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Updated: 18.12.2012 15:51
Aktuelle Meldungen im neuen LabourNet Germany

Samira van Zeer [*]

Die blinden Flecken im Fall Emmely

Kämpfende Kamera, Widerstand und eine opportunistische Linke

Bekanntlich wurde Emmely die Unterschlagung von Pfandbons unterstellt. Dies alles inmitten eines Streiks im Einzelhandel. Emmely wurde nach dreißig Jahren Betriebszugehörigkeit gekündigt - wegen 1,30 Euro. Emmely hat sich erfolgreich in ihren alten Betrieb einklagen können. Über die Bekanntheit ihres Falles wurden auch andere Kündigungen wegen Bagatelldelikten publik und zu einem moralisch diskutierten Widerspruch zwischen Arbeitgebern und ArbeitnehmerInnen. Der Skandal ist mittlerweile verblasst.

Ich möchte in diesem Aufsatz über die ungesagten "Dinge" reden, über die blinden Flecken, über die Widersprüche, über die geflissentlich hinweggegangen wurde.

Blinder Fleck Nummer Eins: Haltet den Dieb!

Ich fand es vorstellbar, dass eine Kassiererin Geld veruntreut, welches einem Konzern "gehört". Zumal die "Tegelmanngruppe" bzw. die Gesamtarbeitgeber aus dem Einzelhandel die Nacht- und Spätschichtzuschläge der im Einzelhandel Beschäftigten auszuhebeln versuchten. Es ging den Arbeitgebern darum die Arbeitskraft der im Einzelhandel Beschäftigten weiter auszupressen und gleichzeitig geringer zu entlohnen.

Man kann sich natürlich das Geld von den Dieben auch anders zurückholen, dachte ich mir. Vom anarchistischen Klassenstandpunkt aus gesehen gestehen wir doch jeder Beschäftigten das moralische Recht zu, "ihren" Arbeitgeber zu bestehlen, denn das Geld gehört nicht ihm, sondern all denen die es für geringen Lohn erwirtschaftet haben.

Eigentlich sehr simpel.

Vorstellbar war aber auch, dass Emmely als einer Streikbeteiligte des Kaiser's-Konzerns eine Falle gestellt bekam. Vieles sprach dafür - denn die Distriktmanagerin der Filiale hatte alle streikenden Frauen einzeln in ihr Büro gerufen, um sie unter Druck zu setzen, damit sie den Streik abbrechen, so eine Arbeiterin. Soweit ich mich erinnerte, fruchtete die Einschüchterung auch bei einigen Frauen. Da kann es natürlich nur folgerichtig sein, auch Streikende mit anderen Mitteln aus dem Streik oder gleich ganz aus den Job rauszukicken - vor allem, wenn man einen unbefristeten Arbeitsvertrag wie Emmely hatte, von dem NeueinsteigerInnen mit halbjährlichen befristeten Verträgen nur träumen konnten.

Wie auch immer; letztlich weiß nur Emmely, ob sie was unterschlagen wollte oder nicht, bzw. ob es eine Mischung war aus einer Falle und Unterschlagung - oder einfach eine Falle eben. Ich erinnere mich an meine eigene Lehrzeit. Mit fingierten Anlässen versuchte man mich, aus dem Betrieb zu pfeffern. Und was die Eigentumsverhältnisse betraf, die Umverteilung von Konzerneigentum in Lehrlingshand war die Regel.

Opportunistische und angepasste Linke werden diesen Aspekt nie aufgreifen. Wenn Emmely offensiv gesagt hätte: "Also, Leute. Ich hab die Pfandbons einkassiert, weil ich verdammt noch mal ein moralisches Recht dazu hab'. Ich brauch' jetzt eure Unterstützung, damit ich nicht raus flieg'", da hätte ein Großteil der ach so fortschrittlichen Linken doch blöd geguckt. Die Unterstützungsszene für Emmely wäre nicht entstanden.

Das sollte doch zu denken geben.

Blinder Fleck Nummer Zwei: Wer oder was ist Emmely?

