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Updated: 18.12.2012 15:51
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Systemwechsel in der sozialen Sicherung

Andreas Bachmann zur Frage »Sozialversicherung oder Steuerfinanzierung?«

Gerne und - wie Andreas Bachmann hier zeigt - allzu vorschnell schwenkt linke Kritik am Sozialversicherungssystem in Deutschland ein auf einen Kurs der Steuerfinanzierung der Sozialsysteme. Der hier abgedruckte Text wurde auf einer Tagung der Redaktion der Widersprüche diskutiert, auf der Alternativen zum neoliberalen Sozialstaatsab- und -umbau vorgestellt wurden, so auch das Konzept der Redaktion des »links-netz«.

In der Traditionslinie der Sozialstaatskritik der undogmatischen und feministischen Linken wird das deutsche Sozialversicherungssystem zu Recht kritisiert:

Die (sozialrechtliche und politische) Orientierung der Leistungsansprüche am herkömmlichen Normalarbeitsverhältnis hat jahrzehntelang weibliche Erwerbsarbeit und typische weibliche Lebensläufe diskriminiert. Wegen der Bindung der Sozialversicherungssysteme an das Normalarbeitsverhältnis ist der Risiko- und Einkommensschutz für prekär oder auch nur teilzeitbeschäftigte Lohnabhängige oder für Erwerbstätige in den Grenzbereichen der Scheinselbständigkeit bzw. prekären Selbständigkeit gering. Das Äquivalenz- und Leistungsprinzip bei Beitrags- und Versicherungsansprüchen insbesondere der Renten- und Arbeitslosenversicherung hat eine sozialkonservative Funktion bei der Verfestigung von Hierarchien und Statusunterschieden innerhalb der Lohnabhängigen. Schließlich wird regelmäßig auf die historische (»bismarcksche«) Prägung der modernen deutschen Sozialversicherung hingewiesen: Die Durchsetzung der modernen Sozialversicherung in Deutschland war verbunden mit der politischen (und wirtschaftlichen) Enteignung der genossenschaftlichen Selbsthilfekassen der frühen Arbeiterbewegung und auch als ein Instrument der Herrschaftssicherung gegenüber der Sozialdemokratie des 19. Jahrhunderts angelegt. Schlussendlich ist das Sozialversicherungssystem einer der institutionellen Kerne eines repressiv-hierarchischen dualen Modells bürgerlicher Sozialpolitik, die soziale Mindestgarantien in Form von Versicherungsansprüchen für die integrierten produktiven Lohnabhängigen vorbehält und ansonsten paternalistische Armen- und Fürsorgepolitik für die nicht integrierten Teile der Arbeiterklasse fortschreibt. Dort gibt es keine Garantien und Grundrechte, sondern nur Bedürftigkeitsprüfung und ausufernde Pflichten zur Unterordnung und Anpassung.

Vor dem Hintergrund dieser historischen Erfahrung und der entsprechenden Debatte überrascht es nicht, wenn die Präferenz der nichtsozialdemokratischen und außergewerkschaftlichen Linken, sofern sie sich überhaupt mit rechtlichen, institutionellen oder ökonomischen (Detail-)Fragen des sozialpolitischen Feldes beschäftigen, eindeutig in Richtung steuerfinanzierter Sicherungssysteme geht. Dem traditionellen Versicherungsprinzip wird beispielsweise auch in der viel besprochenen Veröffentlichung der AG links-netz vom September 2003 zu den »Umrissen eines Konzepts von Sozialpolitik als Infrastruktur« [1] eine deutliche Absage erteilt. [2]

Abgesehen von der Unschärfe und der gedanklichen Lässigkeit bei der Auseinandersetzung mit dem herrschenden neoliberalen Diskurs - so sollen nach Ansicht der AG links-netz auch »demografische Entwicklungen« [3] das lohnarbeitsbezogene Sozialversicherungssystem obsolet machen - sind aus meiner Sicht weitere Punkte kritisch anzumerken. Zum ersten wird die Ambivalenz des Sozialversicherungssystems von Herrschaftssicherung einerseits und kollektiver solidarischer Risikoabsicherung andererseits unterschätzt. Zum zweiten schneidet man sich durch Vorfestlegung auf eine zukünftige steuerfinanzierte sozialpolitische Welt von den Fragen ab, wie universale soziale Grundrechte im Sozialversicherungssystem gestärkt werden könnten und wo die politischen und ökonomischen Risiken eines Systemwechsels von beitragsgestützten Sozialversicherungen zu steuerfinanzierten Transfers liegen. Einer gesonderten Kritik bedürften in diesem Zusammenhang die steuerpolitischen Prämissen der AG links-netz, die sowohl Mehrwertsteuererhöhungen für diskussionswürdig hält, als auch auf die Besteuerung von Haushalten und nicht von Individuen (Personen) setzt. Die letzte Festlegung scheint insbesondere vor dem Hintergrund der Ehegattensplittingdebatte der letzten 20 Jahre völlig überraschend. [4] Der oben erwähnte Hinweis auf die »demografische Krise« ist ärgerlich, da hier neoliberale Rhetorik reproduziert wird. Dort wird ausgeblendet, dass in erster Linie Produktivität und Einkommensverteilung das Leistungsniveau der Sozialversicherung bestimmen.

