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Updated: 18.12.2012 15:51
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Vietnam als Alternative zu China

Investoren zieht es nach Süden. Zunehmende Streiks und Proteste gegen Dumpinglöhne in ausländischen Unternehmen

Artikel von Rosso Vincenzo*

Der folgende Artikel erschien in der „jungen Welt“ vom 26.10.2007 unter dem Titel „Auf nach Vietnam?“ aus Platzmangel in einer um ein Drittel gekürzten Version. Hier der vollständige Text zur Entwicklung Vietnams und seiner Rolle in der neuesten Runde kapitalistischer Globalisierung, die – wie so Vieles – in der hiesigen Linken bislang kaum zur Kenntnis genommen wird.

Während sich die Aufmerksamkeit der internationalen Medien anlässlich des 17.Parteitags der Kommunistischen Partei nach China richtet, zieht es einen nicht geringen Teil des auf der Suche nach Extraprofiten um den Globus vagabundierenden Kapitals bereits weiter nach Süden. Beliebtestes Ziel derzeit: Vietnam. Nach einer Studie der führenden Unternehmensberatung Pricewaterhouse Coopers gilt Vietnam gegenwärtig als attraktivstes Investitionsziel unter 20 ausgewählten Schwellenländern, deren Spektrum von China bis Polen reicht. So konstatiert das „Handelsblatt“ vom 9.10.2007 bei externen Dienstleistern eine „neue Runde im Outsourcing“, wobei Vietnam „mittlerweile einer der beliebtesten Standorte“ sei, „weil selbst China schon manchen zu teuer ist“. „ Die Produktion in Vietnam, die Lohnbuchhaltung auf den Philippinen, das Call-Center in der Türkei“ , das sei für viele Firmen „heute Alltag“ (8.10.2007). Auf diesen Trend hat nun auch die Deutsche Bank reagiert und sich Anfang Oktober in die vietnamesische Habubank eingekauft. Bereits Ende September hatte sie eine unfangreiche Untersuchung zum Investitionsstandort Vietnam herausgebracht, in der sie für noch unentschlossene Investoren das Terrain sondiert und sich nicht scheut, von der vietnamesischen Regierung weitere „Liberalisierungen“ und „Reformen“ zu fordern.

Die wirtschaftlichen Perspektiven sind einzigartig: Beim Weltwirtschaftsforum in Singapur erklärte der stellvertretende vietnamesische Ministerpräsident Ngyuen Sinh Hung jüngst bis 2020 werde sich das Bruttoinlandsprodukt (BIP) jährlich um 8% - 10% steigern. Im ersten Quartal 2007 waren es gegenüber dem Vorjahreswert 7,7%. Die Exporte stiegen in den ersten neun Monaten 2007 im Jahresvergleich um 19,4%. Die Exporte der Auslandsunternehmen gar um 32 Prozent. Damit ist Vietnam – nach China – die am zweitschnellsten wachsende Volkswirtschaft in der Region. Allein in diesem Jahr rechnet die Regierung in Hanoi mit Auslandsinvestitionen in Höhe von 15 Milliarden Dollar. Das entspricht dem Volumen Indiens, obwohl Vietnam mit einer Bevölkerung von 81,4 Millionen demographisch nur knapp 8% der Größe des Subkontinents erreicht.

Die von ausländischen Investoren betriebenen Unternehmen bilden allerdings einen zunehmenden Unruheherd. Immer wieder kommt es hier zu spontanen Massenstreiks der Arbeiter zur Erhöhung der Dumpinglöhne. Zwischen 600.000 und einer Million Vietnamesischer Dong erhalten die dort Beschäftigten im Monat. Das entspricht gerade mal 37 bis 62 US-Dollar. Auch in Vietnam zuwenig zum Überleben, zumal sich unter den Arbeiterinnen und Arbeitern viele Armutsflüchtlinge aus den ländlichen Gebieten befinden, die zahlreiche Familienangehörige mit versorgen müssen. Nachdem im Januar 2006 40.000 Arbeiter in der Provinz Dong Nai nahe Ho-Chi-Minh-Stadt, wo 280.000 Vietnamesen in 540 ausländischen Fabriken arbeiten, wegen zu niedriger Löhne in Streik getreten waren, hatte die Regierung einen Mindestlohn von 37 Dollar (= 33 Euro) eingeführt. Im März diesen Jahres legten dort 30.000 Beschäftigte in 12 Betrieben aus Protest gegen zu magere Lohnerhöhungen erneut die Arbeit nieder. Teilweise hatten die Unternehmen den Jahreslohn nur um einen einzigen Euro erhöht. Den Statistiken der Provinzregierung von Dong Nai zufolge fanden allein in dieser Provinz von Januar bis Juli 2007 66 Streiks in ausländischen Firmen statt, von denen die meisten 3 bis 5 Tage dauerten und von den Unternehmern die Einhaltung des Arbeitsrechts forderten.

