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Updated: 18.12.2012 15:51
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Martin Dieckmann

Hegel reloaded? - Die Zivilgesellschaft im politischen Diskurs der Gegenwart

"Zivilgesellschaft" gehört zu jenen Begriffen, von denen alle zu wissen meinen, was damit gemeint ist, aber nicht, was es denn ist. Begriffsgeschichtlich stellt "Zivilgesellschaft" ein Amalgam aus unterschiedlichen, sogar gegensätzlichen Bedeutungen dar und scheint sich gerade durch die sprachlich-begriffliche Unklarheit hervorragend für den politischen Einsatz zu eignen. Politik- wie sozialwissenschaftlich hat sich der Begriff als Schlagwort mehr oder weniger verbraucht. Um so interessanter ist daher die Frage, warum er in den politischen Diskursen der Gegenwart derart raumgreifend geworden ist.

Das reine Meinen und damit die begriffliche Unklarheit ist so weit übereinstimmend, dass man unter Zivilgesellschaft eine Sphäre des Politischen und Sozialen versteht, die zwischen den offiziellen Instanzen des Staates und der privaten Sphäre liegt und - dies ist der vielleicht entscheidende und auch strittigste Aspekt - zwischen diesen Sphären vermittelt. Vor allem in den liberalen Demokratien Westeuropas haben zuletzt jene, die früher eine fundamentalkritische Sicht der "Zivilgesellschaft" artikulierten (etwa in der marxistischen Tradition einer Staatstheorie als Staatskritik), den kritischen in einen emphatischen Begriff verwandelt. Rein begriffsgeschichtlich - damit aber auch politisch vielsagend - tritt so die Civil Society angelsächsischer Provenienz an die Stelle der bürgerlichen Gesellschaft des Kapitalismus und deren Staat. Aber wiederum nur in der Theorie.

Der Preis, den diese Verschiebung im politischen Diskurs kostet, ist eine Oberflächenschau gesellschaftlichen Geschehens, die prägend fürs politische Feuilleton und damit den intellektuellen Mainstream geworden ist. Ausgeblendet wird der Gesamtzusammenhang von Politik, Ökonomie, Kultur und Ideologie, und zwar als von Macht- und Herrschaftsverhätltnissen strukturierter Zusammenhang. Hinübergerettet in diese Oberflächenschau werden dagegen Versatzstücke linker, libertärer Staatskritik, die zuvor freilich gebunden war an emanzipative, oppositionelle soziale und politische Bewegungen. Das Schicksal der "Zivilgesellschaft" im politischen Einsatz ist also ähnlich dem anderer, früher einmal freiheitlich-emanzipativ gerichteter Begriffe, die nunmehr unisono den "neuen Geist des Kapitalismus" ausmachen: der Markt und das Soziale spiegeln sich fortlaufend ineinander, unter der Hand verschwinden die Freiheiten der Einzelnen in der radikalen Ökonomisierung des Sozialen.

Wird unter diesen Bedingungen die Zivilgesellschaft angerufen oder beruft man sich auf sie, handelt es sich zumeist um ein kompensatorisches Bedürfnis: Es soll der auseinanderdriftenden Gesellschaft, gegen die Erosion des Sozialen, ein Kitt beigefügt werden, um den "sozialen Zusammenhalt" zu sichern. Nicht zufällig berühren sich hier die Diskurse über die Zivilgesellschaft mit denen über die Bürger- und Grundrechte. Während Letzteren zunehmend Pflichten zur Seite gestellt werden, wird eben "die Gesellschaft" aufgerufen, als Zivilgesellschaft das auszugleichen, was staatlicherseits nicht nur systematisch, sondern systemisch zerstört wird. Natürlich darf hier auch das Megawort der Gegenwart nicht fehlen - die "Globalisierung". Denn die Zivilgesellschaft bezeichnet exakt jenen sozialen und politischen Raum, den der Staat - scheinbar alternativlos und aufgrund höherer Mächte - preisgibt.