Dem Mensch Emmely wurde in einer laufenden Streikphase gekündigt. Das politisierte ihren Fall. Aber nur weil es die soziale Verbindung zwischen uns und Emmely bereits vor dem Rauswurf gab, konnte Emmelys Fall Thema werden und öffentlich. Die Skandalisierung bewirkte, dass sich die Medien auf das Thema draufsetzten und auch viele Linken sich plötzlich mit Emmely schmücken wollten. Im Fall der beabsichtigten Medienresonanz wurde ihr Fall Stück für Stück entpolitisiert, und zwar dadurch, dass der Streik als möglicher Grund der Kündigung immer mehr in den Hintergrund trat.

Die Medienberichterstattung wurde zum Selbstläufer, die Soli-Gruppe hatte darauf auch nur noch minimal korrigierenden Einfluss, zumal sie selber nicht die grundsätzlicheren Fragen aufwerfen wollte und konnte. So schwang in den Medien immer mit, dass Emmely ein Opfer eines zu harten Kapitalismus sei, der doch bitte ein wenig wärmer daher kommen könnte. Doch die Eigentumsfrage ist eine zentrale und sie ist eine ungerecht gelöste Frage. Sie wurde ausgeklammert. Die Leute werden klauen, solange die Verhältnisse so ungerecht sind, wie sie sind. Und sie tun gut daran. Und die Linken? Viele gefielen sich darin jetzt plötzlich, es mit einer kämpfenden Kassiererin zu tun zu haben. Vor allem die akademische Mittelschichtlinke ist allgemein immer darum bemüht, der unterdrückten Klasse irgendwie näher zu kommen, weil es sexy ist, weil die "soziale Frage" ganz wichtig ist oder weil sie das schlechte Gewissen umtreibt. Emmely bot dazu alle Projektionsmöglichkeiten gleich einer Kunstfigur. Nicht die Medien, nicht die Linke und auch nicht die Soli-Gruppe stellten grundsätzlicher Fragen zu den gesellschaftlichen Verhältnissen, die zu Emmelys Kündigung führten.

Blinder Fleck Nummer Drei: Fiel die Soli-Gruppe zu Emmely vom Himmel?

Eigentlich kam ich nur über einen Zufall zu dem Streik. Bärbel und ich überlegten, ob wir mehr zusammen filmen könnten, und um warm zu werden, schauten wir uns den Streik im Einzelhandel an. Zuvor hatten die Zugfahrer gestreikt und durch ihre Arbeitsmittel eine ziemliche Macht in den Händen gehalten. Ihr Streik wurde beachtet und in der Öffentlichkeit und den Medien wahrgenommen. Die Zugführer waren männlich, weiß, qualifiziert und von daher auch über ihren gesellschaftlichen Status als Männer an einer mächtigeren Position. Die Frauen hatten nicht viel in den Händen. Nur ihre Kasse und die Lagerarbeit. Deren Arbeitskraft war schnell zu ersetzen. Und dadurch fehlte es an Sichtbarkeit und öffentlichem Druck. Die Arbeitgeber unterliefen den Streik durch Leiharbeitsfirmen. Die Leiharbeitenden, zum Teil aus den "blühenden Landschaften" im Osten mit Bussen angekarrt, waren froh, wenn sie Arbeit hatten. Zum Teil wussten sie gar nicht, dass der Betrieb gerade bestreikt wurde, in dem sie für einen Hungerlohn arbeiteten. Ich meine mich an 3 Euro oder 5 Euro pro Stunde zu erinnern. Hier wurden die einen Opfer der gesellschaftlichen Verhältnisse mit den anderen Opfern derselben Verhältnisse ausgespielt.

Ich war beeindruckt davon, dass die Streikenden mehrheitlich Frauen waren, und berührt von deren Power. Ich war erschrocken darüber, dass sie keine Lobby hatten, sich niemand für sie interessierte und sie in der öffentlichen Wahrnehmung hinten runter fielen. Sie waren an der Kasse, in den Supermärkten und Kaufhäusern, schon so gut wie unsichtbar in ihren Kitteln, ohne Zeit zum Reden, notorisch unterbesetzt, ständig die Ware am Fließband über den Scanner ziehend, um eine Menschenschlange abzufertigen, die bis zum Feierabend einfach nie aufhört. Nun waren sie sogar dann unsichtbar, als sie sich für ihre Rechte einzusetzen versuchten. Das hat mich dann noch mal berührt.

