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Updated: 18.12.2012 15:51
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An Petitionsausschuss des Deutschen Bundestags, Platz der Republik 1, 11011 Berlin
von Armin Kammrad, Augsburg

25.03.2007

Immer weniger Sozialstaat - immer mehr Kriminalität
Petition und öffentlicher Kommentar

Sehr geehrte Damen und Herren,

anbetracht der ungebrochen anwachsenden Kriminalität in Deutschland, fordere ich Sie auf, endlich dem Verfassungsauftrag des Grundgesetzes zur Schaffung von "sozialer Gerechtigkeit durch eine relative Umverteilung" (BVerfGE 69, 304) nachzukommen.

Da die Gefahr besteht, dass diese Petition als Beschwerde zu einem Thema (Hartz IV) eingestuft wird, dass vom Petitionsausschuss mehrheitlich als abgeschlossen betrachtet wird (vgl. Stellungsnahme des Petitionsausschuss unter BT-Drucksache 16/4438 oder Prot.Nr. 16/28 v. 21.03.2007), sehe ich mich zu folgender Vorbemerkung veranlasst:

Mein Thema ist nicht Hartz IV, sondern die Zunahme der Kriminalität in Deutschland. Dass hier ein gewisser Zusammenhang besteht, liegt nicht an mir. Außerdem ändert sich hieran nichts, wenn der Petitionsausschuss sich auf sein Recht beruft, existenzielle gesellschaftliche Auseinandersetzungen für sich als "abgeschlossen" abzuhacken (vgl. Stellungsnahme des Petitionsausschusses). Ferner wird es mir wohl niemand verübeln können, dass ich mich immer wieder den, von der jetzigen herrschenden Politik eingeschlagenen Weg, der Zerstörung von Sozialstaat und Demokratie, durch Petitionen entgegenzustellen versuche. Deshalb wende ich mich diesmal bewusst auch an eine breite Öffentlichkeit, da hier erfahrungsgemäß mehr an sozialem Verständnis und Sachlichkeit zu erwarten ist, als von einem offensichtlich ziemlich gleichgeschaltetem Gremium erwartet werden kann. Gerade bei den von Hartz IV Betroffenen muss solche "Antwort" des Petitionsausschusses Wut und Verzweiflung auslösen. Die Interessen von 65.978 Menschen, die sich über Hartz IV beschwert haben, werden per Beschluss einfach als nicht berechtigt abgehandelt. Dies noch dazu in einer Form, die sich darauf beschränkt, weitgehend nur die Ansicht der regierungsamtlichen Ideologie zu wiederholen, ohne sich auch nur ansatzweise mit der eigentlichen Sachproblematik auseinanderzusetzen.

Unverkennbar ist der Petitionsausschuss mehrheitlich von einer ziemlich eindeutigen Ideologie bestimmt. Die Interessen der Opposition werden, wie der abwiegelnde Umgang mit den Anträgen der Linksfraktion und der Grünen zeigt (vgl. BT-Drucksache 16/4438, S.43) gezielt - nicht nur hier - ausgeschaltet. Wenn die Mehrheit im Petitionsausschuss völlig ohne Nachweis behauptet, dass er "nicht zu erkennen" "vermag", dass der Regelsatz verfassungswidrig ist, so ist nicht zu übersehen, dass solche Aussage ohne Hinzuziehung von "Zeugen und Sachverständigen" (vgl. Gesetz nach Art. 45c GG § 4) getroffen wird. Es fehlt überhaupt jeder Bezug zur realen Praxis im Umgang mit SGB II. Eine bedauerlicher Weise legal an die Macht gekommene destruktive Ideologie (vgl. dazu besonders Albrecht Müller "Machtwahn - wie eine mittelmäßige Führungselite uns zugrunde richtet", Droemer, 2006) verteidigt ihren reaktionäre Kurs ohne jeden Ansatz einer Argumentation.

