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Updated: 18.12.2012 15:51
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Ein gallisches Dorf in Ankara

Wenn in den letzten Jahren von der Türkei in den westeuropäischen Medien die Rede war, ging es in erster Linie um die Beitrittsverhandlungen der Türkei in die EU, um die (mangelhaften) Reformfortschritte der Regierung des Ministerpräsidenten Erdogan, um die Konflikte innerhalb der herrschenden Elite oder gelegentlich um die Kurden- und Zypernfrage. Bei all diesen Themen schien die soziale Frage fast völlig ausgeklammert. Die Berichterstatter/innen der westeuropäischen Medien gewöhnten sich gerne an die Tatsache, dass die arbeitenden Menschen in der Türkei in der Politik nichts zu sagen hatten: Es gab so viele soziale Einschnitte, die sich einfach über sich ergehen ließen – sei es die breit angelegten und massenhaften Privatisierungen oder das Sinken der Reallöhne oder der Anstieg der Arbeitslosigkeit oder die unmenschlichen Arbeitsbedingungen, die Rechtlosigkeit der weiten Teile der Arbeiter/innen und Angestellten usw. usf. Das kollektive Stillschweigen der westeuropäischen Medien gegenüber der massiven Verarmung und Entrechtung breiter Teile der arbeitenden Bevölkerung war auch ein indirekter Ausdruck der Freude und Unterstützung der (unsozialen) Politik der türkischen Regierung. Diese entsprach ja auch weitgehend auch den Erwartungen und Interessen der westeuropäischen Länder.

Schlagartig veränderte sich die Situation, als mehrere Tausend Beschäftigte des öffentlichen Tabakmonopols TEKEL Ende 2009 begannen gegen ihre Entlassung bzw. gegen die Wegnahme ihrer errungenen Rechte zu kämpfen. Die Tod gesagten waren wieder auferstanden. Sie besaßen nicht nur 'die Unverschämtheit' ihre Rechte einzufordern, sondern sie stellten auch viele Dogmen der neoliberalen Politik in Frage. Die Intensität und Hartnäckigkeit des Widerstandes, die Dynamik des Kampfes, die immer weiter anwachsende Solidarität unter der Bevölkerung für die kämpfenden Tekel-Arbeiter/innen, die Entwicklung und Umsetzung von neuen und effektiveren Widerstandsformen überraschten nicht nur viele aufmerksame Beobachter/innen, sondern die Kämpfenden selber! Es verging kein einziger Tag, an dem die Mehrheit der Medienorgane über den Widerstand der Tekel-Beschäftigten nicht berichtete und es gab kaum einen Kolumnisten, der keinen Kommentar dazu abgegeben hätte.

Die Tekel-Beschäftigten schafften es ihr Anliegen zu einem der wichtigsten Themen der Landespolitik zu machen.

Es gab auch eine unerwartet große internationale Solidarität! Ob nun die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) oder die internationalen Gewerkschaftsdachverbände wie ITUC (Internationale Gewerkschaftskonföderation) und ETUC (Europäische Gewerkschaftskonföderation), ob viele Gewerkschaften und Betriebsräte aus Deutschland wie z.B. NGG, IG Metall oder ver.di aus allen Ecken Europas kamen Solidaritätserklärungen oder Spenden. Es wurden Kampagnen angestoßen usw.

In diesem Zusammenhang entstehen zwangsläufig wichtige Fragen, die man beantworten müsste.

Was ist die neue Qualität des Widerstandes der TEKEL-Beschäftigten? Woher schöpften die Beschäftigten die besondere Kraft und Hartnäckigkeit ihres Kampfes? Warum konnte dieser Kampf so eine unerwartete Dynamik entwickeln? Wie konnte ein einziger Widerstandskampf so eine Solidaritätswelle - landesweit und international- auslösen? Und welche Erfahrungen lassen sich auf andere kommende Kämpfe und andere Länder übertragen?

DIE SITUATION VOR DEM KAMPF

Das staatliche Unternehmen TEKEL war nicht nur bei der Tabakverarbeitung und der Herstellung von Tabakprodukten aktiv, sondern auch bei der Herstellung von alkoholischen Getränken und Salz. Kurz vor der Regierungsübernahme durch die konservative AKP unter dem Vorsitz von Erdogan, hatte die bis dahin bestehende Koalition der Parteien DSP-MHP und ANAP am 5. Februar 2002 ein neues Gesetz beschlossen, das die Privatisierung von sämtlichen TEKEL-Produktionsanlagen und der dazugehörigen Grundstücke und Gebäuden vorsah. Als erster Schritt wurde zu diesem Zweck das staatliche Unternehmen TEKEL in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. Die 'Ehre', das Gesetz in die Praxis umzusetzen war dann allerdings der AKP-Regierung vergönnt!

Zuerst wurde das bereits in eine Aktiengesellschaft umgewandelte Unternehmen in drei rechtlich voneinander unabhängige Unternehmen aufgeteilt, um die Privatisierung zügiger durchführen zu können und der Gefahr einer möglichen kollektiven Gegenwehr aller TEKEL-Beschäftigten vorzubeugen:

  1. Der erste unabhängige Produktionsbereich war der der alkoholischen Erzeugnisse. Er wurde 2003 für 292 Millionen US Dollar an eine Konsortium verkauft und somit privatisiert. Drei Jahre später verkaufte dieses Konsortium wiederum diesen Produktionsbereich an den Privatanleger American Texas Pacific Group weiter - für 950 Millionen Dollar! Der erste Privatanleger konnte also innerhalb von drei Jahren einen Gewinn von sage und schreibe 685 Mill. $ erzielen, ohne dafür einen einzigen Cent zu investieren! Der Staat hingegen hatte sich vollständig und endgültig von der Produktion von den alkoholischen Erzeugnissen zurückgezogen, damit die Privatanleger ihre Monopolstellung aufrecht erhalten konnten, die sie durch die Privatisierung erlangt hatten.
  2. Die Salzherstellung wurde in zwei Zügen -2006 und 2008- an Privatinvestoren übergeben.
  3. Bei der Privatisierung des Bereiches rund um den Tabak ging die AKP-Regierung äußert vorsichtig und geschickt an die Arbeit. Während der profitabelste Bereich, nämlich die Zigarettenproduktion, am 24.06.2008 an den ausländischen Investor British American Tobbacco (BAT) für 1 Milliarde 720 Millionen $ veräußert wurde, wurden die Anlagen für die Lagerung von Tabak in öffentlicher Hand belassen. Der Privatunternehmer BAT übernahm die Zigarettenproduktion nicht, um den Arbeitern und Arbeiterinnen den neoliberalen 'Wohlstand' und 'Segen' zu bringen, sondern um Maximalprofite für die Investoren zu gewährleisten. Daher war BAT an der Übernahme der Belegschaft überhaupt nicht interessiert. Die Jagd nach Maximalprofiten hatte zur Folge, dass die fast hundertprozent gewerkschaftlich organisierte Belegschaft mit ihren tarifvertraglich abgesicherten, für türkische Verhältnisse relativ guten Gehältern ausdrücklich von der Übernahme durch den neuen Investor ausgeschlossen wurde. Die Arbeiter und Arbeiterinnen wurden daraufhin in die noch in öffentlicher Hand befindlichen Tabaklagerungstätten überführt und dort weiter beschäftigt, um mögliche 'Proteste' der Arbeiter/innen und der zuständigen Gewerkschaft Tek-Gida-Is vorzubeugen und die Privatisierung der TEKEL-Betriebe zügig zu Ende zu führen.