Im Folgenden nun einige Thesen, warum der Kampf um die Sozialversicherung oder um eine Neubegründung der Sozialversicherung lohnend ist:

1. Die sozialpolitischen Institutionen in der Bundesrepublik sind - ähnlich wie die sozialpolitische Landschaft in Frankreich - durch die Dualität von Sozialversicherungswesen (das auf dem Lohnarbeitsverhältnis beruht) und dem System der rein staatlichen Transfers und Dienstleistungen geprägt. Analytisch ist der Unterschied deshalb wichtig, weil die sozialen Ansprüche aus dem Sozialversicherungsverhältnis häufig rechtlich robuster, weil systematisch weniger an repressive Bedürftigkeitsprüfungen gebunden sind, als die Ansprüche auf staatliche Transfers (z.B. Sozialhilfe). In dem herrschenden Rechtsverständnis bildet sich diese Differenz zu anderen Sozialleistungen in dem besonderen Eigentumsschutz von Sozialversicherungsansprüchen ab.

In der Sozialreformdebatte in England der 1940er Jahre (»Beveridge-Plan«) schien auch der Labour Party, die grundsätzlich zwar für die Finanzierung der Sozialleistungen aus Steuermitteln eintrat, die Beitragsfinanzierung - also das Versicherungsprinzip - der sicherste Schutz vor einer an das Armenrecht angelehnte Bedürftigkeitsprüfung. [5]

Die neoliberalen oder new labour-Sozialreformen in Westeuropa als Strategien der Rekommodifizierung sind gegen die Sozialversicherungssysteme schwerer in Szene zu setzen als die Veränderungen bei steuerfinanzierten Sicherungssystemen (siehe z.B. die Arbeitslosenhilfe) oder im Arbeitsrecht. Die Strukturen der beitragsfinanzierten Sicherungen sind faktisch eine Verteidigungslinie in den sozialen Auseinandersetzungen, garantieren aber selbstverständlich keine unverrückbaren Haltelinien, wie es die Riesterschen Rentenreformen gezeigt haben.

Daher sollten die Folgewirkungen eines von Teilen der Linken antizipierten Systemwechsels in der Finanzierung der sozialen Sicherung weg von Betrags- hin zur Steuerfinanzierung stärker beachtet werden. Dies gilt umso mehr, als z.B. die Neokonservativen in Deutschland auf eine auch durch indirekte Steuern finanzierte Quasigrundsicherung auf niedrigen Niveau orientieren, die teilweise Bedürftigkeit voraussetzt und immer auf ergänzende private Versicherung, Vorsorge oder Familienbande verweist.

2. Verteilungspolitisch sind die Sozialversicherungen durch die Verallgemeinerung und juristische Absicherung von Soziallohnbestandteilen ein bedeutender Hebel in der Verteilungsauseinandersetzung mit dem Kapital, wie sich an der nachhaltigen Polemik der Arbeitgeber gegen die Lohnnebenkosten zeigt. Daneben stellen die Sozialversicherungen durch die Umverteilung innerhalb der abhängig Beschäftigten - insbesondere im Bereich der Krankenversicherung - die materielle Voraussetzung für eine sozialpolitische Alltagsmoral dar, die auf Solidarität und Risikoteilung setzt.

Materielle Standards, Maßstäbe und soziale Rechtspositionen für das gesamte sozialpolitische Feld haben sich häufig erst im Sozialversicherungswesen entwickelt, bevor sie Gegenstand der allgemeinen sozialpolitischen Auseinandersetzung geworden sind.

Wie am Beispiel der Rentenkürzungen gezeigt wurde, strahlen Senkungen der Sozialversicherungseinkommen sehr schnell auch auf die Höhe staatlicher Transfers wie Sozialhilfe ab, weil es faktisch auch ein besonderes Lohnabstandsgebot bezüglich des Abstands zwischen beitrags- und steuerfinanzierten Sozialleistungen gibt.