Eigentlich wäre nach dem herrschenden Staatsrechtsverständnis der Gesetzgeber gefordert, Gesetzeslücken zu schließen. Dies ignoriert der Petitionsausschuss. In keinem Punkt der Stellungsnahme wird auf die, immer wieder von den Gerichten monierten, häufigen Rechtswidrigkeiten durch die ARGEN eingegangen. Nicht zufällig wird deshalb nur auf ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts Bezug genommen, was vor der Änderung des Sozialrechts liegt. Damit soll davon ablenkt werden, dass die neue Sozialgesetzgebung im Grundtenor verfassungswidrig ist, was sich übrigens auch in vielen Urteilen der Sozialgerichte nach der weitgehenden Liquidierung des Sozialstaates mehr oder weniger widerspiegelt (vgl. dazu besonders die Stellungsnahmen von fachkompetenter Seite, z.B. in "Lehr- und Praxiskommentar SGB II, Nomos, 2007)

Daraus muss wohl der Schluss gezogen werden, dass Rechtwidrigkeit ganz bewusst von der Hartz-Gesetzgebung angelegt wurde; denn es kann nicht sein, dass die Verantwortlichen noch nie was davon gehört haben. Deshalb ist der in der Stellungsnahme vorgetragene "Missbrauch" unter rechtstaatlichen Gesichtspunkten sowie so ohne Belang. Ganz offensichtlich hat die herrschende Ideologie ihre "legale" Macht nur dazu benutzt, Voraussetzungen zu schaffen, damit die "staatliche Obrigkeit" möglichst ungestraft rechtwidrig verfahren kann. Man hofft hier scheinbar auf die Schwäche und Ohnmacht der Betroffenen und "beantwortet" 240 Petitionen ausschließlich machtorientiert; wer die Macht zur Unterdrückung anderer Menschen hat, muss sich offenbar nicht mehr inhaltlich mit Fakten auseinandersetzen. So bringt die Stellungsnahme nur die ganz persönlichen Interessen, einer zur staatlichen Herrschaft gekommene Ideologie, also einer ganz offensichtlich nur an Geld und Karriere orientierten Minderheit, zum Ausdruck (deshalb spreche ich auch immer von "herrschender Ideologie" oder von "herrschender Politik"). Der Inhalt dieser Ideologie wird sogar in dieser pauschalen Stellungsnahme an einer Stelle recht deutlich:

So sollen die Hinzuverdienstregeln seit Oktober 2005 dazu dienen, " um ALG II-Beziehern stärkere Anreize zur Aufnahme oder Weiterführung einer Beschäftigung im Niedriglohnbereich zu bieten" (S.39). Das ist wahr. Die ganze Hartz-Gesetzgebung wurde nur geschaffen, um im Interesse der Mächtigen in der Wirtschaft einen möglichst hohen Ausbeutungsgrad durch umfassende Durchsetzung eines Niedriglohnbereichs zu schaffen. Mindestens 50 Prozent neuer Stellen sind deshalb prekäre Zeitarbeit (vgl. SPIEGEL-Online 25.03.2007). Zwar muss es nicht so laufen, wie beim früheren für die Hartz-Gesetzgebung zuständigen Minister, der unmittelbar nach seiner Regierungsposition einen gut dotierten Posten im Vorstand eines für Zeitarbeit zuständigen Konzerns antrat, nicht zu übersehen ist jedoch, dass Interesse der herrschenden Politik ihre Machtposition für die Interessen der Konzerne zunutzen, um dort spätestens nach Ende der Amtszeit für diese Liquidierung zu kassieren.

Verfassungsrechtlich ist dieses Vorgehen "legal". Es ist eher eine Lücke im Grundgesetz, dass das viel beschworene "Gewissen" der Abgeordneten sich schnell in ein reines Schielen auf persönliche finanzielle Vorteile verwandeln kann; dazu zahlen die Konzerne viel zu gut und "Geld stinkt bekanntlich nicht". Legal ist auch eine Regierung ohne starke Opposition, obwohl die große Koalition nicht dem Wählerwillen entspricht. Selbst das Lügen ist legal; denn niemand muss ja das glauben, was da die herrschende Politik erzählt, oder, wie es die Mehrheit im Petitionsausschuss selbst ausdrückt: "Die Bürger konnten deshalb nicht darauf vertrauen, dass eine für sie bestehende Rechtsposition auch in Zukunft unverändert fortbestehen werde" (S.42).

