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Updated: 18.12.2012 15:51
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Henne oder Ei? - Henne und Ei!

Tagung zu Kampagnen als »Chance für Gewerkschaften«

Drei gut besuchte Tagungen zum Themenfeld »Organizing« und »Campaigning« innerhalb eines Jahres scheinen ein Indiz dafür, dass auch die Suche nach Antworten auf die Krise der Gewerkschaft(en) innerhalb von ver.di neue Formen angenommen hat: Der Glaube, dass sich durch aufwändige Mitgliederwerbe»kampagnen«, mehr »Serviceorientierung«, Organisationsentwicklungsprojekte und Hochglanzbroschüren, in denen unter Anlehnung an den technokratisch-tautologischen Jargon der Beraterbranche verkündet wird, die Gewerkschaft sei nun eine »selbstorganisierende«, »lernende Organisation« (also das, was sie gemäß demokratischer Verfassung ohnehin sein müsste), ein »turnaround« in Bezug auf Mitgliederentwicklung und gewerkschaftlichen Einflussverlust bewerkstelligen lasse, reicht offensichtlich nicht hin, um die gewünschten Berge zu versetzen. Die Aufgeschlossenheit gegenüber neuen Konzepten verdankt sich insofern durchaus der Not und dem - gemessen am fortgesetzten Mitgliederrückgang zu konstatierenden - Scheitern vieler dieser Ansätze. In einer Situation, in der die Gewerkschaften mit dem Rücken an der Wand stehen, bietet sich jedoch vieles als Projektionsfläche an. Mitnahmeeffekte sind, darauf deutet der inflationäre Gebrauch von Schlagworten wie »Organizing« und »Campaigning« hin, nicht ausgeschlossen. Deshalb ist ein genauerer Blick angebracht: Wer versteht was unter diesen Konzepten, und warum wird auf sie Bezug genommen? Zugleich ging es bei allen drei Tagungen darum, Perspektiven aufzuzeigen, wie die Gewerkschaften in einer Situation, in der selbst in Kernbereichen ihrer Aktivitäten kaum noch Erfolge vorzuweisen sind, gesellschaftlich aus der Defensive herausfinden und wieder mobilisierungsfähig werden.

Die von ver.di, DGB Hamburg, Hans Böckler Stiftung und der Cornell-Universität finanzierte und von etwa 100 TeilnehmerInnen besuchte Konferenz »Never work alone« im Frühjahr letzten Jahres sowie das Nachfolgetreffen in Hannover befassten sich vorrangig mit der Frage, was sich aus den US-amerikanischen Organisierungsansätzen lernen lasse. Der Blick richtet sich dabei nicht zufällig auf die Erfahrungen jenseits des Teichs. Dort entwickelte sich die Vorstellung, sich stärker um die »Aktivierung und Mobilisierung« von Unorganisierten kümmern zu müssen, Mitte der 90er Jahre vor dem Hintergrund der niedrigsten gewerkschaftlichen Organisationsgrade seit Ende des zweiten Weltkrieges. Sie gingen einher mit einem äußerst repressiven, gewerkschaftsfeindlichen Klima auf politischer und arbeitsrechtlicher Ebene und schwindendem Ansehen der Gewerkschaften sowohl gegenüber den Lohnabhängigen als auch gegenüber den Unternehmensvertretern. »Organize or Die« lautete bereits die Parole der Black Workers for Justice Anfang der 90er Jahre, eine Devise, die auch innerhalb der AFL-CIO und diverser, vor allem in den wenig bis gar nicht organisierten Dienstleistungsbranchen vertretenen Gewerkschaften in Gestalt erhöhter Budgets für die Rekrutierung und Ausbildung von Organizern und Campaignern Priorität erlangte: »Changing to Organize«, so das Programm der AFL-CIO nach der Wahl des »Reform«-Flügels unter John Sweeney, Richard Trumka und Linda Chavez-Thompson 1995. [1]Internationale Bekanntheit erreichte die »Justice für Janitors«-Organisierungskampagne unter GebäudereinigerInnen durch Ken Loachs Film »Bread and Roses«.