In dem Zeitraum wurden auch Gespräche zwischen der Gewerkschaftsspitze und den Vertretern der AKP-Regierung geführt - hinter verschlossenen Türen versteht sich! Über die erzielte Vereinbarung der beiden Gesprächsparteien gab es widersprüchliche Informationen. Die Regierung behauptete, dass die Gewerkschaftsführung dem Angebot der Regierung zugestimmt hätte. Dieses sah vor, die Tekel-Beschäftigten bis Anfang 2010 unter den bisherigen Konditionen zu beschäftigen und nach Ablauf einer vereinbarten Frist sie entweder zu entlassen oder sie als befristete Beschäftigte bei anderen öffentlichen Betrieben unterzubringen. Das hieße dann für die Beschäftigten, entweder die Reihen der Arbeitslosenarmee anfüllen zu müssen oder als befristete Beschäftigte auf fast alle errungenen Rechte zu verzichten wie die Fortzahlung der bisherigen Gehälter, den bisherigen Urlaubsanspruch, Urlaubsgeld...und den Kündigungsschutz. Dadurch würden die Tekel-Beschäftigten mit befristeten Arbeitsverträgen auch das Recht auf gewerkschaftliche Organisierung und Verhandlungen über einen Tarifvertrag vollständig verlieren.

Eines der arbeiterfeindlichsten Gesetze ist das Gesetz mit der Nummer 657. Dieses Gesetz gibt dem öffentlichen Arbeitgeber das Recht, Beschäftigte mehr oder minder ohne Rechte einzustellen und die Befristung der Arbeitsverträge beliebiger oft verlängern.

In einem Jahr werden sie per Arbeitsvertrag nur befristet beschäftigt, d.h. nicht länger als jährlich 48 Wochen. Sie haben keinen Anspruch auf Abfindung bei Kündigung. Da sie per Arbeitsvertrag keinen „Arbeiterstatus“ haben, können sie auch keine Rechte geltend machen, die die Arbeitsgesetzgebung Arbeitern einräumt, wie z.B. das Koalitionsrecht, das Recht auf einen Tarifvertrag oder den (ohnehin dürftigen) Kündigungsschutz. Auch die festgelegte Einkommenshöhe ist dementsprechend sehr niedrig.

Die Regierung beschloss, alle Tekel-Arbeiter auf diese Stellen mit befristeten Verträgen setzen.

Beispielweise der Vergleich der Gehälter des alten und des neuen Arbeitsplatzes verdeutlicht den wesentlichen Unterschied:

Ein Tekel-Beschäftigte mit 11jähriger Beschäftigungsdauer verdient 2.163 TL/brutto und 1.209 TL/netto.

Ein befristeter-Beschäftigter würde 1.570 TL/brutto und 850 TL/netto verdienen.

Abgesehen von dem hohem Einkommensverlust hat diese auch zur Folge, dass die Rentenansprüche der ArbeiterInnen überdurchschnittlich sinken würden.

Die Gewerkschaft Tek-Gida-Is gab in der Öffentlichkeit ein anderes Verhandlungsergebnis bekannt als die AKP-Regierung. Danach sollten die Beschäftigten die Verlegung zu anderen öffentlichen Betrieben akzeptieren, aber nur unter Beibehaltung ihrer bisherigen tarifvertraglich festgelegten Sozialleistungen und ihres Koalitionsrechts. Man sieht also, dass in beiden Fällen ein Verzicht auf die bisherigen Arbeitsplätze vorgesehen war – egal, ob man nun dem in der Öffentlichkeit präsentierten „Ergebnis“ durch die AKP-Regierung oder dem durch die Gewerkschaft folgt. Einen Kampf gegen die Privatisierung wollte die Gewerkschaftsspitze in keiner Phase der Auseinandersetzung führen! Die Abmilderung der Folgen der Privatisierung und das kleinere Übel war die Zielsetzung der Gewerkschaftsspitze von Tek-Gida-Is.

Wahrscheinlich gab die Regierung bei den Gesprächen mit der Gewerkschaft unverbindliche Zusagen, das Angebot der Gewerkschaft zu prüfen, ohne erst einmal auf ihren eigenen Fahrplan zu verzichten.

Gegen die für die Tekel-Beschäftigten zuständige Gewerkschaft Tek-Gida-Is hatte die AKP-Regierung auch einen 'geheimen' Kampfplan geschmiedet, den sie systematisch umsetzte. Um die Gewerkschaft Tek-Gida-Is deutlich zu schwächen, ließ die AKP-Regierung ihre Bündnispartner und Kampfgefährten ins Spiel kommen und ließ verschieden Geschütze auffahren. Es wurde die Tariffähigkeit von Tek-Gida-Is bei anderen großen öffentlichen Betrieben in Frage gestellt. Stattdessen sollte die islamistisch orientierte Gewerkschaft Öz-Gida-Is und deren Dachverband HAK-IS als tariffähige Gewerkschaft anerkannt werden. Dazu wurden durch Androhung von Entlassungen Tausende von Beschäftigten großer öffentlicher Unternehmen wie bei CAY-KUR (Teeverarbeitungsanlagen) zum Austritt aus Tek-Gida-Is und zum Eintritt in die regierungsfreundliche Öz-Gida-Is gezwungen. Daraufhin wurde Öz-Gida-Is vom Ministerium für Arbeit und Soziales als zuständige Gewerkschaft für dieses Unternehmen anerkannt.