Allerdings kam die jetzige sozial- und demokratiefeindliche Ideologie nur legal an die Macht, weil von den Regierenden zu viel erwartet wurde. Sie soll der Sozialstaatsverpflichtung des Grundgesetzes, Artikel 20 nachkommen. Sie selbst verweist, wie die Stellungsnahme der Mehrheit des Petitionsausschusses zeigt, auf ihren "gerade im Bereich der Sozialgesetze (.) weiten Gestaltungsspielraum" (S.43). Ob dies selbst die Durchsetzung von Zwangsarbeit rechtfertigt, ist die eine Fragestellung. Die andere ist, dass aus Sicht der Verfassung niemand darauf beschränkt ist, nur eine verfassungsgemäße staatliche Schutzpflicht einzufordern. Die Grundrechte des Grundgesetzes sind vielmehr " in erster Linie dazu bestimmt, die Freiheitssphäre des einzelnen vor Eingriffen der öffentlichen Gewalt zu sichern, sie sind Abwehrrecht des Bürgers gegen den Staat", meint die höchstrichterliche Verfassungsrechtsprechung (vgl. BVerfGE 7, 198, 204f; 68, 193, 205). Niemand, der in seinen Grundrechten durch den Staat angegriffen wird, muss also diesen permanent an seine sozialen Schutzpflichten erinnern, sondern kann Eingriffe des Staates auch direkt abwehren.

Meine jetzige Petition behandelt ausführlich ein allerdings beängstigendes anderes Phänomen: die zunehmende Kriminalität. Hier ist der Einzelne jedoch besonders hilflos. Die wesentlichste Ursache, nämlich die Liquidierung von Sozialstaat und Demokratie, wäre nur durch einen Regierungswechsel zu beseitigen. Die Regierung selbst wiederum beseitigt nicht die sozialen Ursachen für die Zunahme von Gewalt und Kriminalität. Die jetzige Antwort des Petitionsausschusses macht auch dies anschaulich: Gegenüber Ohnmacht, Hilflosigkeit und Existenzangst der von der reaktionären Sozialpolitik existenziell Betroffenen wird pure Macht ausgespielt: Wenn "gravierende Einschnitte (.) in das bisherige Leistungsgefüge zur Konsolidierung der Staatsfinanzen und zur Sicherung der Sozialsysteme notwendig" sein sollen (S.43), stellt sich jedoch die Frage, warum dann die herrschende Politik nur noch die Reichen beschenkt und den Klassengegensatz zwischen Arm und Reich, der maßgebliche Basis für Gewalt und Kriminalität ist, immer weitertreibt.

Wie der Bundesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei, Konrad Freiberg, gegenüber der "Neuen Osnabrücker Zeitung" am 23.03.2007 darlegte, ist der " Trend zur Gewalt (.) ungebrochen. Besonders die Zahl gefährlicher und schwerer Körperverletzungen ist deutlich gestiegen" Dabei verweist Freiberg besonders auf die zunehmende Gewalt durch Jugendliche. Auf die beängstigende Zahl von 909 rechtsextremistische Straftaten, darunter 58 Gewalttaten, allein im Januar 2007, wies unabhängig von Konrad Freiberg, bereits am 18.03. die Bundestagsabgeordnete Petra Pau in einer Pressemitteilung hin.

Bisher hat die Bundesregierung nichts unternommen um der Zunahme der Kriminalität zu begegnen. Zwar werden permanent Verbote und neue Straftatbestände konstruiert, doch fehlt es bisher an jeglicher Bereitschaft das Problem substanziell anzugehen. So wird die entscheidende Ursache der zunehmenden Gewaltbereitschaft, die nach Konrad Freiberg " Ausdruck eines erschreckenden Verfalls von Werten in einer Gesellschaft" ist, "in der oben und unten immer weiter auseinanderdriften ", von der gesetzgebenden Politik ignoriert. Vielmehr verstärkt diese durch eine aktive Entrechtung des wertschaffenden Teils der Bevölkerung sowie durch gewaltsame Umverteilung von unten nach oben eine fortschreitende Teilung der Gesellschaft in Arm und Reich noch.

Dabei spricht selbst das, der herrschenden Wirtschaftsideologie nahestehende, Deutsche Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) mittlerweile von einer "Verfestigung der Armut in Deutschland" (vgl. SPIEGEL-Online " Kein Entkommen aus der Armutsfalle" v. 21.03.2007). Dies obwohl sich die Produktivität pro Arbeitsstunde in Deutschland von 2004 auf 2006 nahezu verdreifacht hat und gegenwärtig sogar deutlich über die der USA liegt (vgl. http://ggdc.net externer Link). Davon kommt beim produktiven Teil der Bevölkerung nur kaum was an. Am wenigsten wird, entsprechend der verfassungsrechtlichen Verpflichtung zur staatlichen Fürsorge, an die durch soziale Benachteilung gehinderte freie Entfaltung ausgegrenzter Bevölkerungsgruppen gedacht (vgl. BVerfGE 69,304f). Stattdessen ist das Vermögens- und Gewinneinkommen, nach Angaben des Statistischen Bundesamtes, 2006 mehr als doppelt so stark gestiegen wie das Bruttoinlandsprodukt, was nichts anderes bedeutet, als dass 2006 der Vermögens- und Gewinnanstieg vor allen durch ein extremes Leben auf Kosten Anderer realisiert wurde.