Campaigning bezieht sich in den USA meist auf die Organisierung neuer Betriebe und meint in diesem Zusammenhang vor allem die Vorbereitungen zur Durchführung betrieblicher »Anerkennungswahlen«, mittels derer die Beschäftigten darüber entscheiden, ob sie eine gewerkschaftliche Vertretung wünschen und damit zugleich, ob ein Betrieb und sie selbst als »unionized«, also gewerkschaftlich organisiert gelten. Für deutsche Verhältnisse ungewohnte Herangehensweisen wie das »Klinkenputzen« als Mittel der Ansprache, Auseinandersetzung mit und Gewinnung von einzelnen Beschäftigten resultieren dabei aus dem Umstand, dass der Betrieb aufgrund repressiver Unternehmensstrategien kein selbstverständlicher Ort der Ansprache und Organisierung ist und aufgrund fehlender Möglichkeiten einer individuellen Mitgliedschaft zugleich als einziger Ansatzpunkt gewerkschaftlicher Organisierung dienen muss. Dies unterscheidet US-amerikanische Anstrengungen zur Gewinnung von Gewerkschaftsmitgliedern von hiesigen »Mitgliederwerbekampagnen«, die zunächst einen wesentlich individualisierteren Bezug auf die potentiellen Neu-Mitglieder haben - ohne dass sie an eine betriebliche Auseinandersetzung anknüpfen müssten, um ein Interesse an gewerkschaftlicher Arbeit wecken zu können. Dass Organizing in den USA sich in irgendeiner Form auf betriebliche Auseinandersetzungen beziehen muss, heißt jedoch nicht, dass sich aus solchen Strategien notwendig eine stabile gewerkschaftliche Mitgliedschaft oder gar Interessenvertretung entwickeln muss. Untersuchungen zeigen, dass vielfach bereits nach der Durchführung der Anerkennungswahlen das Interesse an gewerkschaftlicher Arbeit zusammenbricht und es ggf. gar nicht mehr zur Verhandlung eines ersten Tarifvertrags kommt. [2]

Explizit gewarnt wurde in der kritischen Debatte, die sich den sukzessive abnehmenden Erfolgen der »Changing to Organize-Kampagne« nach 2000 anschloss, vor einer taktischen Verengung des Campaigning bzw. Organizing auf Mitgliederrekrutierungsstrategien und davor, die kontinuierliche Bildungsarbeit zugunsten einseitiger Investitionen in die Rekrutierung und Schnellschulung von frisch gebackenen Hochschulabsolventen zu »Organizern« zu vernachlässigen. [3] Von einer solchen Konstellation sind die Gewerkschaften in der BRD noch weit entfernt: ver.di hat in einem Hamburger Pilotprojekt gerade einen Finanzierungspool für fünf Organizer eingerichtet, die nun ausgebildet werden sollen. Neben solchen begrüßenswerten Initiativen ist jedoch auf die bedenkliche Entwicklung bei der Umstrukturierung der politischen Bildung und der Kürzung der für sie angesetzten Haushaltsmittel zu verweisen.