Und ich dachte man darf die Frauen (und Männer) nicht alleine lassen.

Wir arbeiteten dann mit Frau Ritter von ver.di zusammen, die den Streik für Berlin koordinierte. Sie brachte uns immer auf den Stand, wenn wir was wissen wollten. Es schien eine mögliche und gute Allianz zu sein, indem wir als Außenstehende den Streik filmisch begleiteten und den Frauen eine Stimme und ein Gesicht zu geben versuchten.

Kleine kurze Clips von uns landeten im Netz. Und bald waren wir auf jeder Demo dabei und gehörten auch irgendwie dazu. Und wir merkten zweierlei. Zum einen mauerten die Arbeitgeber total. Der Streik brach die Front der Arbeitgeber nicht sichtbar auf, ein Einlenken schien ihnen nicht zwingend nötig, der Streik tat ihnen nicht weh. Und die Gewerkschaft war entweder zu schwach organisiert und konnte keine punktuelle Machtfrage über die Arbeitsverweigerung stellen, oder sie fuhr die falsche Strategie.

Wir fingen an zu hinterfragen, wie die Gewerkschaft den Streik organisiert und welche Machtmittel sie hat? Eines ihrer Machtmittel hatten die Arbeitgeber der Gewerkschaft juristisch gerade aus der Hand geschlagen. So genannte "Flash-Mob-Aktionen", über SMS organisierte Aktionen in diversen Supermärkten, wurden ihnen gerichtlich bei Androhung hoher Strafen untersagt. Die Gewerkschaft stoppte die sehr wirkungsvollen Aktionen bis zur endgültigen Klärung vor Gericht. Was so stürmisch und erfolgversprechend angefangen hatte - dass die Frauen einen Supermarkt "überfielen" und dort Unruhe stifteten, an der Kasse als Kundinnen dieselbe blockierten, indem sie für Cent Beträge einkauften oder Waren in die Einkaufswagen packten und stehen ließen -, das war nun gerade unmöglich geworden. Die Demos hatten zwar eine gewisse Power, aber niemand interessierte sich auf der Straße wirklich für den Streik. Niemand bemerkte ihn auch, weil die Auswirkungen durch besagte LeiharbeiterInnen gebrochen werden konnten. Für die Frauen aber war die Teilnahme am Streik ein großer Schritt - das spürten wir in unseren Interviews und Gesprächen, die für uns eine persönliche Note annahmen, zu einer persönlichen Sache wurden. Wir konnten gar nicht anders, als uns schlau zu machen, welche Betriebe sich über eine Flash-Mob-Aktionen "freuen" würden. Wir riefen einen bunt zusammen gewürfelten Haufen zusammen, der offen für die Unterstützung des Streiks aus unterschiedlichen Gründen war. Ein Supermarkt war schnell gefunden, dessen Streik durch LeiharbeiterInnen immer gebrochen wurde, dem Konzern den offenen Laden garantierte und für die KundInnen somit nicht erkennbar bestreikt wurde. Die notwendigen Informationen kamen aus dem Umfeld der Streikleitung.

An einem streikfreien Arbeitstag kam dann die Meute der UnterstützerInnen, bestehend aus Autonomen, AnarchistInnen und kritischen GewerkschafterInnen. Der real in Alt-Treptow war das Ziel der Aktion. Erst wurden lauter Einkaufswagen mit Unterlegscheiben in Größe von 1 Euro Stücken freigemacht und dann in den Einkaufsbereich transferiert um sofort die nächste Ladung Wagen zu holen. Alles sehr unauffällig und schnell. Vor der Kasse wurden sie plötzlich zusammengeschlossen und blockierten die Kassen. Nun tauchten Absperrband und Flugblätter auf und das Chaos war perfekt, die KundInnen irritiert. Die Flugblätter der "Kritischen KonsumentInnen" riefen zu Konsumstreik auf . Die gewerkschaftlich organisierten Kassiererinnen wollten schon die Arbeit abbrechen, weil sie dachten die Gewerkschaft würde sie jetzt zu einer "Flash-Mob-Aktion" abholen. Plötzlich suchte die Managerin aufgeregt die Streikleitung. Die aber gab es nicht. Die Streikleitung, bestehend aus zwanzig AktivistInnen, war nach zehn Minuten verduftet.