Wie wichtig für den Bestand einer demokratischen Ordnung eine gerechte und an sozialstaatlichen Grundsätzen orientierte Verteilung des gesellschaftlichen Vermögens ist, machte die herrschende Staatsrechtslehre wiederholt deutlich. So ging noch Peter Mrozynski 2003 in seinem Kommentar zum SGB I vom Ideal eines Gesetzgebers aus, der sich seiner Aufgabe "der Schaffung sozialer Gerechtigkeit durch eine relative Umverteilung" bewusst ist und der realisiert," dass die Sicherheit, die der Staat seinen Bürger zu gewährleisten hat, nicht nur mit polizeilichen Mitteln, sondern auch mit denen des Sozialrechts anzustreben ist" (vgl. C.H.Beck, München, 3.Aufl. Rdnr.4). Stattdessen wurde im Sozialrecht der "Sozialbetrüger" in Gestalt des "Faulenzers" und des das Sozialsystem angeblich belastenden Mensch aus anderem Kulturkreis in der Öffentlichkeit in schillernden Farben gezeichnet. Entscheidend für die Zunahme der Kriminalität ist jedoch die fehlende soziale Ausrichtung der herrschenden Politik in Deutschland. Deshalb wird ohne ein menschwürdiges Existenzniveau, ohne die Sicherung der Freiheit aller, die Kriminalität in der Gesellschaft zwangsläufig zunehmen. Woher soll soziales Verhalten kommen, wenn selbst die politisch herrschenden Kräfte sich nicht sozial verhalten?

Die herrschende Politik erregt sich über sog. "Killerspiele"; sie selbst stimmt jedoch für Mord und Terror in Afghanistan und gibt so ein Beispiel dafür, dass man nur Macht besitzen muss, um durch nackte Gewalt anderen Menschen seinen Willen aufzuzwingen. Zwar wettert man über jeden Versuch von Hartz II-Beziehern, sich ein Bisschen mehr an Geld durch unvollständige oder falsche Angabe zu erhalten, wie der Bundeswehr Obersleutnant Jürgen Rose nun enthüllte, haben jedoch verantwortliche Politiker keinerlei Scheu, die Abgeordneten zu belügen. Zur Erinnerung: War es nicht der CDU-Abgeordnete Willy Wimmer, der im Frühjahr 2000 zum neokolonialen NATO-Angriffskrieg im Kosovo im Bundestag erklärte: "Noch nie haben so wenige so viele so gründlich belogen wie im Zusammenhang mit dem Kosovo-Krieg". Wird es auch bei den Kriegslügen bezüglich Afghanistan wieder Abgeordnete geben, die - wie Herr Wimmer - sich ein Jahr später eingestehen müssen, "dass manipuliert worden ist und dass wir vorgeführt worden sind" ? (vgl. Interview mit Petra Ensminger, Deutschlandradio, 10.02.2001) Nur "Lügen haben nicht nur kurze Beine", sie wirken gesellschaftlich destruktiv, weil sie aus einem Rechtsstaat einen Staat von Rechtsverdrehern machen. Hat derjenige, der die Macht hat auch das Recht Unrecht als Recht durchzusetzen?

Eine Politik, die permanent lügt, Konflikte nicht friedlich sondern mit extremer Gewalt angeht, oder gar - wie die Affäre "Steinmeier" zeigt - sich mit mutmaßlichen Menschenrechtsverletzungen und Verfassungswidrigkeiten hinter Machtkompetenzen versteckt (dafür soll die Opposition vom heutigen "Staatsschutz" allerdings kontrolliert werden), kann keine friedliche und soziale Politik gewährleisten. Wo bitte ist hier die Vorbildfunktion? Soll sie etwa in der viel gepriesenen "Eigenverantwortung" (vgl. SGB II § 1) bestehen? Wie soll das funktionieren? Worin besteht die vom Petitionsausschuss favorisierte " Möglichkeit des Einzelnen, sich selbst zu helfen" ? (vgl. BT-Drucksache 16/4438, S.41)