Es stellt sich noch ein zweites Problem bei der Frage nach den Übertragbarkeiten US-amerikanischer Erfahrungen mit Organisierungs-Kampagnen: Wenngleich, möglicherweise gerade aufgrund der Schwäche und mangelnden betrieblichen Repräsentanz der Gewerkschaften in den USA, die Suche nach Bündnispartnern und der Aufbau sozialer Netzwerke eine gestiegene Bedeutung auch im Rahmen der US-amerikanischen Organizing-Kampagnen erhalten hat und auf diese Weise Bezug auf den Slogan des »social movement unionism« (etwa: Gewerkschaften als soziale Bewegung und in Bewegung) genommen wird, ist im Einzelfall zu prüfen, ob es zu einer mehr als instrumentellen Kooperation, zu einem mehr als punktuellen Zweckbündnis kommt. Ob sich also sowohl bei den Beschäftigten und ihren Gewerkschaften als auch bei den Beteiligten aus Communities, Kirchen, Bürgerrechtsorganisationen, MigrantInnenorganisationen etc. Horizontverschiebungen, Perspektivveränderungen, kurz: jene dynamischen Momente ergeben, auf die Sam Gindin, ehemaliger Berater der Canadian Auto Workers und maßgeblich an den Ontario Days of Ac-tion, Mitte der 90er Jahre in Kanada, beteiligt, in seinem Beitrag auf der Kampagnentagung vom 25.- 27. November in Oberjosbach hinwies: Nicht nur die Organisationen, sondern auch die Menschen ändern sich in den Kämpfen. In ihnen kann, im günstigsten Fall, etwas gelernt werden, was »gewerkschaftliche Fragen als gesellschaftliche«, so die Initiatoren der Kampagnenkonferenz in ihrem Einladungsschreiben, erfahrbar macht und damit auch Gesellschaft selbst als veränderbar. Im günstigsten Fall wären Kampagnen dann weder nur Mittel, noch bloßer Selbstzweck, sondern, etwas metaphorisch ausgedrückt: Huhn und Ei zu-gleich.

»Nicht beliebig«

Während es bei den voran gegangenen Tagungen in Hamburg und Hannover stärker um Fragen der Organisierung und Mobilisierung von Mitgliedern ging, standen in der NGG-Bildungsstätte Oberjosbach Kampagnen als »Kampfform der Gewerkschaften und Sozialen Bewegungen« im Mittelpunkt. Das Thema war also einerseits breiter formuliert als bei den Organizingtagungen, wie auch in der Einladung bereits angekündigt wurde: »Kampagnen verändern Gewerkschaften. Kampagnen machen Gewerkschaften handlungsfähiger, Kampagnen entwickeln selbstbewusste Belegschaften, Kampagnen qualifizieren Gewerkschaftsaktive, Kampagnen verbessern die Zusammenarbeit in der Organisation, Kampagnen lassen Gewerkschaften zu einem ernst zu nehmenden Verhandlungspartner werden. Kampagnen sind eine Antwort auf die Krise der Gewerkschaftsbewegung und ihrer Aktionsformen.« Andererseits galt es auch hier genauer hinzusehen: »Nicht überall, wo Kampagne drauf steht, ist auch Kampagne drin! Inflationär wird der Begriff gebraucht für vieles, was einfach ein Projekt, eine Aktion, eine Tarifrunde oder ein Streik ist.«

Vor dem Risiko der Beliebigkeit warnte z.B. Rüdiger Timmermann, Landesbezirksleiter bei ver.di Nord, in seinem Beitrag über »gewerkschaftliche Kampagnen und Boykott als alternative Arbeitskampfformen«. Er sah die Notwendigkeit, über solche Formen nachzudenken, als Resultat des Niedergangs der Arbeiterbewegung, der mit einer Vielzahl von Spaltungen einhergehe, machte jedoch auch darauf aufmerksam, dass bereits mit dem Betriebsverfassungsgesetz eine wesentliche Voraussetzung für diese Spaltungen gelegt worden sei. In der vagen Hoffnung, Arbeitsplätze zu schaffen, werde derzeit parlamentarisch und in den Unternehmen alles unternommen, um bisherige demokratische und soziale Errungenschaften der Arbeiterbewegung zu schleifen. Diese Fixierung auf Arbeitsplatzsicherung bzw. -schaffung sei es auch, die zur Verbreitung des Co-Managements in den Gewerkschaften beigetragen habe. Angesichts dessen sei es ein Irrglaube anzunehmen, dass das Kapital Demokratie und Menschenrechte bräuchte und an dieses zu appellieren. Notwendig sei vielmehr vermehrte Aufklärung darüber, dass Partnerschaftsvorstellungen illusorisch seien sowie eine klare Abkehr von der Stellvertreterpolitik hin zur Beteiligungsorientierung. Timmermann hielt Kampagnen für ein geeignetes Mittel, sowohl die internen Strukturen der Gewerkschaften als auch das Bewusstsein ihrer Mitglieder zu verändern und zugleich Druck auf die Änderung ökonomischer Verhältnisse in Richtung auf deren tatsächliche Demokratisierung zu entfalten. Boykottaktionen komme hier eine besondere Bedeutung zu, insofern sie die Unternehmen am einzigen Punkt träfen, der zu praktischen Veränderungen führe: ihrer ökonomischen Situation. Letztlich, so sein Argument gegen »weichere« Boykottformen wie »Image Pollution«-Kampagnen, die zuvor Heinrich Geiselberger am Beispiel der Kampagne der Landarbeitergewerkschaft CIW gegen den Fast Food-Konzern Taco Bell erläutert hatte, interessierten die Unternehmen »Kratzer an ihrem Image« nur insofern, als ihre Ertragslage dadurch berührt sei. Die Zurückhaltung gegenüber Kampagnen und Boykotts erklärte Timmermann mit deren Nähe zu politischen Streiks. Doch was hindere die Gewerkschaften daran, wieder politisch zu streiken, wenn es um die Gesamtheit der Lebensbedingungen der Menschen gehe - und nachdem der Hoffnung auf den parlamentarischen Arm und entsprechende Versuche, die Vertretung dieser Interessen auf die parlamentarische Ebene zu delegieren, spätestens seit der Agenda 2010 von 1999 die Grundlage entzogen sei.

