Home > Branchen > Dienstleistung: Gesundheitswesen > pflege > hoffmann | |
Updated: 18.12.2012 15:51 |
Schwindelerregend Thomas Hoffmann* über die Arbeitsbedingungen in der vollstationären Pflege Mit dem Inkrafttreten des Pflegeversicherungsgesetzes vor fast genau elf Jahren wurde das »Jahrhundertwerk« der Pflegeversicherung für die vollstationären Pflegeeinrichtungen im Oktober 1996 in der Praxis eingeführt. Der Beitrag von Thomas Hoffmann setzt sich mit den Veränderungen der Arbeitsbedingungen für Beschäftigte in der stationären Altenpflege seit Einführung der Pflegeversicherung auseinander und mit deren Auswirkungen auf die Qualität der Pflegearbeit und damit die Pflegebeziehungen. Ein Beispiel für die Realität des Pflegealltages in vollstationären Pflegeeinrichtungen sei vorangestellt: Die im Sterben liegende Bewohnerin eines Pflegeheimes benötigt dringend permanente Sauerstoffgaben. Das vom Pflegeheim beauftragte Sanitätshaus stellt der Heimbewohnerin anhand der von der behandelnden Ärztin ausgestellten Verordnung umgehend ein Sauerstoffgerät zur Verfügung. Die Krankenkasse der Bewohnerin lehnt das Sauerstoffgerät mit einem Pauschalschreiben ab. Beraten von den Pflegekräften legt der Sohn der Bewohnerin Widerspruch ein. Während das Widerspruchsverfahren noch läuft, verstirbt die Bewohnerin, und das Sauerstoffgerät wird von der Pflegestation an das Sanitätshaus zurückgegeben. Nach Ablauf mehrerer Wochen bewilligt die Kasse schließlich nachträglich das Gerät und schickt prompt einen Kassenmitarbeiter in das Pflegeheim, um das bereits zurückgegebene Gerät erneut abzuholen. Es schließt sich eine Kette von Telefongesprächen und Briefwechseln mehrerer Pflegekräfte der betreffenden Station mit Krankenkasse und Sanitätshaus an, um den Verbleib des Gerätes nachzuvollziehen und nachzuweisen, dass das Sauerstoffgerät nicht von der Pflegeeinrichtung zurückbehalten oder anderweitig veruntreut worden ist. Der von Pflegekräften des Heimes betriebene Aufwand an Gesprächen, Telefonaten und Schriftverkehr zum Beschaffen und zum Nachweis der Rückgabe des für die Bewohnerin in ihren letzten Lebenswochen akut notwendigen Gerätes beansprucht etliche Stunden Arbeitszeit, die damit weder zur Sterbebegleitung der schwerkranken Frau, noch zur Pflege anderer Bewohner der Station zur Verfügung stehen. Der Vorfall fand dieses Jahr in Berlin statt. Dieser Fall von Realsatire im heutigen Gesundheitssystem beleuchtet das Zerriebenwerden der Pflege zwischen Kassen- und Verordnungsbürokratie einerseits und hohen Ansprüchen an individuelle Pflegequalität andererseits. Ursachensuche Mit der Einführung der Pflegeversicherung 1996 im vollstationären Bereich ergab sich für die Altenhilfe-Einrichtungen eine grundlegend neuartige Situation am so genannten »Pflegemarkt«, welcher durch das Pflegeversicherungsgesetz im eigentlichen Sinne erst geschaffen worden war. Bis zu diesem Zeitpunkt war das Angebot von Pflegeplätzen und entsprechend die Anzahl zugelassener Pflegeeinrichtungen nach dem Prinzip der Bedarfsdeckung staatlich stark reglementiert worden, so dass die existierenden Einrichtungen kaum Konkurrenz zu spüren hatten und die Betreiber sich kaum Gedanken über die Belegung der eigenen Pflegeplätze machen mussten. Es herrschte ein Anbietermarkt mit zum Teil langen Wartelisten vor. Die Qualität der von den einzelnen Einrichtungen angebotenen Pflege und Betreuung war kaum in den Interessenbereich der Öffentlichkeit gerückt und mangels Kontroll- und Assessment-Instrumenten auch kaum nachprüfbar. Mit der Einführung der Pflegeversicherung wurde bewusst eine Marktöffnung des Pflegesektors sowie der Wettbewerb der Pflegeeinrichtungen untereinander angestrebt. Die Förderung der Konkurrenz unter den Einrichtungen der Altenhilfe wurde mit dem Argument begründet, eine stärkere Marktöffnung werde durch das Wahlverhalten der Bewerber sowie ihrer