Die Ränkespiele gegen Tek-Gida-Is wurden auch bei wichtigen Privat-Arbeitgebern hartnäckig fortgeführt. Zur Schwächung der Gewerkschaft Tek-Gida-Is blieb die Zusammenarbeit nicht nur auf öffentliche Arbeitgeber beschränkt, sondern sie wurde auch mit aller Hartnäckigkeit mit wichtigen Privatarbeitgebern durchgeführt. So wurde mit vereinigten Kräften der Arbeitgeberseite und des Ministeriums für Arbeit und Soziales jeder Versuch der Gewerkschaft Tek-Gida-Is bei dem Privatunternehmen YÖRSAN die Zuständigkeit zu erlangen im Keim erstickt.

Dasselbe Spiel lief auch bei Tekel gegen Tek-Gida-Is. Das Ministerium für Arbeit und Soziales musste der Gewerkschaft Tek-Gida-Is die Tariffähigkeiten bei TEKEL bescheinigen, da die Mehrheitsfähigkeit von Tek-Gida-Is unumstritten war. Gleichzeitig begrüßte das Ministerium den juristischen Widerspruch durch Hak-Is gegen die eigene Entscheidung über die Tariffähigkeit von Tek-Gida-Is. Solange der Rechtsprozess nicht bis zur letzten Instanz nicht durchgefochten ist, solange darf sich auch keine Gewerkschaft zum Tarif'partner' des Unternehmens erklären bzw. vom Arbeitgeber als solcher anerkannt werden.

Der Prozess läuft seit über einem Jahr und daher kann Tek-Gida-Is auch keine neue Tarifverhandlungen mit der Arbeitgeberseite führen und keine Mitgliedsbeiträge abführen.

KÄMPFEN ODER SICH DEM DIKTAT DER REGIERUNG UNTERWERFEN?

Als aber gegen Ende 2009 der Moment der Entscheidung für die betroffenen zwölftausend Tekel-Beschäftigten immer näher rückte, wurde der Druck auf die Beschäftigten immer größer. Sollten sie sich dem Diktat des öffentlichen Arbeitgebers unterwerfen oder dagegen handeln?

Die große Mehrheit der Tekel-Beschäftigten entschieden sich für das Handeln, für den Kampf gegen das Diktat der Regierung. Sie übten auch auf ihre Gewerkschaft Druck aus, damit diese auch praktische Maßnahmen gegen die drohende Gefahr entwickelte.

Zunächst versuchten die Tekel-Beschäftigten auf den Parteiveranstaltungen oder den Pressekonferenzen der AKP-Spitzenpolitiker aufzutreten, um sie nett und freundlich um den Erhalt ihrer Arbeitsplätze zu bitten.

Die Tekel-Beschäftigten wurden aber von unfreundlichen Gastgebern empfangen und beschimpft als „auf Kosten anderer hohe Gehälter verdienende Faulenzer“ und anschließend des Saales verwiesen.

Sie mussten einsehen, dass sie mit der Politik der leisen Töne ihr Ziel nichts erreichen würden.

AUF NACH ANKARA!

In dem Moment des Suchens nach einem Ausweg entstand spontan und in verschiedenen Regionen gleichzeitig die Idee, aus allen Regionen der Tabaklagerstätten mit Bussen nach Ankara, zum politischen Zentrum des Landes, zu fahren und vor der Parteizentrale der AKP solange zu demonstrieren, bis die AKP zum Nachgeben bereit war.

Die ArbeiterInnen diskutierten mit den Verwaltungsstellen und dem Hauptvorstand von Tek-Gida-Is. Sie wollten, dass die Gewerkschaft sie finanziell und organisatorisch unterstützt und z.B. die Busse zur Verfügung stellt.

Der Vorsitzende von Tek-Gida-Is war nicht bereit, die Busse nach Ankara zu finanzieren. Er war aber bereit mit den Arbeitern zusammen in Ankara zu demonstrieren, falls die Arbeiter die Busse selbst organisieren und alle gemeinsam nach Ankara fahren.

Am Abend des 14. Dezembers 2009 machten sich die Tekel-Beschäftigten aus den unterschiedlichen Landesteilen auf mit selbstorganisierten Bussen nach Ankara zu fahren. Die Polizei- und Gendarmariekräfte behinderten ihre Fahrt und wollten sie festhalten. Doch mit ihrer Hartnäckigkeit überwanden sie die Sperren und die meisten von ihnen kamen am 15. Dezember früh morgen in Ankara an.

In Ankara zogen sie mit ihrem Demonstrationszug mit ca. 7.000 Kollegen/innen zur Zentrale der AKP. Es gab nur einige wenige Unterstützer und Unterstützerinnen von den Gewerkschaften und von linken Organisationen und Gruppen. Am Kundgebungsort erwartete sie ein massiver Einsatz von Polizei und Privatschutz, aber kein Vertreter der AKP, der bereit gewesen wäre, eine Delegation der Arbeiter/innen zu empfangen oder sie als Gesprächspartner zu akzeptieren.

Die Polizei verjagte sie von der AKP-Zentrale, drängte sie in die Innenstadt ab und bedrängte sie unter Gewaltandrohung von dort aus in ihre Heimatorte zurückzufahren.

Die Arbeiter/innen konnten und wollten nicht mit leeren Händen zurückfahren. Sie wollten weiter demonstrieren, bis sie von der Regierung irgendwelche positive Zusagen erhielten.

Der Ministerpräsident Erdogan stellte die Arbeiter/innen in Fernsehinterviews weiterhin als „Faulenzer“ dar und sich selber als „Hüter des Volkseinkommens“, das er vor Dieben beschütze.

Die Arbeiter/innen waren empört über diese Beschimpfungen des Ministerpräsidenten und wollten nicht aufgeben.

Wie sollten sie aber bei der 'sibirischen Kälte' mitten im Dezember mehrere Nächte in Ankara übernachten? Wie sollten sie die notwendige Infrastruktur für einen langen Kampf aufbauen? Und wie sollen sie sich verhalten, wenn sie die Polizei und Gendarmarie angreift? Unendlich viele Fragen und kaum befriedigende Antworten darauf!

Aber sollten sie jetzt deswegen aufgeben? Die Perspektivlosigkeit und die Niederlage hinnehmen?

Nein, das wollten und konnten die Arbeiter und Arbeiterinnen nicht: So war der spontane und einvernehmliche Beschluss gefällt worden, ohne dass darüber eine Abstimmung unter den ArbeiterInnen erforderlich war. Sie wollten in Ankara bleiben, ausharren, koste, was es wolle!

Im Stadtzentrum Sihhiye, ein paar hundert Meter entfernt von der Zentrale des Dachverbandes TÜRK-IS bezogen die ArbeiterInnen Stellung. Sie demonstrierten den ganzen Tag über.

