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Kämpfen die US-amerikanischen Gewerkschaften um ihr Überleben?

Bilanz der Organisierungskampagnen in der AFL-CIO

John J. Sweeney, der Vorsitzende der AFL-CIO (Dachverband US-amerikanischer Gewerkschaften), hat bei einem Treffen von Gewerkschaftsfunktionären in Los Angeles eine ungewöhnlich massive Warnung geäußert: Wenn die Gewerkschaften ihre Bemühungen um die Rekrutierung neuer Mitglieder nicht massiv verstärkten, würde die organisierte ArbeiterInnenbewegung in die Bedeutungslosigkeit abrutschen. Die Entwicklung der Mitgliederzahlen war im vergangenen Jahr von starken Verlusten gekennzeichnet. Sweeney ist über diese Ergebnisse so beunruhigt, dass er aus diesem Anlass ein Treffen der Gewerkschaftsvorsitzenden einberief, bei dem er noch einmal verstärkt forderte, die Anstrengungen für die Organisierung neuer Mitglieder zu verdoppeln.

Während seiner fünf Jahre als "Steuermann" der Gewerkschaften hatte Sweeney die Steigerung der Mitgliedszahlen zum vorrangigen Ziel erklärt. Er äußerte nun allerdings Frustration darüber, dass die Gewerkschaften im vergangenen Jahr wieder nur ein Drittel der angestrebten Anzahl neuer Mitglieder erreicht haben. Sweeney hält eine Million neuer Mitglieder pro Jahr für notwendig, um eine machtvolle ArbeiterInnenbewegung zu gewährleisten. Einer der anwesenden AFL-CIO-Funktionäre zitierte Sweeney mit den Worten: "Die Zahlen sind total unbefriedigend. Wenn es uns nicht gelingt, diesen Trend sofort umzukehren, dann wird er so massiv in die andere Richtung abrutschen, dass es uns praktisch unmöglich sein wird, als lebensfähige Institution weiter zu bestehen und auch nur den geringsten Einfluss auf die Themen geltend zu machen, die uns wichtig sind."

Der Anteil der gewerkschaftlich organisierten US-amerikanischen ArbeiterInnen fiel im letzten Jahr von 13,9 auf 13,5 Prozent. Das ist der tiefste Stand seit den Hochzeiten der gewerkschaftlichen Organisierung in den fünfziger Jahren mit bis zu 35 Prozent. Obwohl seit 1992 mehr als 16 Millionen Jobs neu geschaffen wurden, hat das Bureau of Labor Statistics festgestellt, dass die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder in diesem Zeitraum bundesweit um 200.000 auf 16,2 Millionen gesunken ist.

Der öffentliche und der Dienstleistungssektor (inklusive Hotelgewerbe und Pflegeheime) machen einen stetig zunehmenden Anteil gewerkschaftlicher Organisierung aus, während diese im Produktionssektor ausgesprochen schleppend läuft, was teilweise auf die Angst zurückzuführen ist, die Unternehmen könnten Fabriken schließen, deren Belegschaften sich gewerkschaftlich organisieren. Die Gewerkschaftsführer brachten ihre Besorgnis darüber zum Ausdruck, dass gerade mal zehn der 66 in der AFL-CIO zusammengeschlossenen Gewerkschaften 80 Prozent der neuen Mitglieder geworben haben, während viele Gewerkschaften in dieser Hinsicht anhaltend den ‘Kopf in den Sand’ stecken. "Die Situation ist sehr unausgewogen hinsichtlich der Frage, welche Einzelgewerkschaften ernsthaft Ressourcen für die Mitgliederrekrutierung aufwenden, und die Folge davon sind völlig unbefriedigende Zahlen", kommentierte Mark Splain, der Leiter der Organisierungsabteilung der AFL-CIO.

Bei dem Treffen in Los Angeles kamen die Zahlen aus den Berichten der Einzelgewerkschaften an die AFL-CIO über ihre Organisierungsergebnisse auf den Tisch. Auf Platz eins liegt die Service Employees International Union mit 70.000 neu organisierten ArbeiterInnen. Im ‘Rennen’ um den zweiten Platz geben die United Food and Commercial Workers und die International Brotherhood of Electrical Workers an, jeweils 50.000 neue Mitglieder organisiert zu haben. Einigen viel kleineren Gewerkschaften, so der Maler-, der Dachdecker- und der Hotelangestelltengewerkschaft, wurde Anerkennung zuteil, weil sie im Verhältnis zu ihrer Größe sehr aktiv organisiert hatten. Die International Brotherhood of Teamsters, die mit 1,4 Millionen über die gleiche Mitgliederstärke verfügt wie die Service Employees, kommt hingegen mit nur 22.000 nicht einmal auf ein Drittel der von dieser neu rekrutierten Mitglieder. Von der Paper, Allied-Industrial, Chemical and Energy Workers Union mit ihren 250.000 Mitgliedern gibt es praktisch keine Meldung über neue Mitglieder. Schließlich berichten die drei mächtigen Gewerkschaften des Produktionssektors, die die Organisierung vor Jahrzehnten noch angeführt hatten, von nur bescheidenen Ergebnissen: bei den United Auto Workers sind das 22.000 neue Mitglieder, bei den United Steelworkers of America etwa 15.000 und bei der International Association of Machinists knapp 10.000.