In den oberen Etagen schäumten die Arbeitgeber, die erfolgreiche Aktion war Thema ihrer Sitzungen. Ver.di wurde juristisch gedroht, wenn sich eine GewerkschafterIn auf den Kameras wiederfinden ließe, würde es ver.di teuer zu stehen kommen. Aus dem Umfeld der Streikleitung kam durchweg positive Resonanz. Die Frauen von real freuten sich mit uns, als wir sie beim nächsten Streiktag auf der Straße wieder drauf ansprachen. Nun hatten wir eine wichtige Erfahrung gemacht: Man kann von außen intervenieren, mit einer eigenen Position und hat andere Spielräume, die sich nicht an Recht und Gesetz orientieren müssen, während eine Institution wie die Gewerkschaft sich legalistisch selbstbeschränkt. Die Aktionsgruppe suchte nach weiteren Unterstützungsformen des Streikes entlang der Betroffenen, auch um sich nicht zum Anhängsel einer Gewerkschaft zu machen oder eines Streiks, der uns inhaltlich zu begrenzt war.

Wir begannen in Kontakt mit einer sich herausbildenden Betriebsgruppe von Kaiser's zu treten. Uns gefiel ihr basisorganisierter Ansatz.

Ohne es zu diesem Zeitpunkt zu ahnen, hatte die Aktion und die daraus entstehende Struktur den Grundstein des zukünftigen Solidaritätskomitees für Emmely gelegt.

Der blinde Fleck Nummer Vier: Die Gewerkschaft kämpft

In den Zeitraum der Aktionen bei "Real" fiel nun auch Emmelys Kündigung. Sie konnte auf Menschen und eine entstehende Struktur zurückgreifen, die sich für ihr Problem interessierte, und wir mussten recht bald feststellen, dass die Gewerkschaft zwar einen Anwalt stellte, den Fall aber nicht politisieren wollte. Wir, die wir mit der Kamera immer den Streik dokumentierten und die lose Gruppe, die sich nun um die Aktion und um den Streik bildete, hatten hingegen schnell den Eindruck, dass die Gewerkschaft massiv in die Öffentlichkeit gehen müsse. Stattdessen kam von dort eher beklemmendes Abwiegeln mit Argumenten, bei denen sich die Haare sträubten. Emmely könne nicht beweisen, dass die Kündigung wegen ihres Engagements beim Streik erfolgt sei und solange dafür keine Beweise vorlägen, könne die Gewerkschaft den Fall nicht politisieren. Erst müsse juristisch geklärt werden, dass sie unschuldig sei betreffs des behaupteten Diebstahls.

Soviel unsolidarisches Verhalten war dann doch zuviel, um dem weiter zuzuschauen, zumal der persönliche Kontakt zu Emmely und der Betriebsgruppe, in der sie aktiv war, immer enger wurde. Wir berieten uns mit Frauen aus ihrem Umfeld.

Susanne, eine Betriebsrätin bei Kaiser's und andere Frauen, einschließlich Emmely, versuchten zu dem Zeitpunkt oben besagte Betriebsgruppe aufzubauen. Und auch hier traten innergewerkschaftliche Widersprüche ans Tageslicht, die weh taten. Die Betriebsgruppe innerhalb von Kaiser's wurde von anderen BetriebsratsgewerkschafterInnen als Konkurrenz angesehen und erfuhr eher Gegenwind als Unterstützung. Da der Betriebsrat was zu sagen hatte und eine gewisse Position gegenüber den Arbeitgeber und ver.di besaß, wurde die sich unabhängig entwickelnde Betriebsgruppe eher wie ein Problem gehandelt - ebenso der Versuch, den Fall Emmely zu politisieren. Als eine Organizerin von ver.di sich in eines unserer Gruppentreffen setzte, baten wir auch auf Betreiben der streikenden Frauen hin, diese zu gehen. Das Misstrauen gegenüber gewerkschaftlichem Funktionärstum war im Laufe des Streikes beträchtlich angewachsen. Und wir selber verstanden uns als Basisstruktur von außen, die sich mit den Betroffenen des Streikes organisieren wollten, nicht mit von der Gewerkschaft finanzierten Funktionären und Organizern.