Diejenigen, die irgendwelche Verwandten oder Freunde in Ankara hatten, konnten die Nächte bei Ihnen verbringen. Viele aber hatten diese Möglichkeit nicht. Es blieb Ihnen nichts anderes übrig, als auch die Nächte auf dem Sihhiye-Platz zu verbringen.

Am 3. Tag, am 17. Dezember griff die Polizei plötzlich die ArbeiterInnen mit Wasserwerfern und Pfefferspray an! bei Temperaturen deutlich unter Null. Darüber hinaus verprügelte die Polizei die ArbeiterInnen mit Schlagstöcken. Mehrere Fernseh- und Radiosender berichteten in Livesendungen.

DIE SCHOCKTHERAPIE DURCH POLIZEISCHLAGSTÖCKE

Die ArbeiterInnen erlebten durch die Brutalität der Polizei einen wortwörtlichen politischen Schock, der ihren ganzen Glauben und ihren politischen Blick in den Grundfesten erschütterte. 'Ihre' Regierung, die sie noch vor Kurzem mehrheitlich gewählt hatten, 'ihre' Sicherheitskräfte behandelten und bekämpften sie mit allen Mitteln der Gewaltanwendung, als ob sie feindliche Kräfte eines Aggressors wären. Viele ArbeiterInnen wurden auf dem Boden liegen gelassen, nachdem sie bis zur Bewusstlosigkeit geschlagen wurden, viele wurden verhaftet. Hunderte Arbeiter und Arbeiterinnen setzten sich auf den eiskalten Boden und weinten vor Schock des Unglaublichen, des Unmöglichen!

Das politische System lehrte die ArbeiterInnen mittels der Methode der Schocktherapie, dass 'ihre' Regierung, 'ihre' Sicherheitskräfte nicht ihre eigenen sind, sondern ihre erbitterten Gegner, die nicht ihre Interessen vertreten und durchsetzen. Im Gegenteil sie tun alles, damit ihre eigene Stimme und ihre eigenen Interessen zum Schweigen gebracht werden. Spätestens in diesem Moment der gewaltsamen Auseinandersetzung wurde den Tekel-Arbeiter/innen durch diese Schule des Klassenkampfes vieles bewusst. Aber der Lehrgang in Fragen des Klassenkampfes sah noch weitere Überraschungen vor.

Die ersten Unterstützer und Unterstützerinnen der angegriffenen ArbeiterInnen waren die sozialistisch orientierten Menschen, zunächst meistens Studenten/innen. Als viele linke Menschen in und um Ankara in Radio oder Fernsehen von den Auseinandersetzungen und den brutalen Angriffen auf die ArbeiterInnen hörten, beeilten sie sich, umgehend zum Ort des Geschehens zu gelangen. Sie stellten sich mutig vor die Wasserwerfer und die Schlagstöcke der Polizei. Sie versuchten möglichst viele verhaftete Arbeiter/innen aus den Fängen der Polizei zu befreien.

Viele ArbeiterInnen flüchteten in das nahe gelegene Gebäude des Dachverbandes Türk-Is. Und im Laufe des Abends des 17. 12. trafen Hunderte weitere Tekel-ArbeiterInnen dort ein. Alle waren von dem der Wasserwerfer durchtränkt und von der eisigen Kälte wie erfroren. Das, was sie vor kurzem mit der Polizei erlebt hatten, fegte jeden Gedanken an Aufgabe ihres Widerstandes hinweg. Gerade jetzt wollten sie noch hartnäckiger, noch konsequenter, noch mutiger kämpfen. Über tausend Arbeiter/innen verbrachten die nächsten Tage und Nächte in der Zentrale des Dachverbandes.

Auf engstem Raum Tag und Nacht so zahlreich zusammen zu sein und zusammen zu kommunizieren gab ihnen immense Möglichkeiten selbständig und gemeinsam über neue Wege des Widerstandes zu diskutieren und gemeinsame Entscheidungen zu treffen. Davon machten sie auch reichlich Gebrauch.

Die neuen Kampfgenossen/innen, die sich Sozialisten/innen, KommunistenInnen oder Linker nannten, die die meisten Tekel-ArbeiterInnen bisher in der Regel für 'Spinner' und 'Träumer' oder gar als 'Landesverräter' hielten, waren nun ihre treusten Freunde. Die Sozialisten, Kommunisten und Linken organisierten frische Kleidung, Essen, ärztliche Versorgung. Sie verbrachten nun alle Tage und Nächte mit Ihnen und brachten viele neue frische Gedanken und Impulse in ihren Widerstand. Die wichtigsten Ideen der Linken, die von den ArbeiterInnen umgehend aufgegriffen wurden, waren, dass ArbeiterInnen die Interessen- und Klassengebundenheit der politischen Elite ihres Landes zu verstehen begannen und dass sie auf die Solidarität und Unterstützung der arbeitenden Bevölkerung zählen konnten, wenn sie ihren Widerstand organisiert weiterführen würden. Was auch sehr wichtig war, war, dass viele linke Organisationen und Gruppen den direkten Kontakt zwischen den BewohnerInnen vieler Arbeiterviertel in Ankara mit den zum Kampf entschlossenen Tekel-Arbeitern/innen herstellen konnten.

Offiziell gab die Gewerkschaftsspitze des Dachverbandes vorsichtig unterstützende Erklärungen ab. Scharf verurteilten sie das Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen die Tekel-Arbeiter aber sie vermieden jeden Eindruck, dass sie für die Fortsetzung des Widerstandes wären. Sie boten sich der Regierung als Gesprächspartner an und gaben ihre Hoffnung auf Einsicht der Regierung Ausdruck.

Die Beschäftigten hatten längst ihre Entscheidung zur Fortsetzung des Widerstandes getroffen. Sie wollten in Ankara bleiben und ihren Widerstand nicht nur fortsetzen, sondern ihn mit neuen Aktionsformen intensivieren. Die Tekel-ArbeiterInnen forderten gleichzeitig sowohl die Führung ihrer Gewerkschaft Tek-Gida-Is als auch die des Dachverbandes auf,

  1. ihren Kampf mit aller Kraft zu unterstützen,
  2. umgehend wirkungsvolle Aktionen gegen die Regierung und einen baldigen landesweiten Generalsteik vorzubereiten.

Der Vorstand von Tek-Gida-Is unterstützte die Beschlüsse der Tekel-Arbeiter, während der Vorstand von Türk-Is sich völlig bedeckt hielt.

Dann gingen die ArbeiterInnen dazu über, ihre Beschlüsse in die Tat umzusetzen.