3. Die immer noch richtige Kritik der Frauenbewegung und der undogmatischen Linken an den Sozialversicherungen, dass sich ihre innere Ausgestaltung und weite Teile des Sozialrechts am männlichen Normal-arbeits- und Vollzeitverhältnis orientiert, kann heute auch als Anhaltspunkt zur Problematisierung prekärer Arbeitsverhältnisse und unsteter Erwerbsverläufe auch von Männern herangezogen werden.

Durch sozialrechtliche Kompensationen könnte aber die Verlängerung und Verstärkung sozialer Ungleichheit und Geschlechterdiskriminierung in gravierend unterschiedliche Sozialversicherungsansprüche verhindert bzw. mindestens deutlich entschärft werden. Kompensation und Risikoumverteilung sind in der modernen Sozialversicherung selber schon angelegt. Leider wurden viele dieser Rechtspositionen - wie z.B. Rentenberechnung nach fiktivem Mindestlohn, die in den späten 1970er Jahren auch im AFG und im Renten-recht verankert waren, sukzessive zurückgenommen.

Ohne eine Stabilisierung der Beitragsbasis und Einnahmesteigerungen sind diesen Schritten - wie z.B. noch stärkeren rentenrechtlichen Kompensationen zum Ausgleich von Erziehungszeiten oder Phasen geringen Verdienstes - allerdings enge Grenzen gesetzt. Konzeptionell jedoch sind die Korrekturinstrumente, wie z.B. Rentenberechnung nach fiktiven Mindestentgelten oder die Einführung von armutsfesten Grundsicherungselementen innerhalb der Sozialversicherungssysteme vorhanden und kein Fremdkörper im Sozialversicherungsrecht.

Auch hinsichtlich flexibilisierter oder entformalisierter Beschäftigungsverhältnisse gibt es über Sozialversicherungen Gestaltungs- und Integrationsmöglichkeiten, wie es die Konstruktion der Künstlersozialversicherungen ohne einen konkreten Arbeitgeberbezug zeigt.

4. Der Ausbau sozialer Grundrechte in der Sozialversicherung hängt eng mit Anspruchsgarantien zusammen, die von dem engen Äquivalenzprinzip insbesondere in der Renten- und Arbeitslosenversicherung entkoppelt werden müssen. Auch dies wäre den Sozialversicherungen nicht wesensfremd, setzt aber eine stärkere bürgerrechtliche Orientierung im Sozialversicherungsrecht voraus, die sich mit den jüngsten Anleihen aus dem Privatversicherungsrecht nicht verträgt. Eines der zentralen Kampffelder der Sozialpolitik sind unterschiedliche Formen der Privatisierung von kollektiven Sicherungssystemen. Neben der materiellen Privatisierung (Verlagerung zur kommerziellen Privatversicherung) geht es dabei auch um einen Formenwechsel im Sozialrecht, der gekennzeichnet ist durch Anleihen aus dem privaten Versicherungs- und Vertragsrecht.

Mit der Privatisierung wäre auch ein Terrainwechsel in der politischen Handlungsebene verbunden: Beim Kampf im Sozialstaat und um die Sozialversicherung geht es um soziale Grundrechte und soziale Garantien, die erkämpft, verteidigt und neu durchdacht werden müssen. Nach einer Privatisierung der sozialen Dienste und Transfers steht vorrangig der Verbraucherschutz derjenigen auf der Tagesordnung, die sich noch den privaten Versicherungsschutz leisten können.

5. Auch die Kritik an dem sozialkonservativem Äquivalenzprinzip der (deutschen) Sozialversicherung relativiert sich bei einem Blick auf die Umverteilungsmechanismen der gesetzlichen Krankenversicherung: In manchen Einzelkassen kommen 80 Prozent der Leistungen 10 Prozent der Versicherten zu Gute, was eine beträchtliche Leistung hinsichtlich Umverteilung und Risikoausgleich darstellt.

Ein gravierendes Defizit und Handicap ist zweifellos die Fortschreibung von Einkommensdiskriminierungen im Erwerbsleben bei der Rentenberechnung sowie bei anderen beitragsfinanzierten Lohnersatzleistungen. Im Sinne einer Neubestimmung von Sozialversicherungen als Adressaten sozialer Grundrechte wäre die Konsequenz daraus, die beitragsunabhängige Garantie eines armutsfesten Mindestniveaus von Lohnersatzleistungen zu etablieren. Wie weit die Gegenfinanzierung dafür über größere Bundeszuschüsse oder über eine Nivellierung der Leistungen sichergestellt wird, bedarf einer eigenständigen Diskussion und Klärung.