Um überhaupt überleben zu können, sind Überstunden, Sonderschichten oder Zweitjobs unabdingbar. Doch das ist schwierig, da nach einer Ende September veröffentlichten Untersuchung des staatlichen Gewerkschaftsbundes Vietnam Confederation of Labour (VCL) 65% der Beschäftigten bereits jetzt regulär eine Sechs-Tage-Woche und 25% sogar eine Sieben-Tage-Woche haben, wobei für ein Viertel die tägliche Arbeitszeit bei mehr als acht Stunden liegt. Zudem besaßen von den bereits 6 bis 10 Jahre bei einem Unternehmen Beschäftigten knapp 30% nur einen befristeten Arbeitsvertrag. Betriebliche Tarifabkommen gibt es nur in 50% der Unternehmen. Die meisten davon seien allerdings wenig hilfreich für die Beschäftigten. Entsprechend schlecht ist die Stimmung: Nur 16,6% der Beschäftigten in ausländischen Unternehmen fühlen sich wohl bei der Arbeit und nur 26,3% gaben an „gute Beziehungen“ zu ihren Arbeitgebern zu haben. Die Auslandsfirmen weisen nicht nur die höchste Streikquote aller Wirtschaftssektoren auf, hier sind auch 59,3% der Arbeiter gewerkschaftlich organisiert. Viele davon allerdings in neu entstandenen unabhängigen Basisgewerkschaften, da sich die Staatsgewerkschaft bislang nicht gerade als kämpferische Interessenvertretungen präsentiert haben.

Seit Beginn der „Doi Moi“ („wirtschaftliche Öffnung“) genannten Hinwendung zur kapitalistischen Marktwirtschaft im Jahr 1986 hat die nominell immer noch „Sozialistischen Republik Vietnam“ eine grundlegende soziale Veränderung durchgemacht. Ein Prozess, der durch die vorübergehende Kapitalflucht im Gefolge der Asienkrise 1998 nur kurzzeitig ins Stocken geriet. Heute tragen die Staatsunternehmen nur noch 39% zum Bruttoinlandsprodukt, 37% zur industriellen Fertigung und 35% zu den Exporten (außer Rohöl) bei. Zudem ist die Reform der verbliebenen 3.200 Staatsunternehmen das oberste strukturpolitische Ziel der Regierung des ehemaligen Zentralbankgouverneurs und heutigen Ministerpräsidenten Nguyen Tan Dung. Wichtigste Hindernisse auf diesem Weg sind die Furcht vor landesweiten sozialen Unruhen und der Restwiderstand verbliebener „orthodoxer“ Kreise in der 2,8 Millionen Mitglieder zählenden Kommunistischen Partei Vietnams (CPV).

Der Vorsitzende der Auslandsabteilung des Zentralkomitees der CPV, Tran Van Hang, gestand in einem Interview für die sozialistische australische Wochenzeitung „Left Green Weekly“ vom 5.9.2007 allerdings offen ein, dass kapitalistische Entwicklung in Vietnam gegenwärtig die Realität sei und zeigte darüber hinaus, dass „die führende Partei“ längst nicht mehr führt: „Theoretisch verstehen wir sehr genau, warum wir diese Phase kapitalistischer Entwicklung durchmachen müssen, wir arbeiten allerdings noch an unserem theoretischen Verständnis des Weges, der uns von hier aus zum Sozialismus führt. Wir müssen konkreter werden, was den sozialistischen Weg anbelangt. Solange wir in diesem Punkt nicht konkreter werden, werden andere Parteien denken, dass alles, was wir jetzt vorzuweisen haben, ein Weg zum Kapitalismus ist. (…) Wir müssen den Staat weiter reformieren und ihn rechtsstaatlicher machen. Verwaltungsreform und Korruptionsbekämpfung sind allerdings die wichtigsten Herausforderungen. Die Korruption ist jedoch nicht so schlimm, wie die ausländische Presse behauptet.“

Diese Agenda entspricht, in den praktisch politischen Vorhaben, weitgehend den Vorstellungen der Deutschen Bank, deren Forderung lautet: „Es ist dringend notwendig, das Rechtssystem Vietnams und das gesamte Rahmenwerk politischer Entscheidungen zu verbessern.“ Dabei sei allerdings Vorsicht geboten, denn es bestehe „das Risiko sozialer Unruhen aufgrund der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich“.

Vorbemerkung: Rosso

Der Name Rosso steht für ein Mitglied des Gewerkschaftsforums Hannover und der ehemaligen Antifa-AG der Uni Hannover, die sich nach mehr als 17jähriger Arbeit Ende Oktober 2006 aufgelöst hat (siehe: http://www.freewebtown.com/antifauni/ externer Link Rubrik „Aktuelles“).

Hinweise, Kritik, Lob oder Anfragen per Mail an: negroamaro@mymail.ch


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