ERRICHTUNG EINES GALLISCHEN DORFES

Sie fingen mit einem Hungerstreik an. Gleichzeitig bauten sie mit einfachen Mitteln! fast nur Plastikplanen! Zelte in der Nähe der Zentrale des Dachverbandes auf. Die Zelte waren ursprünglich dafür gedacht, sich gegen die eisige Kälte in Ankara besser schützen zu können. Allmählich vergrößerte sich nicht nur die Anzahl der Zelte, sondern auch ihre anfänglich gedachte Funktion: Der Zeltplatz war nun das operativer Zentrum des Widerstandes geworden.

Die Zelte wurden mit stabileren Materialien verstärkt, mit Brennholz und einfachen Allesbrennern versorgt. Es wurden viele Decken herbeigeschafft, so dass alle ArbeiterInnen sich nun in den Zelten aufhalten und übernachten konnten. Der Hungerstreik wurde auch in die Zelte verlegt.

Mit dem Aufbau der Zelte hatten die ArbeiterInnen ein gallisches Dorf des Widerstandes gegen gegen das Imperium der Unterdrücker errichtet, der die Sympathie vieler weiterer Unterdrückter magisch anzog und ebenso die erbitterte Feindschaft ihrer Gegner.

Ob Arbeiter, Angestellter oder Beamter, Student oder Schüler, Erwerbsloser, Hausfrau oder Rentner, ob politisch aktiver Mensch oder nur Neugieriger, es kam jeden weiteren Tag immer zahlreicherer Besuch zum Zeltcamp der Tekel-ArbeiterInnen, um sich direkt bei den Betroffenen zu informieren und einfach ihre Solidarität zu erklären. Viele kamen mit vollen Händen und brachten selbst gebackene Kekse oder Teigwaren, spendeten Tee oder Zucker sowie Schals, Decken, Pullover usw. usf.

Mehrere Universitätsdozenten besuchten mit ihren Studenten/innen den Ort. Sie fragten an, ob sie ihre Seminare im Camp durchführen könnten, was von den Arbeitern/innen sofort mit großer Freude angenommen wurde. Eines der Zelte erhielt daraufhin den Namen 'Tekel-Universität'. In diesem wurden von Dozenten Lehrveranstaltungen organisiert.

DIE ROLLE DER MEDIEN

In den Medien waren das Widerstandscamp und die Aktionen der Tekel-Arbeiter mehrere Wochen lang das Ereignis des Tages. Es gab stundenlange Livesendungen direkt aus dem Zeltcamp, in denen die Arbeiter und Arbeiterinnen sowie viele Unterstützer/innen zu Wort kamen.

Die bürgerlichen Medien waren in zwei Fraktionen gespalten. Die regierungsnahen Medien hatten zwar 'Verständnis' für die Reaktion der betroffenen Beschäftigten, aber sie machten gleichzeitig unmissverständlich deutlich, dass die Forderungen der ArbeiterInnen „unrealistisch“, „unökonomisch“, „die Interessen des Landes schädigend“ seien. Was die Regierungsseite anböte, wäre die einzig mögliche und vernünftige Alternative. Sie machten auch keinen Hehl daraus, immer wieder direkte Drohungen gegen die Aktionen der Tekel-Arbeiter/innen auszusprechen: Die Aktion sei eine nicht genehmigte illegale Tat, die von einem Rechtsstaat nicht länger geduldet werden dürfe! Die zweite Fraktion der etablierten Medien, die der Opposition zugeneigt war, zeigte ein größeres 'Verständnis' für die Aktionen und für den Protest der ArbeiterInnen. Der Protest der Tekel-Beschäftigten wäre ein weiteres Zeugnis der falschen Politik der AKP-Regierung. Falsch an der Politik der AKP-Regierung sei, dass sie die Privatisierung ohne soziales Antlitz durchführe. Daher müsse die Regierung zwar die Privatisierung konsequent fortsetzen aber mit allen Mitteln versuchen, die negative Wirkungen der Privatisierung auf die Beschäftigung und die Sozialleistungen abzumildern.

Die linksorientierten Medien verfügten über keine medialen Mittel, mit denen sie den bürgerlichen Medien auch nur annähernd die Stirn bieten konnten. Sie hatten nur wenige Möglichkeiten; das waren z. B. die zwei Tageszeitungen 'Birgün' und 'Evrensel' oder die zwei Web-Fernsehsender 'Hayat TV' und 'sendika.org'. Neben weiteren Tageszeitungen gab es auch mehrere in der Regel sozialistisch orientierte Wochen- und Monatszeitungen und viele unterschiedliche aktuelle Flugblätter. Sie konnten die linksorientierten Medien trotz alledem zur Arbeitermedien- und -Informationspolitik viel beitragen. Vor allem der unmittelbare Kontakt und der systematische Austausch mit den Tekel-Arbeitern/innen im Kampf machten die Linken in den Augen der Arbeiter/innen nicht nur zum wichtigsten Sprachrohr, sondern auch zu den zuverlässigsten Aufklärern.

DIE KULTUR DER SOLIDARITÄT UND DER DEMOKRATIE

Was auch nicht zu übersehen war, war, dass in den Reihen der kämpfenden Tekel-ArbeiterInnen kaum bemerkbaren Spuren des Chauvinismus oder nationalistischer Vorurteile zu sehen waren. Im Gegenteil, trotz des systematisch von oben geschürten türkischen Chauvinismus und der Hetze gegen die Kurden herrschte im Camp eine nie da gewesene demokratische Kultur und nationale Vielfalt der ArbeiterInnen. Die kurdischen Arbeiter/innen, die ungefähr die Hälfte der kämpfenden Tekel-Arbeiter ausmachten, konnten laut und problemlos Lieder in ihrer Sprache singen, ihre Folklore tanzen und ihre Sprache frei sprechen. Worauf es bei den ArbeiterInnen in erster Linie ankam, war nicht ihre nationale Zugehörigkeit, sondern ihre soziale Zugehörigkeit. Der Form nach waren ihre Muttersprachen unterschiedlich, türkisch oder kurdisch, aber dem Inhalt nach war sie eine einheitliche und gleiche Sprache: Die Sprache der arbeitenden Menschen. In der Vielfalt ihrer Sprachen und Kulturen erlebten und schätzten sie auch die Demokratie entsprechend ihre Bedürfnisse und Interessen.