Das beschriebene Defizit relativiert sich bei einer vergleichenden Betrachtung der Gesamtleistungsniveaus von typischen steuer- und beitragsfinanzierten Alterssicherungssystemen. Auffällig ist, dass das deutsche (und französische) Rentenrecht die Status- und Einkommensunterschiede der unterschiedlichen Erwerbsbiographien deutlich reproduziert, was sich z.B. daran festmacht, dass in Deutschland und Frankreich Niedriglohnerwerbsbiographien relativ schlecht und überdurchschnittlich hohe Erwerbseinkommen sowie lange Versicherungszeiten relativ hoch im Ländervergleich (Deutschland, Frankreich, Schweiz, Niederlande, England) bewertet werden. [6]

Allerdings ist das Sozialrentenniveau in Frankreich und Deutschland bei den durchschnittlichen Einkommen höher als bei den Basissystemen der Niederlande, der Schweiz oder gar England. Für eine Mehrheit der Lohnabhängigen garantiert das »rheinische« Modell (noch) das höhere Leistungsniveau. Einschränkend muss hier aber klargestellt werden, dass die Untersuchungen aus den später 1990er Jahren stammen, wo die niveausenkenden Rentenreformen (Riester) noch nicht berücksichtigt werden konnten.

Die Relationen im Leistungsniveau in diesem Ländervergleich sind auch Ausdruck des Umstandes, dass außerhalb Deutschlands und Frankreichs private Vorsorge und Betriebsrenten eine größere Rolle bei der Einkommenssicherung im Alter spielen. Nur im »rheinischen Modell« waren die Sozialrentensysteme als lebensstandardsichernd konzipiert. Die grundsicherungsähnlichen Systeme in den Niederlanden, England und der Schweiz verweisen bei allen Unterschieden auf privates Sparen und Vermögen. In diesem Vergleich ist dann das deutsche oder französische Rentensystem progressiver, weil es zumindest bis vor wenigen Jahren Alterssicherung außerhalb des Kapitalmarktes und archaischer Betriebsrentenordnungen ange-legt hat.

6. Angesichts der weitgehenden Entpolitisierung und sozialpartnerschaftlichen Bürokratisierung der Selbstverwaltung der Sozialversicherung fällt es schwer, hier unmittelbare Anknüpfungspunkte für eine Repolitisierung dieser politischen und administrativen Ebene zu finden. Gleichwohl würde ich diese institutionelle Möglichkeit insbesondere im Feld der Krankenversicherung und (der betrieblichen und kommunalen) Gesundheitspolitik nicht aus den Augen verlieren, da wir im Feld der Sozialpolitik auf jeden partizipatorischen Ansatz und nicht-technokratischen Impuls angewiesen sind. Die Auseinandersetzungen um gesundheitsfördernde Arbeits- und Lebensbedingungen, um Versicherten - und PatientInnenrechte könnten ein Ansatz für eine Politisierung und Belebung der Selbstverwaltung sein.

Der Beitrag ist auch erschienen in der Zeitschrift Widersprüche, Heft 97, September 2005

Literaturhinweis:

Runder Tisch der Erwerbslosen- und Sozialhilfeorganisationen (Hg.): Nach den Sternen greifen. Beiträge zur Debatte über bedingungsloses Grundeinkommen für alle, FFM/Berlin 06/2005. Zu Beziehen über: Anne Allex, Straße der Pariser Kommune 43, 10243 Berlin

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 9/05


(1) AG links-netz: Gibt es eine Alternative zum neoliberalen Sozialstaatsumbau? Umrisse eine Konzepts von Sozialpolitik als Infrastruktur; Frankfurt/M. 2003 (im Folgenden zitiert als »Sozialpolitik als Infrastruktur«)

(2) »Sozialpolitik als Infrastruktur«, S. 3ff.

(3) »Sozialpolitik als Infrastruktur«, S. 2

(4) »Sozialpolitik als Infrastruktur«, S. 7

(5) Kaufmann, Franz-Xaver: »Varianten des Wohlfahrtsstaats«, Frankfurt/M. 2003, S. 145

(6) Döring, Dieter: »Die Zukunft der Alterssicherung«, Frankfurt/M. 2002, S. 47ff.

Siehe dazu: Gibt es eine Alternative zum neoliberalen Sozialstaatsabbau?

Umrisse eines Konzepts von Sozialpolitik als Infrastruktur. Artikel von Joachim Hirsch und Heinz Steinert bei der AG links-netz.externer Link Siehe dazu auch: Ein Menschenrecht auf Infrastruktur? Artikel von Albert Scherr und Heinz Steinert bei der AG links-netz externer Link zur Diskussion von "Sozialpolitik als Infrastruktur" von Joachim Hirsch und Heinz Steinert


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