Angehörigen um einen Heimplatz zu einer Qualitätssteigerung der Pflegeleistungen führen. Auf einem von den Kunden gesteuerten Nachfragemarkt sollten die zukünftigen Bewohner bewusst die ausschlaggebende Verhandlungsposition erhalten. Nach einer Marktentwicklung von über zehn Jahren lässt sich inzwischen feststellen, dass der »Pflegemarkt« zu einer Segmentierung der Anbieter mit einer kleinen, aber wachsenden Sparte von extrem teuren »Seniorenresidenzen« und »Pflegehotels« für betuchte Kunden sowie einem großen Segment von Einrichtungen geführt hat, die unter Preiskonkurrenz mit verstärkt auftretenden Anbietern von Billigangeboten hart an der Grenze der Wirtschaftlichkeit um ihr Überleben kämpfen. Die damit verbundene »Marktbereinigung«, das Ausscheiden preislich weniger günstiger Anbieter, ist dabei politisch ausdrücklich gewollt. Die zeitgleiche Einführung eines gesetzlich geforderten Qualitätsmanagements macht es allen Pflegeeinrichtungen zur Pflicht, qualitative Mindeststandards in Pflege und Betreuung zu beschreiben, einzuhalten und vollumfänglich schriftlich nachzuweisen. Hierbei erweist es sich als äußerst problematisch, dass die einzelnen Pflegeanbieter bislang einzig über den Preis miteinander konkurrieren können. Die Ergebnisse der vom Medizinischen Dienst im Auftrag der Krankenkassen in den Einrichtungen durchgeführten Qualitätsprüfungen dürfen nicht veröffentlicht werden. So kann der Bewerber um einen Heimplatz weiterhin lediglich die »Katze im Sack« kaufen. Wie es in der Einrichtung tatsächlich abgeht, erfährt er erst am eigenen Leibe, wenn der Heimvertrag unterschrieben ist. Mit der jüngst von der großen Koalition beschlossenen, stark abgespeckten Version der Pflege»reform« soll sich dies – sollte es tatsächlich dazu kommen – ab Juli 2008 ändern: Die Prüfberichte des Medizinischen Dienstes sollen dann auch veröffentlicht werden können. Es wundert nicht, dass sich hiergegen bereits jetzt starker Widerstand der Heimträger formiert. Das Ziel der Grundsätze und Maßstäbe zur Qualitätssicherung in vollstationären Pflegeeinrichtungen nach § 80 SGB XI, die im Pflegequalitätssicherungsgesetz (PQsG) vom 1. Januar 2002 nochmals unterstrichen und verschärft worden sind, war und ist, den BewohnerInnen von Pflegeheimen durch eine fachgerechte, am derzeitigen Stand der Pflegewissenschaft ausgerichtete und individuelle Pflege und Betreuung ein hohes Maß an Lebensqualität zu sichern. So zumindest wird es vermittelt. Hält man jedoch dagegen, dass die Leistungen der Pflegeversicherung seit 1996 nicht angehoben worden sind, wird das ganze Ausmaß der durchaus katastrophal zu nennenden Situation der Berufsgruppe der Pflegenden offenbar. Bei gleichbleibenden Kostenerstattungen für die Pflege haben sich die Ansprüche an die Qualität der geleisteten Pflege seit nunmehr nahezu elf Jahren fortwährend erhöht. Der stetig steigende Kostendruck bewirkt bei den Pflegekräften einen ständigen Druck zu mehr Effizienz und Leistung, ohne dass dem gestiegenen Arbeitspensum und Professionalisierungsdruck entsprechende Personalaufstockungen gegenüberstünden. Bürokratisierung... Hinzu kommt der steigende Zwang zur Verschriftlichung sämtlicher am Bewohner vorgenommenen und geplanten Pflege- und Betreuungsleistungen. Pflege und Betreuung werden täglich pro Schicht in 40 und mehr einzelne inhaltlich explizit zu beschreibende Teilverrichtungen aufgesplittet, die für jeden Bewohner im Voraus schriftlich geplant und sämtlich und täglich von der Pflegekraft, die die Verrichtung durchgeführt hat, per Unterschriftskürzel (bzw. elektronischem Kürzel bei EDV-Dokumentation) zu bestätigen sind. Im Ergebnis sind Dokumentationszeiten, die bis zu einem Drittel der Arbeitszeit erfordern, keine Seltenheit. Sinn und Zweck dieser Hybris ist der gesetzlich geforderte jederzeitige schriftliche Nachweis darüber, dass die Pflegeeinrichtung all ihren Verpflichtungen