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Updated: 18.12.2012 15:51
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Willi Hajek und Gregor Zattler über betrieblichen Ungehorsam, kollektive Selbstorganisation und gewerkschaftliche Versäumnisse

Das Berliner Solidaritätskomitee für die gekündigte Kaiser’s-Kassiererin Emmely hat es geschafft, diesen Fall einer Verdachtskündigung mit Bagatellcharakter zu einem nicht nur bundesweiten Politikum zu machen. Es hat seit einem Jahr den Kampf Emmelys gegen die Kündigung begleitet, öffentlich gemacht und politisiert. Deshalb gibt es nun größere Chancen, diese Rechtsprechung mit Hilfe einer Verfassungsklage zu beenden. In den Berliner Gewerkschaftsvorständen hatten die Aktivitäten des Solikomitees während dieser ganzen Zeit keine Unterstützer gefunden. Dies wollten wir im express diskutieren, aber zwei Artikel wurden abgelehnt. Der ›express‹ ist so ziemlich das einzige Printmedium in Deutschland, das sowohl von Betriebs- und GewerkschaftsaktivistInnen als auch von AktivistInnen der »sozialen Bewegungen« gelesen wird und in dem auch gewerkschaftsunabhängige Stimmen gedruckt werden. Damit könnte der ›express‹ eine wichtige Scharnierfunktion erfüllen und die Debatte zwischen verschiedenen Teilen der sozialen Linken voranbringen. So aber wurde die Auseinandersetzung verhindert. Um die notwendige Debatte endlich zu beginnen, wollen wir im Folgenden die Situation aus unserer Sicht beschreiben. Die Redaktion hat die Möglichkeit, zusätzlich die Perspektive weiterer Akteure ins Blatt zu holen und so Konflikte öffentlich zu machen. Unserer Meinung nach sollte sie genau das tun, statt auf eine Kontroverse zu verzichten. W.H./G.Z.

Im Winter 2007 finden bundesweit von ver.di organisierte Einzelhandelsstreiks statt, um den tariflosen Zustand zu beheben. Die Arbeitgeber fordern die Streichung der Zuschläge für Spät-, Nacht- und Wochenendarbeit. In Berlin-Brandenburg beteiligen sich Tausende von Kolleginnen an den Demonstrationen und Streikbewegungen. Die Aktionen, Straßenversammlungen und Blockaden sind lebendig und voller Fantasie. Auch bei Kaiser’s gibt es einen ganzen Block von aktiven Frauen. Emmely, Kassiererin in der Kaiser’s Filiale in Berlin-Höhenschönhausen, ist auch dabei, organisiert ihre Kolleginnen, führt die Streikteilnehmerliste für die Auszahlung der Streikgelder, sie ist aber nur Mitglied ohne gewerkschaftliche Wahlfunktion. Die Distriktleitung von Kaiser’s bekommt durch die Streikaktionen einen Überblick über das Verhalten der Beschäftigten. Die Nicht-Streikenden werden zum Streikbrecher-Bowling eingeladen, um den Zusammenhalt zu pflegen gegen die Aktivisten. Es wird zu betrieblichen Denunziationen aufgefordert. Die Streikenden werden schließlich von der Distriktleitung zum Vier-Augen-Gespräch zitiert. Den Streikenden wird Angst gemacht. Einige geben nach und ziehen sich zurück. Emmely hält diesen Druck aus und gibt nicht nach. Sie wird von mehreren Kolleginnen gewarnt, als oberste auf der Abschussliste des Arbeitgebers zu stehen. Bevor Emmely an dem besagten Tag ihren Einkauf tätigt, der drei Tage später wegen der angeblichen Einlösung fremder Pfandbons zur fristlosen Kündigung führen sollte, hatte man bereits versucht, ihr bei der Abrechnung von payback-Punkten eine Falle zu stellen. Dies gelang nicht. Erst mit diesem Verdacht der Pfandbonseinlösung schien sich die Filialleitung sicher. Die fristlose Kündigung wegen des Verdachts, »nicht-abgezeichnete Pfandbons« im Werte von 1,30 Euro eingelöst zu haben, wurde im Februar 2008 ausgesprochen. Emmely geht daraufhin zur Gewerkschaft, um Rechtsbeistand zu bekommen.