Was mit Erika Ritter anfangs sehr gut lief - mit der Gewerkschaft lief plötzlich nichts mehr rund. Schon zwei Monate zuvor hatte die Streikleitung in der Hochphase des Weihnachtsgeschäftes den Streik ausgesetzt, "um den Arbeitgebern Zeit zum Nachdenken zu geben", so hieß es auf einer Streikversammlung von Seiten der Gewerkschaftsfunktionäre im Innenhof von ver.di. Dabei hatten die Arbeitgeber kein Interesse an irgendeinem Gespräch mit der Gewerkschaft. Anstatt den Streik noch einmal aufzudrehen, weil das Weihnachtsgeschäft dann unter Druck kommt und die Frauen dann wenigstens die Chance einer stärkeren Position gehabt hätten, wurde der Streik abgebrochen - gegen den erklärten Willen vieler Streikenden. Davon sollte sich der Streik im Neuen Jahr auch nicht mehr erholen, der der längste in der Tarifgeschichte des Einzelhandels werden sollte. Bis heute ist schwer zu klären, ob es Unerfahrenheit war, eklatante Verkennung der Situation, mangelnde Courage oder undurchsichtige Taktiken in der Gewerkschaftsspitze mit den Arbeitgebern oder von allem etwas. Plötzlich wurden alle Vorurteile gegenüber dem Machtapparat Gewerkschaft wieder lebendig, die auszuführen hier den Rahmen sprengen würde.

Blinder Fleck Nummer Fünf: Die Linken kommen

Nun kamen plötzlich Gruppen aus der Linken zum Streik dazu, sie wollten unterstützen. Sie wurden zum Teil von ver.di finanzierten Organizern angesprochen. Relativ unkritisch saßen nun verschiedene Kräfte an einem Tisch und überlegten die Unterstützung des Streikes. Dass die Gewerkschaft die Weichen hin zu einem Kompromiss stellte, der unter anderem von der 6,5-prozentiger Lohnerhöhung absah und Überlegungen angestellt wurden, wie eine rund 3-prozentige Lohnerhöhung als Erfolg definiert werden könnte, war dort nie Thema. Das hinter den Türen besprochene undurchsichtiges Gemauschel um den merkwürdigen Weihnachtsstreikabbruch war ihnen nicht anzukreiden, denn da hatten sie sich für den Streik noch gar nicht interessiert. Auch dass Emmely von der Streikleitung keine Solidarität erfuhr, das interessierte die Schar der linken Gruppen wenig oder gar nicht. Erst als wir den Fall erfolgreich öffentlich gemacht hatten, sprangen auch diese Gruppen auf den fahrenden Zug auf. Ich hatte das Gefühl, dass man sich am Tisch der Gewerkschaft mächtiger fühlen wollte. Die Auseinandersetzung mit den betroffenen streikenden Frauen interessierte nicht. Man orientierte sich unkritisch und obrigkeitshörig an einem Streik, von dem man nix verstand. Es kam trotzdem zu einem gemeinsamen Aktionstag, an dem der Supermarkt "Reichelt" blockiert wurde. Die streikenden Frauen, die opportunistischen linken Gruppen und die UnterstützerInnen des Streikes mit der Erfahrung der "Real"-Aktion im Gepäck, alle waren da. Die Erwerbslosengruppe von ver.di war wie immer präsent wie auch die Streikleitung.

Bezeichnend sind zwei Interviews, die wir während der Supermarktaktion führten: Ein Angehöriger von "Fels" sagte uns ins Mikrophon, dass es für ihn nicht schlimm sei, wenn es nur 3 Prozent mehr Lohn gäbe. Die gemeinsame Erfahrung hier zähle für ihn.