Ansetzen an vorhandenen Konflikten

An der Zurückhaltung gegenüber solchen Formen des Arbeitskampfes hat sich zwar in institutioneller Hinsicht insofern etwas geändert, als ver.di, wie Frank Bsirske in seinem Grußwort an die Tagung mitteilte, Ende des Jahres - neben dem Hamburger Organizing-Projekt - einen Kampagnenfonds geschaffen hat, in den drei Prozent des Haushaltes der verschiedenen Gliederungen der Organisation eingezahlt werden. Doch von einer wirklichen Verankerung zu sprechen, wäre unangemessen, wie u.a. Bernd Riexinger, ver.di Stuttgart, in einer Podiumsdiskussion zu diesem Thema deutlich machte. Das habe jedoch weniger mit der finanziellen Ausstattung zu tun, als damit, dass Projekte wie etwa die jüngste Mindestlohn- oder die etwas ältere, gemeinsam mit attac entwickelte Gesundheitskampagne, als Top Down-Projekte konzipiert, die Betroffenen vor Ort nicht erreichten. Entsprechende Hochglanz-Broschüren seien in den Büros der Hauptamtlichen liegengeblieben. Auch wenn also der politische Wille, sich mit solchen Instrumenten zu beschäftigten, mittlerweile auf Bundesebene da sei, müsse stärker an vorhandenen Auseinandersetzungen angeknüpft werden, wenn Kampagnen Erfolg haben sollten. Dass dies auch und vor allem auf regionaler Ebene durchaus möglich ist, hatte er zuvor im Rahmen der Präsentation exemplarischer Kampagnen am Beispiel der Stuttgarter Kampagne »Öffentlich ist wesentlich - Stoppt den Ausverkauf« deutlich gemacht: Hier gelang es, Beschäftigte so unterschiedlicher öffentlicher Einrichtungen wie Müllabfuhr, Philharmonie, Garten- und Friedhofsamt, Kliniken, Schuldner- und Suchtberatung, Tagespflege, Feuerwehr oder Statistisches Landesamt sowie BürgerInnen zum Thema Ausgliederung und Privatisierung von Leistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge zusammen zu bringen und aus dem Austausch über die spezifischen Betroffenheiten heraus gemeinsame Protestformen und Forderungen zu entwickeln. Bei den publikumswirksam angelegten »Tagen des Öffentlichen Dienstes«, in denen Menschen aus vielen Einrichtungen der Stadt ihre Arbeit und ihre Probleme vorstellten, ging es entsprechend nicht nur um Arbeitsplätze, Löhne und Arbeitsbedingungen, sondern vor allem auch um die für ProduzentInnen und KonsumentInnen wichtige Qualität der öffentlichen Leistungen. In vielen Fällen konnten Stellenstreichungen und Outsourcingvorhaben mit dieser Kampagne bislang verhindert werden.