Kate Bronfenbrenner, Forschungsdirektorin der School of Labor Relations an der Cornell-Universität, vermutet, dass sich einige Industriegewerkschaften inzwischen einfach nicht mehr trauen, in den Betrieben zu organisieren, da die Unternehmen für diesen Fall mit der Verlegung von Produktionsstätten nach Übersee drohen bzw. diese Drohung in etlichen Fällen schon wahr gemacht haben. Eine Untersuchung von Bronfenbrenner zeigt, dass Manager von Betrieben, in denen gerade eine Organisierungskampagne läuft, in 70 Prozent der Fälle für den Fall, dass die ArbeiterInnen für die gewerkschaftliche Organisierung stimmen, mit der Schließung der Fabrik drohen. Für die ArbeiterInnen ist dies oft ein Grund, sich gegen die Gewerkschaft zu entscheiden. Für Leo Gerard, den neuen Präsidenten der Stahlarbeiter, ist es kein Wunder, dass es leichter ist, in der öffentlichen Verwaltung, in Krankenhäusern und Hotels neue Mitglieder zu gewinnen als in den Fabriken: "Es kann nicht damit gedroht werden, den öffentlichen Sektor aus Ohio abzuziehen, oder damit, ein Krankenhaus oder Pflegeheim nach Mexiko oder China zu verlegen." Gerard sieht den Hauptgrund dafür, dass die Gewerkschaften nicht jedes Jahr zusätzlich Hunderttausende organisieren, in den massiven antigewerkschaftlichen Kampagnen der Arbeitgeber. Die Unternehmensseite hingegen vertritt die Einschätzung, dass immer mehr Leute deshalb nicht in die Gewerkschaften eintreten, weil sie diese für irrelevant und unnötig halten und ihnen die Beiträge zu hoch sind.

Als Sweeney 1995 Vorsitzender der AFL-CIO wurde, rekrutierten die Gewerkschaften nicht einmal 100.000 neue Mitglieder pro Jahr. Unter anderem ist seiner Initiative zu verdanken, dass diese Zahl bis auf 350.000 im letzten Jahr gestiegen ist. Sweeney begrüßt diesen Zuwachs, aber er reicht ihm noch lange nicht. Der vom Bureau of Labor Statistics festgestellte Netto-Mitgliederrückgang um 200.000 im letzten Jahr, sei, so das Bureau, auf zeitweilige Entlassungen, Pensionierungen und Werksschließungen zurückzuführen. Einige Funktionäre der AFL-CIO sind außerdem davon überzeugt, dass manche Gewerkschaftsspitzen in der Gier nach Anerkennung künstlich aufgeblasene Zahlen zu ihren jährlichen Organisierungserfolgen präsentieren.

Etliche ExpertInnen sind der Ansicht, dass Sweeneys Bemühungen, die Einzelgewerkschaften zu verstärkten Rekrutierungsanstrengungen zu bewegen, vor allem deshalb nicht von mehr Erfolg gekrönt waren, weil die AFL-CIO lediglich ein lockerer Verbund ist, dessen Vorsitzender gegenüber den Einzelgewerkschaften nur wenig zu sagen hat. Schließlich ist die Organisierung Aufgabe der Einzelgewerkschaften, auch wenn der Verband sich als Katalysator zur Verfügung stellt.

Anders als beim Thema Organisierung war Sweeney ziemlich erfolgreich, was die Motivierung der Gewerkschaften für politische Arbeit angeht. "Die amerikanische ArbeiterInnenbewegung hat hinsichtlich politischer Aktivitäten und politischem Biss gezeigt, was in ihr steckt", findet der Direktor der Organisierungsabteilung, Mr. Splain, "wir müssen jetzt herausfinden, ob die ArbeiterInnenbewegung diese Art von Erfolg auch bei der Mitgliederrekrutierung erzielen kann."

Andrew Stem, der Vorsitzende der Dienstleistungsgewerkschaft, sieht die Tatsache, dass seine Gewerkschaft schneller wächst als alle anderen, teilweise darin begründet, dass sie so viel Geld für die Organisierung ausgibt: ca. 100 Millionen Dollar pro Jahr, das entspricht der Hälfte ihres Jahresbudgets. Stem nennt Organisierungskosten von durchschnittlich etwa 1.000 Dollar pro neuem Mitglied.

Viele Gewerkschaftsführer hoffen darauf, dass sich, wenn es anderen großen Gewerkschaften (mit über einer Million Mitglieder) gelänge, mit der Dienstleistungsgewerkschaft gleichzuziehen und ebenfalls 70.000 neue Mitglieder pro Jahr zu organisieren, Sweeneys Ziel von 700.000 bis 1.000.000 neuen Mitgliedern pro Jahr für die ArbeiterInnenbewegung realisieren ließe. "Es ist deutlich zu sehen, dass einige Gewerkschaften die Aggressivität ihrer Mitgliederorganisierung erhöht haben", sagt Sweeney, "wir müssen unbedingt versuchen, diesen Schwung zu nutzen."

(Quelle: Steven Greenhouse, New York Times, 19. Februar 2001)
Übersetzung: Anne Scheidhauer
Erschienen in: Express - Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, Ausgabe 3/2001



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