In seiner Ahnungslosigkeit und Verklärung klang das zugleich arrogant, denn was hieß schon "gemeinsame Erfahrung". Die Realitäten waren unterschiedlich und kamen auch nicht über den Kampf zusammen, weil sie nicht sozialer Natur sind und weil es nicht gewünscht ist. Im Klartext heißt das, dass der Interviewte - heute Politikwissenschafter - aktuell an einem Buch zur Geschichte der linken Betriebsintervention arbeitete. Die Streikende, die schon ahnte, dass die Gewerkschaft nur noch pro forma die 6,5 Prozent aufrecht erhielt, waren eher resigniert und brachten im Interview zum Ausdruck, dass sie nicht mehr weiter wüßten, wenn es wieder keine echte Erhöhung gäbe. 3 Prozent hätte man auch schon früher haben können, und es reiche sowieso hinten und vorne nicht zum Leben. Ihren Urlaub verbringt die alleinerziehende Kassiererin mit ihrem Sohn auf Campingplätzen, weil das Geld für etwas anderes nicht reicht.

In der Blockade kamen Welten zusammen, die einfach schmerzten. Akademische Mittelstandslinke, die sich nah an den sozialen Kämpfen kuscheln und wärmen wollten. Soziale Kämpfe "führen" zu wollen, basieren oft nur auf abstrakten Ansprüchen. Man schnupperte Gewerkschaftsluft und vor allem gesellschaftliche Machtpositionen. In erster Linie aber weiß man, dass man nie an der Kasse sitzen wird!

Ganz anders die Frauen, Kassiererinnen, weit von akademischen Titeln entfernt, bodenständig und direkt, wenn man sie fragte und mal zuhörte... mit viel Power, ohne viele Worte ihre Situation beschreibend, stehen sie im Streik, ermuntert von einer Gewerkschaft, der sie vertrauen und gleichzeitig doch von ihr irritiert sind. Unerfahren im Verteilen von Flugblättern und Schreiben derselben - nicht ausgestattet mit dem nötigen Wissen und den Erfahrungen, um genau einordnen zu können, wer da gerade schon wieder ihr Fell verkauft. Sie haben keine Zeit, sich außerhalb der Arbeit in Gruppen organisieren zu können. Zuhause warten die Kinder.

Und dann eine Gewerkschaftsführung, die Emmely auch während der Blockade am Supermarkt am liebsten den Mund verbieten wollte, damit diese nicht offen über ihren Rauswurf berichtet. Dort äußerte sie sich erstmals öffentlich ins Mikrophon: Sie sei gefeuert worden, auch wegen des Streiks. Das "Soli-Komitee zu Emmely" kristallisierte sich aus der Aktionsgruppe zu "Real" immer klarer heraus, veränderte aber sein personelle Zusammensetzung, indem zum Beispiel kritische und gewerkschaftsoppositionelle Menschen dazu kamen. Und Emmely, die wir zu Beginn des Streikes zurückhaltend und defensiv in Bezug zu ihrer Situation wahrnahmen, öffnete sich und wusste immer selbstbewusster und offensiver nach außen zu gehen - natürlich auch mit der entsprechenden Unterstützung im Rücken. Mit dem fertigen Dokumentarfilm im Gepäck sollte sie später quer durch die Republik reisen. Eigentlich war es ungeheuerlich - die Gewerkschaft unterstützte noch nicht mal ihre eigenen Mitglieder, die im Streik durch die Arbeitgeber abgeschossen wurden, und nun mussten eher autonome Strukturen deren Arbeit übernehmen.

Resumee

Ohne Erika Ritter, ihrer Bereitschaft und Offenheit mit Autonomen zusammenzuarbeiten, wäre eine Verbindung zum Streik und somit zu Emmely nie entstanden. Dass die Gewerkschaft dann politisch an vielen Punkten den Streik mit seinen sowieso schwierigen Ausgangsbedingungen konterkarierte und zu Emmely erst eine politische Position fand, als das Soli-Komitee zu Emmely durch öffentliche Skandaliserung schon über einen längeren Zeitraum hinweg das Feld vorgearbeitet hatte, ist wirklich erschreckend.

In Erika Ritter schienen zwei Herzen zu wohnen, das eine war das der Gewerkschaftsfunktionärin bzw. der an Weisungen gebundenen und berufsmäßigen Zwängen unterliegenden Gewerkschafterin, das andere kennzeichnete die Person, auf die wir uns bezogen: offen für Bündnisse und Interventionen mit autonomen und anarchistischen Gruppen. Verbündete wie Erika Ritter muss es geben. Wir aber müssen klären, wie wir zu den Widersprüchen stehen, die sich aus der punktuellen Zusammenarbeit mit quasi einer Art ADAC für ArbeitnehmerInnen-Fragen, nämlich der Gewerkschaft als Rechtsvertretung für Mitglieder ohne Klassenstandpunkt, ergeben.