Bereits während der Streiks hatte sich in der Art von Streikbeobachtern durch kanalB eine Unterstützergruppe gebildet, die in den Streik intervenierten wollte und eine Blockadeaktion beim Real-Supermarkt organisierte. Die Gruppe hatte sich im Streik mit Emmely und ihren kämpferischen Kolleginnen angefreundet. Als Emmely gekündigt wurde und beschlossen hatte, damit an die Öffentlichkeit zu gehen, wurde aus dieser Gruppe das Komitee »Solidarität mit Emmely«. »Wir machen diese Geschichte öffentlich«, beschloss das sich gründende Soli-Kollektiv. Emmelys ver.di-Anwältin, an die sie sich gewandt hatte, will jedoch keine Öffentlichkeit. Emmely entscheidet sich, die Anwältin zu wechseln, und wendet sich an einen anderen vom Soli-Komitee vorgeschlagenen Anwalt, der sie bis heute vertritt.

Beide beschließen, sich gegen die fristlose Kündigung mit einer Klage zu wehren. Das neu gegründete Soli-Komitee beginnt in Vorbereitung des Prozesses mit seiner Öffentlichkeitsarbeit. ver.di Handel/Berlin-Brandenburg nimmt erstmals öffentlich zu diesem Ereignis Stellung: Die Fachbezirksbereichsleiterin, Erika Ritter, erklärt ihre solidarische Unterstützung auf einer Kundgebung, die vom Solikomitee organisiert worden war.

Nach der Niederlage in erster Instanz und nachdem der Tarifvertrag unterschrieben war, erscheint Anfang September 2008 ein großer Artikel in der »publik«. Außerdem setzt ver.di eine Online-Solidaritätserklärung mit Unterschriftensammlung auf und verteilt Postkarten, in denen Kaiser’s zur Wiedereinstellung von Emmely aufgefordert wird. Zur Überraschung aller wird zudem noch von ver.di aufgefordert, so lange nicht mehr bei Kaiser’s einkaufen zu gehen, bis die Kassiererin wieder eingestellt ist.

Etwa vier Wochen später findet ein Gespräch bei der verantwortlichen ver.di-Landesbezirksfachbereichssekretärin statt, in dem diese versucht, Emmely klarzumachen, dass sie keine Chance habe, den Prozess zu gewinnen; sie solle das angebotene Abfindungsangebot von Kaiser’s annehmen und gehen: »Dein Marktwert ist so hoch wie nie, und zudem brauchst du doch jetzt Geld.« Aber Emmely bleibt ungehorsam gegenüber der Aufforderung des Gewerkschaftsapparats, sie fühlt sich im Recht. Das Soli-Kollektiv gibt ihr Rückhalt. »Ich lasse mich nicht kaufen«, teilt Emmely ihrer Fachsekretärin mit. Wenige Tage später, am 1. Oktober 2008, erscheint eine öffentliche Stellungnahme des Betriebsrates von Kaiser’s, Zweigstelle Berlin, auf der Soliwebsite von ver.di zum Fall Emmely. In dieser Stellungnahme behauptet der Betriebsrat, Emmelys Kündigung habe mit dem Streik nichts zu tun, und gegensätzliche Feststellungen des Betriebsrates im Widerspruch gegen die Kündigung seien »wider besseres Wissen« erfolgt. Der Betriebsrat fordert ver.di auf, die Soliaktion einzustellen (siehe bei ver.di externer Link oder im
LabourNet
pdf-Datei)

Am selben Tag beendet ver.di ihre Solidaritätsaktionen.