Die Arbeitsplatzvernichter bekommen permanent Steuern geschenkt, und es werden passende Gesetze zur gezielten Arbeitsplatzvernichtung sowie zur zwangsweisen Durchsetzung prekärer Arbeitsbedingungen gemacht. Die Opfer dieser ausschließlich an Rendite und späteren Karriere in irgendwelchen Vorständen orientierten Gesetzgebung, werden als "Faulenzer" beschimpft und mit Kürzung bis aufs Hungerniveau irgendeiner (auch notfalls kriminellen?) "Eigenverantwortung" gedrückt. Und wie die ganzen Schonurteile für kriminelle Manager zeigen, macht es offensichtlich einen großen Unterschied, ob man als reicher oder armer Mensch kriminelle Handlungen begeht. " Manager müssen in Deutschland nicht hinter Gitter", stellt der Jura-Professor Hans-Peter Schwintowski anlässlich der jüngsten milden Urteile im Berliner Bankenskandal fest (vgl. SPIEGEL-Online 21.03.2007). Woher sollen jedoch die Armen das notwendige Geld nehmen, um sich notfalls von harter Strafe freikaufen zu können? Nein, wie der Berliner Bankenskandal anschaulich zeigt, bezahlen die Einen die Kapitalverbrechen der Anderen durch gekürzte Sozialleistungen, damit das Land Berlin aus dem Steuerpott den Schaden krimineller Managermachenschaften ausgleichen kann. Die Armen finanzieren so nicht nur die Reichen, sondern sogar die finanziellen Folgen der Straftaten der Reichen.

Die gepriesene "Eigenverantwortung" spielt nicht nur im Sozialrecht eine äußerst negative Rolle. Nicht nur hier lernen junge Menschen, dass soziales Verhalten nichts zählt, sondern sich alles in unserer Gesellschaft nur ums Geld dreht. Trotz der Zunahme von nicht existenzsichernden Löhnen, soll gerade all denjenigen in die Tasche gegriffen werden, deren Anteil am gesellschaftlichen Reichtum immer geringer ausfällt. Nach der Rentenreform und der Gesundheitsreform soll nun auch in der Pflegeversicherung mehr "Eigenleistung" erbracht werden. Auf der anderen Seite werden unter der populistischen Formel "Lohnnebenkosten" die Unternehmen von ihrer Sozialverpflichtung mehr und mehr entlastet (wirtschaftlich betrachtet ein staatlicher Eingriff in Lohn- und Gehaltsvereinbarungen unter dem Deckmantel der Sozialgesetzgebung zugunsten der Kapitalseite). Zusätzlich werden mit 1-Euro-Jobs und anderen Formen von (fast) kostenloser Arbeitskraft, sozialversicherungspflichtige Tätigkeiten mehr und mehr zerstört. Dies belegt auch eine neuere Studie des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Danach bekamen nur 2,3 Prozent der Praktikanten eine feste Stellung, d.h. 97,7 Prozent dienten nur dem Zweck erhöhter Selbstbereicherung des Betriebs. Ist das wirklich zumutbar? Nahezu problemlose betriebsbedingte Kündigungen, Erpressung mit Standortsverlagerung sowie Vertragsfreiheit bis zur Sittenwidrigkeit auf der einen, und staatliche Zwangsverpflichtung sich diesem Klassenkampf zu beugen, auf der anderen Seite?

Natürlich können notwendige Gelder für soziale Zwecke nur von dort kommen, wo Werte erzeugt werden. Die jetzige Politik predigt jedoch lieber im Interesse der Banken und Versicherungen "Eigenverantwortung", also Egoismus statt sozialem Verhalten. Jeder soll möglichst nur noch an sein Wohl denken, nicht andere unterstützen, also im Kleinen genau das praktizieren, was die dahinter stehenden wirtschaftlichen Interessengruppen selbst so erfolgreich vormachen: Abkehr von jeglicher sozialen Verpflichtung, d.h. Junge nicht mehr für Ältere, Gesunde nicht mehr für Kranke, Vermögende nicht mehr für Mittellose usw. Die gepredigte "Eigenverantwortung" ist vom Grundgedanken her asozial. Der nur an sich denke Kriminelle ist so weltanschaulich angelegt. "Eigenverantwortung" oder "schau zu wie du durchkommst" ist die herrschende Ideologie - und entsprechend füllen sich auch die Gefängnisse.