Auf einen weiteren wesentlichen Erfolgsfaktor wies Agnes Schreieder in der Diskussion zur »Verankerung von Kampagnen in ver.di« am Beispiel der derzeit laufenden Lidl-Kampagne, deren Budget just vor der Tagung verlängert wurde, hin: Zwar handele es sich bei Lidl um eine klassische Top Down-Kampagne, doch anders als in solchen Fällen üblich, sei diese mit wenig Leuten und wenig Geld gestartet worden. Erst der öffentliche Druck von außen, z.B. über das Schwarzbuch Lidl, habe dazu geführt, dass die Kampagne überhaupt die Ebene eines Schreibtischprojektes verlassen habe. Öffentlichkeit meine dabei z.B. auch Diskussionen der KundInnen mit VerkäuferInnen und deren Vorgesetzten, die Aufklärung der KonsumentInnen über soziale Hintergründe für die Dumpingpreise der Discounter, wie sie etwa attac in das Zentrum seiner »Parallelkampagne« (»Lidl ist nicht zu billigen«) stelle, oder die Übernahme von Patenschaften für Filialen oder Beschäftigte, die einen Betriebsrat gründen wollten, durch Prominente - Formen des Protests, die dazu geführt hätten, dass die Kampagne mittlerweile zu über 80 Prozent von Ehrenamtlichen inner- und außerhalb der Gewerkschaften getragen werde. Schreieder freute sich jedoch nicht nur über dieses unerwartete Maß an Beteiligung, sondern auch darüber, dass im Zuge dieser Auseinandersetzung Beschäftigte, Hauptamtliche und MitstreiterInnen ständig dazu und auch voneinander lernten. Sie beschrieb die Voraussetzung für dieses gemeinsame »Learning by doing« als Offenheit für Selbstveränderung der InitiatorInnen. Mit einem fix und fertigen Masterplan im Kopf hätte sich das Projekt nicht so entwickeln können.

Aus dem »Werkzeugkoffer«...

Mehr für Masterpläne übrig hatte naturgemäß Uli Wohland vom mitveranstaltenden Arbeitskreis OrKa (Organisierung und Kampagnen), der unter dem Titel »Praktisches für die Praxis« im wahrsten Sinne des Wortes Teile aus seinem »Handwerkskoffer zur Kampagnenplanung« auspackte und vorstellte. Der Koffer sei randvoll, an Ressourcen und methodischen Antworten mangele es nicht. Er sah ein Hauptproblem für die mangelnde Verbreitung von Kampagnen - im Unterschied zu Bernd Riexinger - darin, dass es immer noch an politischem Willen zur Initiierung fehle. Anhand einer umfangreichen Stichwortliste stellte er unterschiedliche »tools«, d.h. Vorgehensweisen, Regeln, Ziele und Typen von und für Kampagnen vor. So ging er u.a. auf das Verhältnis von Top Down- und Bottom Up-Kampagnen ein und fand für das damit verbundene Problem von Zentralismus und Demokratie die salomonische Formel der »Sandwich«-Strategie, die beiden Aspekten gleichermaßen Rechnung trage. Anschaulich wiederum sein interaktives Publikumsspiel zur Entwicklung eines sozialen Netzwerkes, mit dem er demonstrieren konnte, dass so unterschiedliche Akteure wie Pfarrer, Mountainbiker, AnwohnerInnen, Beschäftigte, Bürgerinitiativen zu quasi beliebigen Themen zusammengebracht werden - vorausgesetzt, die »Heiße Themen-Regel« und die »Voll Bock-Regel« würden befolgt - und dabei ihre jeweiligen Kompetenzen selbst dort, wo unterschiedliche Ziele verfolgt würden, einbringen könnten. Gleiches gelte etwa bei »Parallelkampagnen« wie aktuell bei Lidl, wo ver.di und attac durchaus unterschiedliche Ziele verfolgten, über den gemeinsamen Gegner jedoch zu einer für beide Organisationen fruchtbaren Ergänzung und Kooperation gefunden hätten. In jedem Fall, so machte der Beitrag deutlich, bedarf es der systematischen Vorbereitung einer Kampagne - das fange schon bei der Sammlung von Kontakten an, für die manchmal dann eben alle ihre Adressbücher aufschlagen und kollektiv durchforsten müssten.

