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Updated: 18.12.2012 15:51
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Bericht zur Bildungsurlaubsreise in die Türkei vom 12. bis 21.März 2004

(Bestens organisiert und begleitet von der türkischen Organisation CAG-Tek)

16 Mitglieder der Gewerkschaft Verdi, Bezirk Frankfurt und Region, wollten es genauer wissen. Sie alle arbeiten in den unterschiedlichsten Abteilungen der Neckermann Versand AG in Frankfurt am Main. Die Gewerkschaftler fragten sich, wer stellt eigentlich "unsere" Ware her und unter welchen Arbeitsbedingungen werden die so wunderschön im Katalog präsentierten Bekleidungsstücke gefertigt? Wie hoch ist der Verdienst der Arbeitnehmer? Sind die Arbeitnehmer gewerkschaftlich organisiert? Wer bringt die Ware zu uns? Werden die selbstauferlegten Sozialstandarts eingehalten? Fragen über Fragen hatten sich aufgetan in all den Dikussionen vor unserem Seminar.

In mehreren Vorbereitungstreffen der Verdi- Betriebsgruppe Neckermann Versand AG einigten sich die Teilnehmer auf den Ort der Bildungsurlaubsreise, Istanbul in der Türkei war das Ziel. Im Oktober 2003 begannen die Planungen zur Durchführung der Bildungsurlaubsreise. Genehmigungsverfahren für den Bildungsurlaub beim Hessischen Sozialministerium. Beantragung des Bildungsurlaubs bei Arbeitgeber. Beschaffung der Gelder für Flug, Unterkunft, Verpflegung und Dolmetscher. Kontaktaufnahme zu den türkischen Gewerkschaften und befreundeten Organisationen

Die einzige Stadt der Welt, die sich über zwei Kontinente erstreckt, ist eine sehr alte Stadt und eine geschichtsträchtige Metropole. Wir waren überrascht wie modern und "europäisch" die Stadt heute ist. Wir hatten auf einigen Exkursionen nicht nur die "touristischen Highlights" in der Nähe unseres Hotels in der Innenstadt ein bisschen kennen gelernt, darüber hinaus waren wir Gast bei einer türkischen Familie in einer der Vorstädte auf der asiatischen Seite Istanbuls, und haben dort die große türkische Gastfreundschaft und gute Küche auf kleinstem Raum erleben dürfen.

Seminar

Zum Seminar gehörten Einführungen in Geschichte, Gegenwart der Türkei und der türkischen Gewerkschaftsbewegung durch Gewerkschaftsmitglieder (teskop-is – Handel, petrol-is, Chemie, metal-disk, Metall), und dem Menschenrechtsverein Istandbul.2/

Wichtigste Ergebnisse: In ihrer Geschichte hat die Türkei immer schon eine Politik der "ethnischen Homogenisierung" verfolgt. Zunächst waren Griechen und Armenier die Opfer, dann die Kurden. Die Türkei ist ein "Säkularer Staat" bis heute geblieben. Trotz des Aufschwungs verschiedener Spielarten des Islamismus. Nach wie vor spielt das Militär eine große Rolle. Die Verletzung von Menschenrechten gehört nach wie vor zum Alltag.

In der Türkei gibt es nur eingeschränkte Gewerkschaftsrechte. Die Gewerkschaftsgesetze orientieren sich am amerikanischen Modell (Gewerkschaften in Betrieben nur, wenn 50% der Belegschaft + 1 Person eine Gewerkschaft wollen. Darüberhinaus gibt es ein sehr beschränktes Streikrecht. Die früher heftigten ideologischen Kämpfe zwischen den Gewerkschaftsbünden haben sich erheblich abgemildert. Der EU-Beitritt ist problematisch: seine Vorbereitung erzwingt von der Regierung eine neoliberale Politik (Deregulierung, völlige Öffnung zum Weltmarkt, weiterer Abbau von ohnehin nur schwachen Arbeitsrechten), mit den bekannten Folgen.