Wie Reinhold Zippelius in seiner "Allgemeinen Staatslehre" feststellte, sind Gesetze und Normen wesentlich für die gesellschaftliche Stabilität und Ordnung. " Ohne sie gibt es keine soziale Stabilität. Ihr Fehlen beunruhigt die Einzelnen auch psychisch." (Reinhold Zippelius "Allgemeine Staatslehre - Politikwissenschaft", 13.Aufl., C.H.Beck, 1999, S.38). Es kommt jedoch entscheidend darauf an, was für Normen Stabilität gewährleisten sollen und ob die jeweiligen Normen diesem Anspruch überhaupt gerecht werden. Typisch für den totalitären Staat ist nach Zippelius nicht allein die unmittelbare Unterdrückung im Interesse von Sicherheit und Stabilität des Systems. Die Totalität setzt bereits mit der staatlichen Lenkung der Meinung und der wirtschaftlichen Planung ein: " Im totalitären Staat werden die sozialen Kräfte auch schon im vorrechtlichen Bereich - insbesondere durch Meinungslenkung und Wirtschaftsplanung - von staatlicher Seite koordiniert." (a.a.O., S.242). "Eigenverantwortung" ist eine solche vorrechtliche totalitäre Wirtschaftsplanung in Verbindung mit einer Propagandaschlacht für mehr Individualismus und für eine auf Eigennutz statt sozialer Verantwortung geprägten Gesellschaft.

Auch arbeitslose Jugendliche bekommen dies mit aller Härte zu spüren und werden heute mit einer Vielzahl von Normen für mehr Sicherheit und Ordnung konfrontiert. So wurden im Geltungsbereich von SGB II von Anfang an Jugendliche bis 25 Jahre besonders restriktiv angegangen. Selbst der Wille nach Unabhängigkeit vom Elternhaus wird nach SGB II § 22 Abs. 2a mit Sanktionen bedroht, obwohl dieses Bestreben weder die Sicherheit noch die Ordnung der Gesellschaft bedrohen würde. Bedroht wird sie erst durch eine Gesetzgebung, welche im Fall von Arbeitslosigkeit Jungsein besonders sanktioniert. Verbunden mit einer in Deutschland besonders stark von der sozialen Herkunft geprägten Bildungspolitik (vgl. dazu vor allem die jüngsten Aussagen des UN-Sonderberichterstatters für das Recht auf Bildung, Vernor Muñoz), kann es nicht überraschen, dass Gewalt unter Jugendlichen reziprok zu deren sozialer Ausgrenzung und Unterdrückung zunimmt. Sozialsein ist eben nicht mehr IN, Selbstbehauptung ohne Rücksicht auf Verluste wird gelehrt - auch an der, von der Bertelsmann-Stiftung durchgesetzten, Ausrichtung der öffentlichen Bildung an Renditeinteressen.

"Alkohol spielt gerade bei Gewaltdelikten eine zentrale Rolle", erklärt Konrad Freiberg gegenüber der "Neuen Osnabrücker Zeitung" (a.a.O.). Dabei geht es weniger darum, ob Jugendliche nun schlecht Alkohol vertragen, wie Freiberg meint, sondern wie stark die verantwortliche Politik diesem Teil der Bevölkerung eine akzeptable Zukunftsperspektive vermitteln kann. Andernfalls besteht die Gefahr, dass ausgegrenzte Jugendliche sich eben selbst und entsprechend ihrer Vorstellungen ein ihnen passendes soziales Umfeld schaffen (was immer dies konkret auch bedeuten mag). Gemeinsam Saufen schafft dann "Freunde". Auch kriminelle Aktivitäten bekommen dann eine Ersatzweltfunktion. Wenn Freiberg erschreckt feststellt; "Die Fälle von Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte nehmen drastisch zu" (a.a.O.), sollte nicht übersehen werde, dass es ja in der Regel Vollstreckungsbeamte sind, die gegen Jugendliche eine Gesetzgebung durchsetzen - eben vollstrecken - sollen, die Sicherheit und Ordnung über alles andere stellt. Die Gewalt zwischen Ordnungskräften und gewalttätigen Jugendlichen ist Ausdruck einer gestörten Kommunikation, die zum unmittelbaren Kampf zweier sich immer mehr antagonistisch entwickelnder Vorstellungen von "Ordnung" werden kann. Gegenwärtig zeigt besonders England, wie die Angst vor nicht handsamen Jugendlichen leicht ins Psychopathische übergehen kann. Wie dort einerseits wachsende Angst vor größeren Ansammlungen von Jugendlichen aufkommt, wächst andererseits bei Jugendlichen die Angst vor permanenter und völlig ungerechtfertiger Verfolgung und fehlender Sicherheit vor staatlichen Eingriffen. Wie Thomas Pany kürzlich berichtete, sollen in England nun sogar Kinder bereits ab Geburt permanent auf ihre gewünschte Entwicklung hin überwacht werden (vgl. http://www.heise.de/tp/r4/artikel/24/24873/1.html externer Link). Hier schafft eine psychischkranke Gesellschaft bereits ihre adäquaten Nachfolger.