An die Forderung nach systematischer Vorbereitung anknüpfend und zugleich den Aspekt der Bildung stärker ausformulierend präsentierte Fred Seavey, Mitglied der Forschungsabteilung bei der SEIU, am Beispiel der Tarifverhandlungen (!) in einem US-amerikanischen Klinikum anschaulich, welche Vorbereitungen die Durchführung einer »umfassenden Druckkampagne« in diesem Zusammenhang erfordert. Bereits in seinem Eröffnungsbeitrag hatte er den Nimbus, der die SEIU aufgrund ihrer Erfolge bei der »Organisierung von Unorganisierten« (Stichwort: »Justice for Janitors«) oft umgibt, etwas relativiert, indem er darauf hinwies, dass es sich bei den >unorganisierten< Dienstleistungstätigkeiten, die den Gewerkschaften in den USA heute solche Probleme bereiten, oft um ausgegliederte oder fremdvergebene Bereiche ehemals hochorganisierter Betriebe handelt. Hier gelte es, klassische Probleme des Arbeitsplatzes »von Null an« neu zu thematisieren und zu verhandeln. So auch in dem betroffenen Krankenhaus, in dem die Beschäftigten »nur« einen einheitlichen Tarifvertrag wollten. Wenngleich die SEIU bei ihren Kampagnen auf ein relativ hohes Budget (20 Prozent des Haushalts auf nationaler Ebene, zwischen 10 und 20 Prozent bei den Untergliederungen), fest angestellte Organizer und gewerkschaftliches Personal zurück greifen kann, finde die Planung der Kampagne doch nicht im »luftleeren Raum« verselbständigter Organisationspolitik statt. Ausgangspunkte seien immer betriebliche Auseinandersetzungen und Probleme, die zur zielgerichteten Kooperation der Kollegen aus der Forschungs-, Medien-, Organizing- und der politischen Abteilung führten. Aufgabe der Forschungsabteilung sei es, in Absprache und Diskussion mit den Beschäftigten zunächst die sozialen Beziehungen des betreffenden Unternehmens zu analysieren und herauszufinden, wo dieses angreifbar sei: Jedes Unternehmen sei auf eine Vielfalt sozialer Beziehungen - von öffentlichen Geldgebern über private Sponsoren, Lieferanten, Auftraggeber, Kunden, Börsenanalysten oder die Justiz bis zur Presse - angewiesen, und gerade in Fällen schwacher Belegschaften bestehe die einzige Möglichkeit, die Unternehmen unter Druck zu setzen darin, systematisch deren Schwachstellen aufzudecken. Auf diese Weise ließen sich vielfältige »Druckpunkte« ermitteln, die von »nervtötenden Belästigungen« bis etwa zur Kartellklage reichten. Im konkreten Fall hatten so etwa zahlreiche Patienten des Krankenhauses an dessen Leitung geschrieben und ihre Vermutung geäußert, dass die schlechte Bezahlung der Beschäftigten und der geringe Personalstand zu Qualitätseinbußen bei der Patientenversorgung führen könne - so dass sie sich gezwungen sähen, das Krankenhaus zu wechseln. Private Wohltätigkeits-Stiftungen, die einen Teil der Klinikumsmittel stellten, waren informiert worden über die Vorhaben der Klinikleitung und um ihre Einschätzung gebeten worden, ob sich diese Pläne mit den humanitären Zwecken der Stiftung vertrügen und ggf. auch: ob sie in Verbindung gebracht werden wollten mit einer entsprechend schlechten Presse über das Unternehmen etc.