Eine opportunistische, anbiedernde, mittelschichtorientierte Politik von Linken stärkt vielleicht die Gewerkschaft und mündet in Organizerjobs - sie stärkt keine Kämpfe, sie bereichert sich höchstens an ihnen. Eine Aussicht auf die getrost verzichtet werden kann. Dort wo Basisstrukturen entstehen, werden solche Leute immer kommen, weil sie von ihnen zu profitieren wissen.

Die Gewerkschaft ist alles andere als ein taugliches Instrument für zukünftige soziale Kämpfe. Der Selbstorganisierung in unseren Arbeitsbereichen, wilde Streiks und Vernetzung der Gruppen, die Streik auch gegen Streikbruch von außen durchsetzen können, wie zum Beispiel bei der erprobten "Real"-Aktion, würde ich den Vorzug geben. Autonome und anarchistische Gruppen sollten ihre Distanz zu Menschen, die in einen Streik treten, aufgeben und bei aktuellen Streiks schnell Kontakt aufnehmen. Nicht die Gewerkschaftsführung interessiert, sondern die Streikenden. Wissen wir wie die Streikenden unterwegs sind, können wir diese mit einer eigenen Position unterstützen.

Wir können Erfahrungen machen und von einander lernen, um miteinander außerhalb der Gewerkschaften andere Perspektiven aufbauen zu können. Dann kann man vielleicht auf einmal wieder an die unbeantwortete Eigentumsfrage offensiv rangehen, die zu unzähligen beschissenen Arbeitsverhältnissen und Entlohnungen beiträgt. Und zu Emmelys Rauschmiss führte...

Zu wünschen ist, dass wir zukünftige soziale Kämpfe, selbstbewusster aus einer anarchistischen Analyse heraus führen - mit der Perspektive einer freien Gesellschaft.

Bei aller Kritik; der Kampf für Emmely im Speziellen und die vielen unsichtbaren Emmelys im Allgemeinen war gut und erfolgreich. Eine Erfahrung, die auch gerade mit diesen kritischen Anmerkungen für zukünftige Auseinandersetzungen wichtig sein kann.

Artikel von Samira van Zeer (S. 50-57) als exklusive Leseprobe im LabourNet Germany aus:

Gestreikt. Gekündigt. Gekämpft. Gewonnen.Die Erfahrungen der "Emmely"-Kampagne

Gestreikt. Gekündigt. Gekämpft. Gewonnen.Die Erfahrungen der Dies ist der Titel des vom Komitee Solidarität mit Emmely herausgegebenen Buches beim Verlag AG Spak Bücher (ISBN 978-3-940865-27-4, 140 Seiten, 9,50 Euro). Aus dem Klappentext: "Der "Fall Emmely" war ein Arbeitsrechtsstreit um die fristlose Kündigung einer langjährig beschäftigten Kassiererin der Supermarktkette Kaiser's Tengelmann, der 2009 bundesweit ein kontroverses Medienecho erregte und eine gesellschaftliche Diskussion zu Bagatellkündigungen hervor rief. Der Kassiererin, die als Emmely bezeichnet wird, war vorgeworfen worden, zwei ihr nicht gehörende Flaschenpfandbons im Wert von 1,30 Euro eingelöst zu haben; ihr wurde fristlos gekündigt. Das Bundesarbeitsgericht in Erfurt erklärte die Kündigung am 10. Juni 2010 für unverhältnismäßig und damit für rechtswidrig. Der juristische "Erfolg" ist auch ein Ergebnis der vielfältigen Solidaritätsarbeit für Emmely. Die verschiedenen Zugänge und Perspektiven der Auseinandersetzung mit (Kaufhaus-)Konzernen ist Thema dieses Sammelbandes." Siehe dazu: Inhaltsverzeichnis und Bestellung beim Verlag AG Spak externer Link


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