beim Bewohner nachkommt. Fordisierung Nicht zuletzt wird durch den Zwang zur Dokumentation sämtlicher Teilleistungen aber auch eine »Fordisierung« der Pflege bewirkt, bei der die Pflegedokumentation die Funktion des Fließbandes ersetzt. Die »Bandgeschwindigkeit« der Pflege, soll heißen, der Arbeitsdruck auf die Pflegekraft, lässt sich durch die – ebenfalls gesetzlich geforderte – Einführung von Standards für wesentliche pflegerische Teilverrichtungen sowie Vorgaben an Planung und Durchführung der Pflegemaßnahmen steuern. Durch diesen Kunstgriff wird eine – klassischer Weise für betriebswirtschaftliche Effizienzmaßnahmen kaum greifbare Dienstleistung, die für den Bewohner im Wesentlichen in einer Pflegebeziehung besteht – von wirtschaftlicher Seite steuerbar. Diese dunkle Seite des Qualitätsmanagements in Pflegeeinrichtungen ist selbstredend nicht Gegenstand jedweder Qualitätsdiskussionen in der Pflege. ... Entmenschlichung Ein zweiter Widerspruch, der zu einem enormen Spagat zu Lasten der Pflegekräfte in der vollstationären Pflege geführt hat, besteht in dem Gegensatz zwischen der durchaus wünschenswerten höheren Gewichtung von individuellen Wünschen der HeimbewohnerInnen und ihrer Angehörigen an die Pflege und Betreuung einerseits und den per Versorgungsvertrag von Pflegekassen und Sozialämtern bezahlten Pflegeleistungen andererseits. Die Erstattungen für Pflegeleistungen der Heime berücksichtigen nämlich ausdrücklich nicht eine optimale, den Wünschen der BewohnerInnen angepasste Pflege, sondern lediglich Leistungen, die dem reinen Erhalt des Lebens dienen. Zwar solle die Pflege in aktivierender Weise durchgeführt werden, gewährt werden jedoch nur Leistungen für Pflegemaßnahmen zu unmittelbar lebensnotwendigen täglichen Verrichtungen, welche der Pflegebedürftige beim besten Willen nicht mehr ohne Hilfe bewältigen kann. So werden zum Beispiel Transferleistungen, also die Unterstützung beim Aufstehen bzw. dabei, aus dem Bett in einen Stuhl oder Rollstuhl zu gelangen, nur noch zum Waschen, Essen oder zur Toilette gehen angerechnet, nicht aber, um anderen Menschen zu begegnen, einen Spaziergang zu machen oder einfach tagsüber im Gemeinschaftraum »dabei« zu sein. Damit klaffen die Erwartungen darüber, was Pflegekräfte in vollstationären Einrichtungen für und mit den BewohnerInnen zu leisten haben, und die Realität der täglichen Pflege eklatant auseinander. Wo der Pflegeauftrag der Einrichtung nur das »tatsächlich Notwendige« vorgibt, fordern BewohnerInnen und ihre Angehörigen selbstredend das »Umfassendste und Beste«. Bei einer monatlich vom Bewohner selbst für einen Heimplatz zusätzlich zur Kassenleistung zu erbringenden Summe von 1200 bis weit über 2000 Euro ist dies in jeder Hinsicht nachvollziehbar. Leidtragende dieser Kluft zwischen Kassenleistungen und Bewohnerforderungen sind – neben den BewohnerInnen – die Pflegekräfte. Die Pflegenden sind es, die bei knapper und immer noch knapper werdender Zeit die Bewohner zufrieden stellen müssen, die jedem Wunsch, ob im Leistungskatalog der Einrichtung verzeichnet oder nicht, gerecht werden müssen, dessen Nichterfüllung ja eine Beschwerde (über die Pflegekraft), im schlimmsten Fall die Kündigung des Heimplatzes nach sich ziehen könnte. Entsprechend sind die Arbeitsbedingungen in der vollstationären Pflege heute ungleich härter als 1996, im Jahre der Einführung der Pflegeversicherung. Sicherlich haben sich für die Bewohner von Altenhilfeeinrichtungen viele Aspekte der Pflege und Betreuung verbessert. Diese Verbesserung ist aber vor allem durch verschärfte Anforderungen an die Pflegekräfte erreicht worden. Um ihren Arbeitsalltag zu bestehen, müssen Pflegekräfte heute schneller, gewissenhafter, freundlicher, flexibler und professioneller sein, als noch im Seniorenheim der 90er Jahre. Sie unterliegen tagtäglich einem hohen Leistungsdruck, Organisationsdruck, Professionalisierungsdruck