Nach dem Urteil in erster Instanz, in dem die Kündigungsschutzklage zurückgewiesen wurde, beschließt Emmely, in Berufung zu gehen. Vor allem die Aufforderung des Richters, doch endlich die Straftat einzugestehen, empört sie. Zudem hatte sie im Solikomitee großen Halt und Freunde gefunden; es trifft sich wöchentlich, führt Informationsveranstaltungen zur Verdachtskündigung und andere öffentliche Aktionen durch. Bei den Aktionen auf der Straße und vor den Kaiser’s-Filialen gibt es große Zustimmung von Seiten der Berliner Bevölkerung. Der »Fall Emmely« führt dazu, dass viele Menschen von ihren eigenen Erfahrungen erzählen, von ihrem Erleben, von den Demütigungen im Betrieb, gerade auch in den Handelsketten. Auch anderswo entdecken wir plötzlich Verdachtskündigungen. Es melden sich betroffene Kolleginnen aus Witten, Essen und Fürstenberg. In der Volksbühne in Berlin findet eine vom Solikomitee organisierte, gut besuchte Veranstaltung statt, an der auch Brigitte Heinisch sich beteiligt. Sie war als Altenpflegerin bei Vivantes beschäftigt und hatte sich ebenfalls ungehorsam gegenüber den Anordnungen der Leitung verhalten. Sie hatte inhumane und medizinisch unerträgliche Zustände, die auch den Vorschriften widersprachen, in der Pflege öffentlich gemacht und wurde fristlos gekündigt.

Erst durch diese Öffentlichkeitsarbeit des Soli-Komitees konnte der Prozess in der zweiten Instanz im Februar 2009 zu einem solchen öffentlichen Ereignis werden. Bundesweit wird der Fall »Emmely« exemplarisch für die Klassenjustiz, die mit einer solchen Verdachtskündigung praktiziert wird. Mit der Berufungsverhandlung wird das Medienecho zum Sturm. Zur Berufungsverhandlung erscheint ein großes Portrait des Anwalts von Emmely in der »publik«. Nach der Niederlage vor dem Landesarbeitsgericht berichten alle Massenmedien in Deutschland. Die Ablehnung der Berufung löst eine noch größere Debatte aus, in allen Nachrichtensendungen und Talkshows positionieren sich die Teilnehmer – mehrheitlich eher pro Emmely. Dabei interviewen die Medien auch mehrfach GewerkschafterInnen, darunter die Fachbezirksbereichsleiterin, Erika Ritter. Politiker aller Parteien sind geradezu gezwungen, sich zu äußern. Angesichts der Finanzkrise und in Erwartung der Wahlen in diesem Jahr folgen sie dabei meist dem »gesunden Gerechtigkeitsempfinden« und kritisieren die Rechtssprechung. Tage später erscheint eine Stellungnahme des Fachbereichs. In allen genannten öffentlichen Äußerungen stellt ver.di den Fall Emmely so dar, als gäbe es kein Solikomitee oder vereinnahmt dessen Arbeit, als wäre es die eigene.

Emmely wird zu einer begehrten Gesprächspartnerin, sie wird bundesweit von ver.di-Gruppen, Schulen und anderen Initiativen eingeladen, ihre Geschichte wird mehr und mehr zum Anlass für andere Betroffene, von sich zu berichten. Emmely macht ihnen, trotz der aktuellen Niederlage, Mut, ungehorsam zu werden, sich nicht mehr alles gefallen zu lassen. Hinter allem steht die alltägliche Arbeit des Soli-Komitees, in dem alternative MedienaktivistInnen von kanalB, labournet.de und netzwerk.it großen Anteil haben. Hier entwickelt sich eine kooperative Praxis, von der andere nur lernen können. Einzelne Kolleginnen von Kaiser’s beteiligen sich, aber es herrscht bei Kaiser’s in den Läden große Angst, sich als Unterstützerin von Emmely zu outen. Diese Angst hat der Betriebsrat mit seinem damaligen Brief noch verstärkt. Die Situation ist vertrackt: Zum einen gibt es eine breite Öffentlichkeit, die empört ist, zum anderen ein Kaiser’s-Unternehmen mit seinen 170 Filialen in Berlin, das zusammen mit dem Betriebsrat gegen Emmely hetzt – und das ver.di-Handelssekretariat in Berlin mit seinen 650 organisierten KollegInnen bei Kaiser’s schweigt. Die Gewerkschaftsfunktionäre greifen diesen Ungehorsam einer Kollegin nicht auf, benutzen den Fall nicht dazu, das Klima im Unternehmen zu verändern und den mutigen KollegInnen den Rücken zu stärken. Ohne die selbstorganisierende Existenz und Aktivität des Soli-Komitees wäre die Geschichte nicht bekannt geworden, weder in Berlin noch bundes- oder gar europaweit; und ohne den Mut und den Ungehorsam der Kassiererin Emmely hätte es mit einem stillen Vergleich geendet, ohne jegliches öffentliches Aufsehen. Viele Konflikte laufen so im Stillen ab, und alle bleiben vereinzelt. Dabei können Rechtsfälle wie diese Verdachtskündigung sehr wohl eine soziale Dynamik entfalten und die Kräfteverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit verändern. Inzwischen wollen einige bei ver.di organisierte und am Streik beteiligte Frauen bei Kaiser’s in den Filialen eine gewerkschaftliche Vertrauensleutearbeit aufbauen, aber auch das ist nicht leicht angesichts des Gegenhandelns der Betriebsratsspitze.