Der bekannte deutsche Psychologe und Psychoanalytiker Fritz Riemann stellte bereits in den 60ziger und 70ziger Jahren in seiner tiefenpsychologischen Studie "Grundformen der Angst" zur zwanghaften Persönlichkeit fest: "Die Politik reizt den Zwanghaften aus Machtgesichtspunkten besonders; hier kann er seine Machtwünsche am legitimsten ausleben (.). Allgemein gesehen neigt er mehr zum Konservatismus und dazu, der jeweiligen Partei oder dem vorhandenen Regime treu zu bleiben, nicht zuletzt aus der Einstellung, dass das Alte immer erprobt und bekannt ist." (Fritz Riemann "Grundformen der Angst", Ernst Reinhardt Verlag, München Basel, 1991, S.153). Da Jugendliche in der Regel auf Veränderung aus sind, ist die Ablehnung der Jugend ein häufig anzutreffendes Phänomen zwanghafter Persönlichkeiten, die wiederum die freie Entwicklung von Kindern "für die später konstruktiven und gestalterischen Fähigkeiten schon im Keim erstick(en)" wollen (a.a.O., S.151). Allerdings schlägt Riemann für die zwanghaft auf Sicherheit und Ordnung fixierten Menschen eine Gegentherapie vor: "Sie sollten den Gegenimpuls der Bereitschaft zur lebendigen Wandlung mehr integrieren und das wagen, wogegen sie glauben sich sichern zu müssen" (a.a.O., S.155).

Nimmt eine auf zwanghaftes Verhalten abzielende Politik allerdings überhand, wird sich eine neue Generation mit neuen gesellschaftlichen offenen Umgangsformen irgendwann ggf. auch mit Gewalt gegen eine Gesellschaft mit deutlich psychopatischen Zügen wehren. Bei allem Gerede von Ordnung und Sicherheit wird jedoch immer mehr Menschen klar, dass es um eine bestimmte, nur für einen kleinen vermögenden Teil der Bevölkerung lukrative Wirtschaftsordnung geht und bei allem, was Sicherheit betrifft, nur auf deren Absicherung gegen eine vorrangig sozial orientierte, starke Opposition gezielt wird. Warum sonst wird in herrschenden Kreisen permanent der Einsatz der Bundeswehr verlangt? Warum sonst, sollen alle möglichst lückenlos überwacht werden - außer die Überwacher selbst natürlich? Man hat offenbar Angst, die eigene Macht zu verlieren.

Das politische Arbeiten mit der Angst als Basis für zwanghaftes Verhalten, stellt sich gegenwärtig nicht nur im permanenten ausmalen einer terroristischen Gefahr dar. Im wirtschaftspolitischen Bereich wird zur Durchsetzung prekärer Arbeitsbedingungen und der willenlosen Arbeitskraft, bewusst mit dem Mittel der Existenzangst operiert. So stellte bereits die alte rot-grüne Regierung die Opfer der Arbeitslosigkeit als "faul" und nicht arbeitswillig dar. Obwohl es nur um den Reichtum einiger wenige geht, erfand man die Story vom Arbeitslosen, der den Arbeitenden belastet. Die Wahrheit ist, dass beide möglichst stark ausgenutzt werden sollen. Eine üble Variante der Angsterzeugung wird regierungsamtlich besonders gegen Menschen aus anderen Ländern - besonders Afrika - die nach Deutschland kommen, praktiziert.

So wurde jüngst ein weiteres Bleiberecht davon abhängig gemacht, dass Asylanten " nach 2009 die Sozialsysteme nicht belasten" (Die Welt 13.03.2007) . Der bayrische Innenminister, Herr Beckstein, erklärte dazu in einem Interview: "Für uns war der entscheidende Gesichtspunkt, dass der Bürger sagt: Es kann nicht richtig sein, wenn jemand, der illegal gekommen ist, dessen Asylantrag abgelehnt worden ist, der zur Ausreise verpflichtet ist, trotzdem bleiben kann und dann auch noch dieselben Sozialleistungen bekommt wie jemand, der 30 Jahre in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt hat und jetzt ein Jahr arbeitslos ist. Das ist uns immer als eine massive Ungerechtigkeit erschienen" ("Die Welt" am 14.03.2007). Was soll hier für ein Zusammenhang bestehen? Seit Jahren erreichen immer weniger ausländische Menschen Deutschland und gleichzeitig wurde das Existenzniveau von Hartz IV-Berechtigten mehr und mehr abgesenkt (bemerkenswert auch die unhinterfragte Unterstellung von "illegal", worauf die weitere ausländerfeindliche Argumentation dann aufbaut).