sowie massivem Druck zur Kundenorientierung. Hinzu kommt beim Auftreten etwaiger Fehler oder Versäumnisse die so genannte Beweislastumkehr: Nicht der vermeintlich Geschädigte muss nachweisen, dass ihm eine Schädigung aufgrund des Handelns der Pflegekraft widerfahren ist, sondern die Pflegekraft muss nachweisen, dass sie keinerlei Fehler gemacht hat. Dafür verbringt sie bis zu ein Drittel ihrer Arbeitszeit mit Dokumentation, während die ihr zugeordneten BewohnerInnen sich bei ihrer Leitung über mangelnde Zeit und Zuwendung beschweren. Die Pflegeeinrichtung wird beim tatsächlichen Auftreten eines Fehlers jederzeit nachzuweisen versuchen, dass nicht die Einrichtung oder die von ihr zu verantwortende Arbeitsorganisation, sondern eben die einzelne Pflegekraft für den Fehler verantwortlich ist. »Wir stehen jederzeit mit einem Bein im Gefängnis«, ist schon lange ein geflügeltes Wort unter Pflegekräften. Und es stellt ein Ausmaß der Verunsicherung und Belastung dar, von dem sich Außenstehende kaum ein Bild machen können. Pflegekräften, und dies gilt mitnichten lediglich für Pflegekräfte in Leitungsfunktionen oder auch lediglich für examinierte Fachkräfte, wird heute die Bewältigung komplexer Managementtätigkeiten sowie ein hohes Maß an Verantwortung abverlangt, ohne dass sich dies auf ihre Entlohnung niedergeschlagen oder es in der gesellschaftlichen Diskussion auch nur Erwähnung gefunden hätte. Dass diese Umstände in häufigen Fällen schon nach wenigen Jahren zum Burnout oder zum kompletten Ausscheiden aus dem Beruf führen, liegt auf der Hand. Dies legt auch die »Next«-Studie (Nurses early exit study) der Universitäten Wuppertal und Witten/Herdecke aus dem Februar 2005 nahe, die anhand ausführlichen Zahlenmaterials belegt, dass in Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Ländern überproportional mehr Pflegefachkräfte frühzeitig aus dem Beruf aussteigen als in anderen Branchen. (www.next.uni-wuppertal.de ) ... und die Gesundheitsreform? Von der Gesundheitsreform sind für die Tätigkeit der Pflegenden in der vollstationären Pflege hierbei nur indirekte, beileibe jedoch keine positiven Auswirkungen zu erwarten. Die Gesundheitsreform, die die Finanzierung von Leistungen der Krankenkassen regelt, wird zunächst wegen der weiteren Verkürzung von Verweildauern im Krankenhaus zu schnelleren Entlassungen und Rückverlegungen von Heimbewohnern ins Pflegeheim führen. Dies bedeutet eine stärkere Übernahme von Nachsorge und Behandlungspflege durch die Heime, was eine weitere Professionalisierung der Pflegekräfte erfordert – ohne dass hieraus veränderte Vergütungsvereinbarungen mit den Pflegekassen und Sozialämtern vorgesehen sind. Fazit: der Druck auf die Pflegekräfte wird weiter zunehmen. Durch die von der Gesundheitsreform vorgesehene weitgehende Vermeidung von Krankenhausaufenthalten auf der einen Seite sowie die vorgesehene Förderung des häuslichen Umfeldes andererseits, um Pflegebedürftigen länger das Wohnen in den eigenen vier Wänden zu ermöglichen, wird es in Zukunft verstärkt Aufgabe der vollstationären Pflegeeinrichtungen sein, schwerkranke und schwerstpflegebedürftige Menschen zu betreuen. Dieser Umstand wird die Pflegeintensität nochmals erhöhen. Ein weiterer Aspekt der Gesundheitsreform, die fortschreitende Budgetierung ärztlicher Leistungen, wirkt sich unmittelbar auf die Lebensqualität von BewohnerInnen in Pflegeheimen aus. Hierbei handelt es sich um die Begrenzung von Verordnungen für Krankengymnastik, Logo- und Ergotherapie bis hin zu engen Verschreibungsgrenzen für moderne Wundverbände oder moderne medikamentöse Behandlungen von Alzheimer-Erkrankungen, einhergehend mit einer immer restriktiveren Bewilligungspraxis der Pflegekassen für Pflegehilfsmittel, seien es Inkontinenzhilfen oder hochkalorische Zusatznahrung bei krankheitsbedingter Unterernährung. So darf Krankengymnastik heute