegengift zu religiöser Indoktrination von Kindern pädagogisch besonders wertvoll«. Ursula von der Leyens Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sieht die Sache jedoch völlig anders: Das Ministerium beantragte die Indizierung des Kinderbuchs als jugendgefährdende Schrift. Im ministerialen Indizierungsantrag wird behauptet, das Buch sei »geeignet, die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen oder ihre Erziehung zu einer (sic!) eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu gefährden«. Jugendgefährdend seien Medien, »wenn sie unsittlich sind, verrohend wirken, zu Gewalttätigkeit, Verbrechen oder Rassenhass anreizen«.

(5) Deutsches Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung Bielefeld. Balkendiagramm Deutsche Ansichten, Tagesspiegel, 14. Dezember 2007.

(6) Siehe z.B. http://del.icio.us/allex58/Tod externer Link


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