Erschreckend ist hier die Ähnlichkeit von offizieller, ang. "demokratischer" Polemik gegen Ausländer mit den rechtsextremistischen Gruppen. So fordert auch die NPD eine "soziale Lohn- und Gehaltpolitik" mit "einen ausreichenden und gerechten Anteil am Volkseinkommen". Doch natürlich vertritt auch sie: "Ausländer sind aus dem deutschern Sozialversicherungswesen auszugliedern. Asylanten dürfen keinen einklagbaren Anspruch auf deutsche Sozialleistungen besitzen. (aus " Programm der nationaldemokratischen Partei Deutschlands" , Dez. 2004, Pkt.7).

Trotz aller Unterschiede ist sich die offizielle Regierungspolitik mit der NPD offensichtlich darin einig, dass Ausländer das Sozialsystem belasten könnten, obwohl diese Behauptung reiner Populismus ist. Nichts hat die Sozialsysteme so sehr belastet, wie die von der Regierung unterstützte einseitige Wirtschafts- und Sozialpolitik. Eine Politik, welche tatsächlich gegen Rechtsextremismus vorgehen wollte, dürfte keine Ausländerphobie bedienen. Der Eindruck eines ungerechtfertigten und den "kleinen Mann" belastenden Aufenthalt ausländischer Menschen in Deutschland führt in Verbindung mit sozialem Abstieg unweigerlich zu einer Zunahme von rechtsmotivierter Gewalt. Philipp Wittrock stellte Anfang Januar erschrocken fest: " Rechtsextreme Straftaten auf Höchststand" (SPIEGEL-Online 05.01.2007). Wie erklären es sich die Abgeordneten, dass trotz aller Gesetze für ang. mehr "Sicherheit und Ordnung" die Kriminalität gerade von deutschen Rechtsextremisten so beängstigend zugenommen hat? Ist dies nicht vielleicht in Wahrheit gerade Ausdruck dieser zwanghaften Politik?

Wirklich erfolgsversprechende Maßnahmen gegen die anwachsende Kriminalität, können also nur bei den Ursachen ansetzen. Sie dürfen nicht zusätzlich noch in Richtungen zielen, wo nur Ängste in der Bevölkerung bedient werden, und wo zwangsläufig mehr Kriminalität und Gewalt das Ergebnis sein muss.

Es käme deshalb darauf an, alle Gesetze gewissenhaft durchzugehen, die als ideologische oder wirtschaftliche Basis für eine Zunahme der Kriminalität zu werten sind. Entsprechende Änderungen sind unaufschiebbar. Soll die jetzige Entwicklung wirklich gestoppt werden, muss vor allem die herrschende Politik vorbildlich mit der ihr verfassungsrechtlich gegebenen Gewalt umgehen, sei es in der Außen- oder Innenpolitik. Die einzig tragfähige Alternative zu Gewalt und Kriminalität besteht in friedlicher, gleichberechtigter Kommunikation, sozialer Orientierung und Offenheit auch für neue und zeitgemäße wirtschaftspolitische Alternativen. Ohne entwickelter Demokratie in den wirtschaftlich maßgeblichen Produktionsbereichen, wird auch keine Demokratie in der "Restgesellschaft" dauerhaft möglich sein; oder wie der US-amerikanische Ökonom Ravi Batra mit sorgenvollen Blick in die Zukunft anmerkte: "In einer ökonomischen Demokratie würden keine hart arbeitenden Menschen mehr entlassen, weil das Unternehmen allen Mitarbeitern gehört" ("Greenspans Betrug", Ravi Batra, FinanzBuch Verlag, 2005, S.307). Ein solches sozialisiertes Unternehmen könnte auch wieder echte Sozialpolitik betreiben, die vom Menschen ausgeht und diesen nicht mehr nur zu einem "modernen" Sklaven historischer überholter Wirtschaftsideologien macht. Elend lässt sich nicht ohne Folgen privatisieren.

Mit freundlichen Grüßen
(Armin Kammrad)


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