nur noch zur Verbesserung der körperlichen Beweglichkeit, nicht aber zum Erhalt der vorhandenen Beweglichkeit verordnet werden. Dies bedeutet im Klartext, dass Pflegebedürftige, die zur Vorbeugung eines weiteren körperlichen Verfalls regelmäßiger krankengymnastischer Übungen bedürfen, entweder die Physiotherapie aus eigener Tasche bezahlen oder aber sich mit einer fortschreitenden Gebrechlichkeit bis letztlich zur kompletten Bettlägerigkeit abfinden müssen. Die Kassen ziehen sich gewöhnlich auf die Position zurück, dass es ja der Auftrag der Pflegeeinrichtungen sei, ihren Bewohnern eine angemessene und Schaden abwendende Versorgung angedeihen zu lassen. Der schleichende Rückzug der Kostenträger aus ihrer Verantwortung, dafür dringend benötigte Ressourcen zur Verfügung zu stellen, wird damit vertuscht. An dieser Stelle sei nochmals darauf hingewiesen, dass die Pflegesätze für HeimbewohnerInnen seit 1996 nicht angehoben worden sind. Zwar ist im Entwurf der Pflege»reform«, auf den sich die große Koalition endlich als Minimalkonsens geeinigt hat, eine Erhöhung der Leistungen für Bewohner mit der Pflegestufe Drei um sage und schreibe 118 Euro pro Monat ab dem Jahre, man höre und staune: 2012 sowie eine weitere Anpassung der Pflegesätze in 2015 angedacht; davon abgesehen jedoch, dass es sich selbst bei diesen »Reförmchen« bislang noch um ungelegte Eier handelt, wird sich anhand solcher Zahlen am faktischen Arbeitsalltag in der vollstationären Pflege noch lange Zeit kaum etwas ändern. Zwischen den Mühlsteinen einer Forderung nach optimaler Versorgung auf neuestem Stand der Pflegewissenschaft und minimaler Bezahlung werden die Pflegekräfte zerrieben. Wo aber Stimmen in der Politik weithin verlautbaren lassen, eine vollumfängliche Versorgung pflegebedürftiger Menschen könne sich die Gesellschaft nicht leisten, sei hier – durchaus nicht nur polemisierend – gefragt, ob oder wie lange wir uns einen Kapitalismus noch leisten wollen, der über marktwirtschaftliche Reformen, die diesen Namen nicht verdienen, einen großen Teil der pflegebedürftigen älteren Bevölkerung dem Siechtum anheim gibt. Sämtliche gesellschaftlichen Faktoren, seien es demografische Veränderungen, die steigenden Qualitätsanforderungen an die Pflege älterer Menschen, die sich ändernden Familienstrukturen oder der medizinische und pflegewissenschaftliche Fortschritt, lassen keinen anderen Schluss zu, als dass die Kosten für die Betreuung pflegebedürftiger Menschen in Zukunft weiter und stärker als die im Entwurf der Pflegereform angedachten Kompensationen steigen werden. Vor diesem Hintergrund muss gefragt werden, was uns die Pflege gebrechlicher alter Menschen wert ist. Wo muss ein immer stärkerer Rückzug aus der gesellschaftlichen Verantwortung konstatiert werden? Und wer sind die finanziellen Gewinner der gegenwärtigen »Reformbestrebungen«? Die Situation in der Pflege wird sich kaum ändern, solange sich die professionell Pflegenden nicht selbst offensiver am gesellschaftlichen Diskurs beteiligen. Dringend nötig wäre es, dass die Berufstätigen in der Pflege gemeinsam mit den Pflegebedürftigen und deren Angehörigen öffentlichkeitswirksam für ihre Rechte einstehen. Das liegt an verschiedenen Faktoren, die aber eine eigene Betrachtung verdienen würden. Solange nur von dritter Seite über Pflege geredet wird, statt in einen Dialog mit den Berufstätigen in der Pflege und den Pflegebedürftigen selbst einzutreten, wird die vollstationäre Pflege ein Auffangbecken bleiben für alle diejenigen, deren Gesundheit und Rehabilitation offenbar niemand wirklich finanzieren will. * Thomas Hoffmann ist examinierter Altenpfleger und seit 1993 in der Pflege tätig, davon vier Jahre als Stationsleiter. Seit 2004 ist er als Qualitätsmanagementbeauftragter in einem Berliner Pflegeheim mit über 100 Betten beschäftigt. Erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 8/07 |