Während die Tekel-ArbeiterInnen und ihre UnterstützerInnen vielfältige Aktionen entwickelten, tat die Gewerkschaftsführung von Türk-Is nichts als leere Zusagen zur Unterstützung der Arbeiter/innen zu geben. Die Arbeiter übten immer stärkeren Druck auf die Gewerkschaftsführung aus. Laut und deutlich riefen sie nach einem Generalstreik auf. Aufgrund des steigenden Drucks musste der Vorstand von Türk-Is eine Reihe von Aktionen beschließen, u.a. die Durchführung einer landesweiten 'generellen Amtsniederlegung'. Wann genau die 'generelle Arbeitsniederlegung' stattfinden sollte, darauf wollte sich die Führung von Türk-Is nicht festlegen. Einzig konkret festlegte Aktion war der Aufruf zu einer Demonstration am 20. Januar 2010 in Ankara.

Am 19. Januar begannen mehrere Hundert Arbeiter mit einem unbefristeten Hungerstreik im Zeltcamp. Am 20. Januar kamen über fünfzigtausend Menschen zu der Demonstration. Der Hauptredner war der Vorsitzende von Türk-Is. Als viele Arbeiter/innen merkten, dass der 'große Vorsitzende' sich nur auf allgemeine Phrasen über 'Gerechtigkeit', 'sozialen Frieden' beschränken wollte, gingen sie auf das Podium, forderten ihn auf Tacheles zu reden und sich klar und deutlich zu dem Datum eines Generalstreiks zu äußern. Als er sich weigerte eine solche Äußerung zu machen, jagten die Arbeiter/innen ihn vom Rednerpult hinunter und riefen ganz laut: „Es lebe der Generalstreik!“, „Keine Arbeit, kein Brot, dann auch kein Frieden!“, „Lieber Tod als Aufgeben!“

Für die Gewerkschaftsführung war die Tragweite und die Qualität des unübersehbaren Protestes der Tekel-ArbeiterInnen gegen die etablierte Gewerkschaftspolitik mehr als deutlich geworden: Diese Kampf war für sie zu einer tickenden Zeitbombe geworden, die ihre Herrschaft in der Gewerkschaftsbewegung gänzlich zerstören könnte. Die Gewerkschaftsführung hoffte auf die Vernunft und Kompromissbereitschaft der Regierung, um diese Bedrohung aus der Welt schaffen zu können. Und siehe da, die Regierungsvertreter boten der Gewerkschaftsführung tatsächlich neue Gespräche und Verbesserungen für die Tekel-ArbeiterInnen an, die bei anderen öffentlichen Stellen untergebracht werden sollten.

Die Gespräche zeigten dann aber, dass die Regierung zwar bereit war, minimale Einkommenserhöhungen zu gewähren sowie eine Verlängerung der Frist dieser befristeten Stellen: Was jedoch den Status der Befristung an sich anging, dort wollte die Regierung keinen Millimeter zurückweichen. Des weiteren machte die Regierung den Arbeitern mit diesem Vorschlag, der einem Diktat gleichkam, noch deutlicher, dass diejenigen, die bis Ende Februar die neuen befristeten Arbeitsverträge nicht unterzeichneten, jeden Anspruch auf Weiterbeschäftigung verlieren würden.

Die Gewerkschaftsspitze hingegen kritisierte einerseits die „nicht ausreichende Kompromissbereitschaft“ der Regierung, wollte aber andererseits die minimalen „Verbesserungen“ der Regierung dazu nutzen, die Tekel-ArbeiterInnen zum Aufgeben zu bewegen. Dazu wurde ein Referendum unter allen betroffenen Belegschaften initiiert. Das Ergebnis des Referendums war überwältigend!

Nur 58 der ca. 12.000 Tekel-Beschäftigten waren für das Angebot der Regierung. Die überwältigende Mehrheit stimmte aber gegen das Angebot der Regierung und für die Fortsetzung des Kampfes, des Widerstandes! Die etablierten Parteien konnten sich selbst im Traum ein hohes Wahlergebnis für sich nicht vorstellen.

Dem Vorstand von Türk-Is blieb nichts anderes übrig als ein Datum 'für eine generelle Arbeitsniederlegung' bekannt zugeben, nachdem er sich mit den Vorständen von fünf weiteren Gewerkschaftsdachverbänden beraten hatte.

Vertreter der Regierung, der Gouverneur und der Oberbürgermeister von Ankara wiederholten in einem Chor die Androhung, 'die illegale Aktion' nicht mehr dulden zu wollen und spätestens Ende Februar mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln einzugreifen.

Die Arbeiter/innen und die mit ihnen kampierenden Linken verstärkten daraufhin nachts die Wachen. Noch hielt sich die Polizei zurück.

Ende Januar waren Winterferien in der Türkei. Das nahmen die Familien und Kinder der Tekel-Arbeiter zum Anlass, zu ihren kämpfenden Müttern/Vätern in Ankara zu fahren, um sie zu besuchen und sich mit ihrem Widerstand zu solidarisieren. Hunderte von Familienangehörigen der Arbeiter/innen kamen in Ankara an. Innerhalb weniger Tage veränderte sich das Gesicht des gallischen Dorfes in mehreren Facetten: Kinder, Ehefrauen und Ehemänner der Teke-ArbeiterInnen erlebten zum ersten Mal in ihrem Leben eine so gewaltige Erfahrung, ein Fest der Solidarität von Tausenden von Menschen.

Die Kinder fingen spontan an, den Widerstand und ihre eigenen Erlebnisse auf dem Zeltcamp in Form von Zeichnungen wieder zu. Hunderte der Kinderbilder wurden sofort auf dem Camp ausgestellt. Ein Farbenteppich von Bildern hing an jeder Ecke und auf jedem freien Platz.

Nach einer Woche kam der Zeitpunkt des Abschieds. Viele Kinder umarmten ganz fest ihre Mütter/Väter, die weiterhin in Ankara bleiben. Die Kinder spürten instinktiv, dass ihre kämpfenden Eltern in Ankara nicht alleine sind, nicht hilflos. Sie wissen, dass Hunderte, Tausende Freunde und Freundinnen ihre Eltern mit aller Kraft unterstützen werden.

Türkei weit wird die Sympathiewelle der Bevölkerung stärker. In Dutzenden Städten finden Solidaritätsaktionen wie z. B. öffentliche Presseerklärungen, Kundgebungen, Demonstrationen, Veranstaltungen statt, es gab sogar in einigen Oberschulen Schulstreiks...

Der 4. Februar, an dem die 'generelle Arbeitsniederlegung' laufen soll, rückt immer näher. Keine einzige Gewerkschaft, kein einziger Gewerkschaftsdachverband führt ernsthafte Mobilisierungsmaßnahmen für die Aktion durch. Nur die für die Tekel-Arbeiter zuständige Gewerkschaft Tek-Gida-Is sowie die beiden Gewerkschaftsdachverbände DISK (Konföderation der revolutionären Arbeitergewerkschaften) und KESK (Konföderation der Gewerkschaften der öffentlich Beschäftigten) rufen zur Teilnahme an den Unterstützungsaktionen, ohne dass sie die Beschäftigten zur Arbeitsniederlegung mobilisieren.