Fazit: Eine Gruppe von 10–15 Menschen – alternative MedienaktivistInnen, gewerkschaftskritische Basisakteure und Aktive aus dem linksautonomen Bereich – unterstützen eine Kaiser’s-Verkäuferin, die sich gegen ihre fristlose Kündigung wehrt. Sie erreichen eine Öffentlichkeit, die sich mehrheitlich über die Urteile gegen Emmely empört. Alle Parteien und juristischen Lager sind inzwischen gezwungen, sich zur deutschen Arbeitsrechtssprechung zu äußern, die Verfassungsklage, die Emmelys Anwalt einreichen wird, hat Aussichten auf Erfolg. Die vielen, seit Jahren ausgesprochenen Kündigungen in ähnlichen Fällen werden plötzlich bekannt, und die Betroffenen hoffen, dass ihnen dank Emmely Gerechtigkeit widerfährt. Die folgenden Urteile in Sachen Verdachtskündigung sind nicht mehr so leicht im Interesse der Unternehmer zu fällen. Im Angesicht der Finanzkrise erhält das Urteil gegen Emmely einen für alle sichtbaren Klassencharakter. Wen das alles nicht besonders zu interessieren scheint, sind die Gewerkschaften hier in Berlin, obwohl sie – und nicht nur ver.di – ständig mit solchen Urteilen vor allem gegen ihre aktivsten Mitglieder zu tun haben. Die Funktionäre vor Ort haben weder das Solikomitee tatkräftig unterstützt, noch eigene Aktivitäten kontinuierlich verfolgt; in Talkshows sind sie besonders uninformiert, und ihre gewerkschaftseigenen Juristen halten sich bezüglich einer Verfassungsklage vornehm zurück. Die Gewerkschaften haben bisher eine richtig gute Chance verspielt, eine effektive Zusammenarbeit mit sozialen Initiativen zu probieren, sie haben ihre KollegInnen vor Ort allein gelassen und deren Mut nicht gestärkt, und sie haben sich nicht an die Spitze einer Kampagne gestellt, die Arbeitsrechtssprechung zugunsten der Beschäftigten zu verändern. Ob es ihnen gefällt oder nicht, haben sie dazu beigetragen, die Achtung und Anerkennung vor der Kraft und Dynamik sich selbstorganisierender sozialer Bewegungen zu stärken.

Zusammengefasst wünschen wir uns – das sind alle die, die an diesem solidarischen und kooperativen Prozess hier in Berlin beteiligt sind –, dass sich aus diesem betrieblichen Ungehorsam einer einzelnen Kollegin gegenüber der Arroganz der Mächtigen und aus der Kraft der Selbstorganisation der UnterstützerInnen im Soli-Kollektiv ein allgemeiner Ungehorsam und eine kollektive Selbstorganisation gegen die unerträglichen Verhältnisse hier im Lande entwickeln. Und das ist möglich. Packen wir es an!

Weitere Informationen unter: http://emmely.org externer Link

Es gibt einen Dokumentarfilm von kanalB, der den Streik im Einzelhandel und damit auch den Fall Emmely dokumentiert. »Das Ende der Vertretung - Emmely und der Streik im Einzelhandel« von Bärbel Schönafinger in Zusammenarbeit mit Samira Fansa, BRD 56 min. Der Film kann auf http://kanalb.org externer Link für 10 Euro bestellt werden

Erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 3/09


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