Wir haben gelernt, dass in der Türkei eine Dauerkrise schwelt, die sich an hoher Inflation, Firmenzusammenbrüchen und wachsender Arbeitslosigkeit ablesen lässt.

Betriebsbesichtigungen

Für uns war es besonders wichtig, das für Neckermann arbeitende Call-Center der Firma L’Amer zu besichtigen. Dieser Besuch war deshalb besonders brisant, weil in Frankfurt das Call-Center geschlossen wurde und Kolleginnen und Kollegen ihre Arbeitsplätze verloren hatten. Sie waren sozusagen Opfer der Globalisierung geworden, so wie die Beschäftigten bei L’Amer momentane Gewinner.

Ferner war der Besuch im Karstadt-Quelle-Einkaufsbüro Alka Ic Dis Tic Ltd. Sti. beeindruckend für uns. In einem mit unseren Maßstäben vergleichbaren ausgestattetem Gebäude wurde uns die Struktur und die Abläufe des Einkaufsbüros mit modernsten technischen Mitteln vorgestellt. Angefangen bei der Einführung in den "Code of conduct" bis hin zu Abläufen oder für den Einkauf von Textilien relevanten Wirtschaftsdaten der Türkei. Auf unsere Nachfrage, ob es denn eine Gewerkschaft im Hause gäbe, war die Antwort: man würde sie nicht behindern. Darüberhinaus standen noch 2 Textillieferanten auf unserem Programm mit Einblicken in die Betriebsabläufe und Besichtigungen der Arbeitsplätze. Wichtige Fragen waren für uns die Löhne und Gehälter, Arbeitszeiten, Arbeitsbedingungen, mit unseren Verhältnissen nicht vergleichbar. In einem Betrieb gab es zwar eine Gewerkschaft, die nach unserer Kenntnis nach jedoch eine sehr arbeitgeberfreundliche ist. Im anderen Betrieb wurde uns versichert, dass man nichts gegen Gewerkschaften hätte, die Beschäftigten aber keine wünschten.

Eine der wichtigtsten Begegnungen war für uns das Treffen mit Kollegen der Firma Metro. Dabei haben wir Einblick in den Konflikt um die Gewerkschaft teskop-is, der auch in Deutschland bekannt ist, gewonnen. Die Gewerkschaftsorganisation in diesem Betrieb wurde über willkürliche Entlassungen zerschlagen.

Metro hat sich inzwischen eine andere, arbeitgeberfreundliche Gewerkschaft organisiert. In einem "Geheim-Gespräch" in der Kantine wurde uns von Kollegen berichtet, welchen Repressionen sie ausgesetzt sind, weil sie weiter Mitglied von teskop-is sind und nicht in die neue Gewerkschaft übertreten wollen. Die Repressionen gehen bis hin zur Verfolgung und Bedrohung der Betroffenen und ihrer Familienangehörigen. Diese Schilderungen hat uns sehr nachdenklich gemacht. Auch wenn es nicht direkt vergleichbar ist, hat uns diese Situation an die Zeit der faschistischen Diktatur in Deutschland erinnert.

Fazit

Am Ende unserer Bildungsurlaubsreise hatten wir alle eine bessere Einsicht in den Prozess der Globalisierung, Kenntnisse der früheren und heutigen Lebensumstände unserer türkischen Kolleginnen und Kollegen im Betrieb erworben. Vor allem aber Vorurteile über die islamistische Welt abgebaut.

Unser Wissen wollen wir nicht für uns behalten. Über die gewerkschaftliche Betriebszeitung, Fotoausstellung im Kasino sowie das Angebot unseres Videos an Interessierte zu verleihen (Fachgruppe Einzelhandel Bezirk und Landesbezirk verd.i), auch über das Projekt "ex-chains"(internationales Netzwerk von beschäftigten des Handels und Zulieferer Betrieben in Ländern der sog. 3. Welt aber auch in der Türkei) werden wir unsere erlangten Erkenntnisse verbreitern.


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