Ohne dieses Selbstbild des liberal-demokratischen und vormaligen Wohlfahrtsstaates ist der Siegeszug der Zivilgesellschaft im vorherrschenden politischen Diskurs nicht zu erklären. Das Selbstbild ist aber abgründig ideologisch - nirgends hat der Staat seine Souveränität abgetreten, Weltmärkte werden geöffnet und gegen andere geschlossen nach Abkommen zwischen Staaten. Und der nationale Sozialstaat ist mehr denn je präsent im sozialen Alltag der Bürger: freilich nicht mehr in der Variante des bürgerrechtlich begründeten Wohlfahrtsstaates, sondern als autoritärer Staat, der weit in die Lebenswelten der Einzelnen disziplinierend eingreift und damit elementare Grundrechte berührt. So hat die "Zivilgesellschaft" zweierlei Funktionen und darin ein und dieselbe Aufgabe: einerseits zusammenzuhalten, was die soziale und ökonomische Erosion auseinander treibt, andererseits das abzufedern, was der Staat "der Gesellschaft" abverlangt.

Wie aber soll eine Zivilgesellschaft möglich sein, wenn sie sich nicht institutionalisiert? Die Zivilgesellschaft als Institution braucht ihre eigenen Instanzen, und man hat dafür den früher einmal recht harmlosen Begriff der Nichtregierungsorganisationen (NGO) die entsprechenden Würden und Weihen verliehen. In Diktaturen oder Entwicklungsprojekten außerhalb der kapitalistischen Metropolen haben sowohl NGOs wie "Zivilgesellschaft" einen gänzlich anderen Platz und dementsprechend auch eine andere Bedeutung als in den politischen Diskursen hierzulande. Sie allgemein unter Dasselbe zu subsumieren, kommt nicht nur einer schlechten Abstraktion gleich, sondern denunziert sich selber angesichts der Macht- und Herschaftsverhältnisse weltweit als absurd. Dagegen findet hierzulande lediglich ein Umtaufen von Bestehendem statt: die traditionellen korporativen Instanzen (Verbände, Gewerkschaften usw.) werden zusammengebracht mit der (post?)modernen Korporation in "Netzwerken", öffentlich und privat alimentierten Projekten, die alles andere als frei sind von staatlicher Kontrolle, dafür aber weitgehend frei von öffentlicher Kontrolle.

Unverzüglich kommt einem hier der alte Hegel und seine Lehre von Staat, Korporationen und "bürgerlicher Gesellschaft" in den Sinn. Sah dieser doch in der Heterogenität einer durch Eigentum, Wettbewerb und vieler Freiheiten individualisierten "bürgerlichen" Gesellschaft die Notwendigkeit, dem Ganzen und dem Staat dadurch Festigkeit zu geben durch die vermittelnde Ebene eben der Korporatonen, sozusagen als "zweite Familie" die zweite, "in der Gesellschaft gegründete Wurzel des Staates" - freilich eines ganz und gar demokratiefreien Staates. Diese negative Vision zu durchbrechen, bedarf es eines neuen Verständnisses von Bürgerrechten - und zwar direkt bezogen auf den Staat und auf das Allgemeine und Öffentliche der Gesellschaft. Frankreich hat zuletzt bewiesen, wie mächtig die Cityoens sein können, wenn sie sich zu einer sozialen Bürgerrechtsbewegung formieren, und dies teils an der "Zivilgesellschaft" vorbei, teils durch sie hindurch.

Für die zentralen Konflikte der Gegenwart - und sie drehen sich samt und sonders um die sozialen Bürgerrechte - ist die sogenannte Zivilgesellschaft kein Programm, sondern lediglich Ensemble von Machtfeldern, auf denen die Kämpfe fürs Menschen- und Bürgerrecht ausgetragen werden müssen. Kommen diese nicht zum Tragen, steht "Zivilgesellschaft" letztlich für eine politische Privatisierung des Öffentlichen, für den späten Triumph Hegels über die res publica einer freien Gesellschaft von Freien.

Beitrag für "Glocalis Magazine", Wien 5/2006


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