Hinter all diesen wohldosierten und aufeinander abgestimmten »Nadelstichen« steht die Überlegung, dass es für die Unternehmen eine rationale Entscheidung zwischen den Kosten für Gewerkschaftsforderungen und den Kosten durch die Imageschädigung gibt. Diese Kosten ließen sich gewissermaßen »hoch treiben«, wenn die Forschung über die sozialen Beziehungen und damit die Produktionsvoraussetzungen des Unternehmens entlang der Wertschöpfungskette betrieben würden. Diese Art von »negativer Unternehmensberatung« habe zudem aufklärerische Wirkungen für Beschäftigte, Hauptamtliche und BürgerInnen.

Während hierzulande gewerkschaftliche Forschung, Bildungsarbeit, politischer Lobbyismus und alltägliche Gewerkschaftspraxis oft beziehungslos nebeneinander stehen - wenn nicht die Hans-Böckler-Stiftung wichtige »Kampagnen« wie etwa im Vorfeld der Reform des Betriebsverfassungsgesetztes ohnehin gleich mit der Bertelsmannstiftung angeht -, konnte Seavey mit seinem Beitrag deutlich machen, dass es auch anders geht.

Kein Zweifel: Kampagnen sind voraussetzungsvoll und riskant. Manchen schien auch dieses Risiko eine systematische Abschätzung wert. Angesichts der schwierigen finanziellen Situation von ver.di stelle sich die Frage, ob und wie sich ein potentielles Scheitern im Verhältnis zu den Investitionen in eine Kampagne erfassen und monetär bewerten ließe, so ein hauptamtlicher Teilnehmer der Tagung in der Diskussion über die US-amerikanischen Erfahrungen der SEIU. Er verwies auf die beschränkten Mittel der Rechtsschutz-Abteilungen bei ver.di. »Die Risiken liegen eher im politischen als im juristischen Bereich«, so Seavey, der seine Einschätzung mit einer Frage verband: »Was ist politische Dummheit? Die Sachen so zu machen wie immer, aber ein anderes Resultat zu erhoffen«.

Finanzierungsfragen blieben allerdings in anderer Hinsicht für die Tagung offen: Nachdem die grünen-nahe Heinrich-Böll-Stiftung, neben ver.di Nord, Stuttgart, Mannheim/Heidelberg, OrKa, Kirchlichem Dienst in der Arbeitswelt und express-Redaktion eine der mitveranstaltenden Organisationen, zunächst eine informelle Finanzierungszusage für die Tagung gegeben hatte, zog deren Vorsitzender Ralf Fücks diese höchstpersönlich so kurzfristig zurück, dass bereits geladene Gäste aus dem Ausland wieder ausgeladen werden mussten und die Finanzierung des geplantes Tagungsbandes in Frage steht. Fücks machte die Verschiebung der Tagung und seine Anwesenheit auf dem Podium zur Voraussetzung für eine mögliche Förderung. Möglicherweise hatte er als Vertreter einer aus den sozialen Bewegungen der 80er Jahre und der Suche nach einer »alternativen Ökonomie« hervorgegangenen Stiftung, der jedoch diese Tradition ebenso wie ihre Mobilisierungsfähigkeit auch seit einiger Zeit verloren gegangen sind, den Einladungstext nicht gelesen: »Netzwerkpartner dürfen nicht instrumentalisiert werden. Kampagnenarbeit mit Sozialen Netzwerken findet gleichberechtigt statt.«

Kirsten Huckenbeck

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 1/06

(1) Zur Bilanz s. auch Steven Greenhouse: »Kämpfen die US-amerikanischen Gewerkschaften um ihr Überleben?«, in express, Nr. 3/2001 - allein die SEIU hatte zwischen 1995 und 2000 ca. 100 Mio. Dollar pro Jahr, etwa die Hälfte ihres Budgets, für Organizing ausgegeben.

(2) Vgl. Steve Early: »Gipfel der besten Praktiken? AFL-CIO resümiert seine Organisierungsbemühungen und lässt viele Fragen offen«, in express, Nr. 2/2003

(3) Vgl. Kate Bronfenbrenner: »Mobilisierungsstrohfeuer«, in express, Nr. 8/2002

 


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