Lediglich die linken Parteien, Organisationen und Gruppen gehen in die Arbeiterviertel vor die Toren der Fabriken. Sie verteilen Flugblätter und rufen ArbeiterInnen und Angestellte zur Teilnahme am Generalstreik auf.

DER TAG DER 'GENERELLEN ARBEITSNIEDERLEGUNG'

Am 4. Februar 2010, am Tag der 'generellen Arbeitsniederlegung' nahmen ca. 300.000 Menschen an vielen Aktionen, Demonstrationen und Kundgebungen teil. Aber eine breite Arbeitsniederlegung blieb aus. Nur wenige Belegschaften legten ihre Arbeit nieder. Die meisten der mobilisierten Belegschaften nahmen lediglich für ein paar Stunden an den angekündigten Aktionen teil, oft nach Arbeitsende.

Der schädliche Einfluss der etablierten Gewerkschaftspolitik auf die breite Masse der arbeitenden Menschen, vor allem aber auf die Masse der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter/innen zeigte sich an diesem Tag in aller Deutlichkeit. Es offenbarte sich auch die Tatsache, dass kein wirklicher Generalstreik unter der Führung der etablierten Gewerkschaftsspitzen möglich war. Weder die Tekel-Beschäftigten noch einige wenige kämpferische Belegschaften noch die linken Parteien und Organisationen hatten die erforderliche organisatorische Kraft und den notwendigen politischen Einfluss auf die arbeitende Bevölkerung, sie zu einem so gewaltigen praktischen Kampfschritt zu mobilisieren.

Auf der anderen Seite war positiv zu registrieren, dass der Geist der Solidarität, der Drang vieler Belegschaften zu gemeinsamen Aktionen zum Leben wieder erweckt wurde, so dass seit 1995, nach rund 15 Jahren, zum ersten Mal wieder die arbeitenden Menschen zahlreich an Massenaktionen und politischen Demonstrationen teilnahmen.

TEKEL-ArbeiterInnen standen erneut an einem Scheidepunkt: Entweder sie machten sich vollständig von der Kontrolle und dem Einfluss der Gewerkschaftsspitze unabhängig. Dann müssten sie ihre eigenen Entscheidungsorgane und ein zentrales Widerstandkommitee gründen und diese als einzig legitimen Entscheidungsorgane des Kampfes durchsetzen. Das würde ihnen den Weg eröffnen, als aktuelle und kämpfende Vorhut der Arbeiterbewegung der Türkei, die Zurückbleibenden wachzurütteln, in ihren Reihen Kampfgeist zu säen und diese in die praktische Aktionen einzubeziehen.

Oder der organisatorische Einfluss und die Kontrolle der Gewerkschaftsführung über ihren Widerstand bleibt immer das bestimmende Element. Dann werden sie von der Politik der Gewerkschaftsführung abhängig bleiben. Die Gefahren der Desorientierung und Desorganisierung werden dann ständige Begleiter.

Vor diesem Schritt in die Unabhängigkeit scheuten sich die meisten Tekel-ArbeiterInnen. Viele hatten ihren Glauben an die Aufrichtigkeit und Entschlossenheit der Gewerkschaftsführungen noch nicht ganz aufgegeben. Dieser politischer Mangel sollte sich kurze Zeit später furchtbar rächen.

Die Führung von Tek-Gida-Is und von Türk-Is begann ihren Angriff auf die sich immer stärker entwickelnde Selbständigkeit des Widerstandes, indem sie die Tekel-ArbeiterInnen aufforderten, die Transparente der linken Parteien und Organisationen aus den Zelten und vom Camp überhaupt zu entfernen. Der gefundene Vorwand war nur ein Mittel, um zu testen, ob sich die Mehrheit der ArbeiterInnen bei einer Konfliktsituation für die Linken oder die Gewerkschaftsführung entscheiden würde. Die Mehrheit der ArbeiterInnen und die Mehrheit der linken Unterstützer entschieden sich für die Entfernung der linken Transparente, um der Verschärfung eines internen Konflikts keinen Anlass zu bieten. Das Nachgeben in dieser Frage ermutigte die Gewerkschaftsspitze, nun den Druck auf die Arbeiter/innen selbst zu erhöhen. Es gab eine ganze Reihe von Arbeitern/innen, die die aktivsten und bewußtesten waren, die eine hohe natürliche Autorität unter ihren Kollegen/innen genossen. Zu ihnen kamen 'jeder' man/frau in der Regel als erstes mit allen möglichen Belangen und so waren sie das faktische inoffizielle Zentrum des Widerstandes. Und nun kamen die Gewerkschaftsführungen und die Hauptamtlichen genau zu vielen diesen ArbeiterInnen und sprachen ihnen gegenüber ihre Ermahnungen an alle ArbeiterInnen gerichtet aus, Zurückhaltung zu üben und zur Räson kommen. Das führte dazu, dass jede Selbstständigkeit des Widerstandes Stück für Stück und stetig zurückgedrängt wurde. Auch wenn viele Tekel-ArbeiterInnen gegen die Unterwerfungspolitik der Gewerkschaftspolitik laut protestierten und bei jeder Gelegenheit die Gewerkschaftsführung ausbuhten, blieb ihre Reaktion auf diese Proteste beschränkt. Ein eigenes Leitungsorgan ins Leben zu rufen. das von allen betroffenen ArbeiterInnen in freier und offener Abstimmung gewählt wird, diesen Schritt wagten sie nicht, denn mit einem solchen Schritt hätten sie den faktischen Bruch mit der Gewerkschaftsspitze riskiert.

Dieser Mangel manifestierte sich auch in dem endgültigen Verlust der Selbständigkeit und Eigeninitiative sowie in der Übergabe der vollständigen Kontrolle des Widerstandes durch die Gewerkschaftsführung.

Die negative Wirkung dieses Verlustes zeigte sich in der weiteren Entwicklung des Widerstandes. Anstatt den Kampf zu intensivieren, neue Aktionen zu planen und umzusetzen, die begonnene Bündnispolitik mit anderen Belegschaften zu verstärken, wurden die Tekel-ArbeiterInnen in eine passive und abwartende Haltung geführt. Die Politik des Abwartens wurde auch damit begründet, dass die Gewerkschaft beim obersten Verwaltungsgericht der Türkei ein Widerspruchsverfahren gegen die von der AKP-Regierung festgelegte Entscheidungsfrist bis Ende Februar 2010 eingeleitet hatte. Wenn das oberste Verwaltungsgericht zugunsten der Gewerkschaft verkünden sollte, würden die Tekel-ArbeiterInnen eine Verlängerung der Frist für 6 weitere Monate erreichen. Die Rücknahme der Privatisierung oder der Erhalt der bisherigen Stellen sowie die bisherige Gehaltshöhe und die bisherigen Sozialleistungen, kurzum alle die wichtigen Forderungen des Widerstandes waren nicht Inhalt des Widerspruchsverfahrens und eines möglichen positiven Urteils.

Die Tekel-ArbeiterInnen hatten aber nun mal in zähen Erfahrungen und aufopferungsvollen Qualen gelernt, sich nicht mehr fremd bestimmen zu lassen oder sich wie Untertanen unterwerfen zu lassen. Das war eine der wichtigsten Erfahrungen des Widerstandes gegen die AKP-Regierung, die Ihnen diktieren wollte, wo es entsprechend den Interessen des Kapitals lang geht. Viele Tekel-ArbeiterInnen protestierten gegen die Politik der Passivität der Gewerkschaftsführung, vor allem gegen den Vorsitzenden des Dachverbandes Türk-Is, der am heftigsten diese Politik vertrat. Die ArbeiterInnen forderten ihn zum Rücktritt auf. Der Generalsekretär von Türk-Is, der gleichzeitig Vorsitzender von Tek-Gida-Is ist, wollte die 'Unverschämtheit' der aufsässigen ArbeiterInnen nicht auf sich sitzen lassen. Er trat von dem Posten des Türk-Is-Generalsekretärs zurück, um seine Solidarität zu Seinesgleichen zu demonstrieren. Gleichzeitig betonte der Generalsekretär, dass jeder den Anweisungen der Gewerkschaft zu folgen habe, anderenfalls müsste jeder mit dem Verlust der Unterstützung durch die Gewerkschaft rechnen.

Wie der Zufall es so wollte (!), fiel das Urteil des obersten Verwaltungsgerichts in Bezug auf das Widerspruchsfahrens Ende Februar zugunsten der Tekel-ArbeiterInnen aus und damit wurde die Fristsetzung der Regierung bis Ende Februar 2010 aufgehoben. Dementsprechend sollte die Frist um 6 weitere Monate verlängert werden und bis zum Ablauf der verlängerten Frist die tariflich festgelegten Gehälter und Sozialleistungen weiter gezahlt werden. Das Urteil war ein rechtlicher Sieg der ArbeiterInnen, der nur durch den Widerstand, durch die wachsende Solidarität innerhalb der arbeitenden Bevölkerung möglich geworden war. Das Urteil des obersten Verwaltungsgerichtes war ein weiterer Beleg dafür, dass es sich lohnt zu kämpfen und Widerstand zu leisten. Dies zeigte weiterhin, dass durch die Intensivierung des Widerstandes die Tekel-Arbeiter weitere Ziele erreichen könnten, vor allem ihre Hauptzielsetzung, sichere und gesetzlich geschützte Arbeitsplätze durchzusetzen.

Das war aber nicht das Ziel der Gewerkschaftsführung. Sie hatten jetzt ein bisschen mehr Zeit und mehr Spielraum gewonnen, den Prozess der Verhandlungen hinter verschlossenen Türen mit den Regierungsvertretern wieder einleiten zu können. Die Voraussetzung dafür war, dass dieser 'ärgerliche' Widerstand der ArbeiterInnen endlich beendet und das gallische Dorf der WiderständlerInnen geräumt werden musste, wozu sie auch die Tekel-ArbeiterInnen sofort aufriefen.

Die riesige Freude über das Urteil des obersten Verwaltungsgerichts und die Wut über die Aufforderung zur Räumung des Zeltcamps mischten sich in den Köpfen und Herzen der Tekel-ArbeiterInnen. Viele wollten der Aufforderung nicht nachkommen. Dann tauchten aber unvermeidlich eine Reihe von unbeantworteten Fragen auf: Können sie die meisten ihrer Kollegen/innen vom Verbleib und Fortsetzung des Widerstandes überzeugen? Wie können sie sich wehren, wenn die Polizei die Aufforderung der Gewerkschaftsführung zum Anlass nimmt und das Zeltcamp mit Gewaltanwendung räumt? Für den Fall des Falles mussten sie auch damit rechnen, dass sämtliche etablierte Medien gegen sie eine Hetze starten würden. Konnte dann die Solidarität der breiten Bevölkerung noch gewährleistet werden? Usw. usf.

Diese und viele ähnliche unbeantwortete Fragen ließen sie zu dem Ergebnis kommen, das Zeltcamp zu räumen und erstmal abzuwarten.

Am 4. März 2010 nach 78 Widerstandstagen (d.h. länger als 2,5 Monate) verließen die Tekel-ArbeiterInnen ihr gallisches Dorf.

Ob damit auch das Schicksal des Widerstandes und die Zukunft der Tekel-ArbeiterInnen endgültig besiegelt worden ist, ist mit einer eindeutigen Vorhersage nicht zu beantworten. Sicher ist aber, dass die Tekel-ArbeiterInnen mit ihrem Widerstand einen neuen Meilenstein in der Geschichte der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung der Türkei gesetzt haben, und dass sie die Geister der Solidarität und des Widerstandes wieder zum Leben erweckt haben.

Ob sie die Tradition des gallischen Dorfes wiederaufnehmen oder eine neue Widerstandsform ausprobieren, darüber kann aus heutiger Sich nur spekuliert werden. Was aber jetzt schon feststeht, ist, dass die Kultur des Widerstandes nicht in Vergessenheit geraten wird und die unzähligen Erfahrungen, die sie sich im Laufe des langen Kampfes teuer angeeignet haben, sich bei der nächsten Auseinandersetzung als wertvoller Schatz erweisen werden.

RESÜMEE

Viele Erfahrungen und vielfältige Schlussfolgerungen lassen sich in diesem Kontext ziehen und verallgemeinern. Ohne auf die Reihenfolge der Schlussfolgerungen Rücksicht zu nehmen, sind in erster Linie folgende Punkte festzuhalten:

Es hat sich gezeigt, dass die Behauptung, haltlos ist, in einer schweren Wirtschaftskrise nicht erfolgreich streiken zu können. Die Folgen der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise spürte die Türkei am ganzen Leibe. Vor allem die Bau- und Automobilbranche schrieben nur noch rote Zahlen. Mehr als 1,5 Millionen Beschäftigte verloren aufgrund der Krise ihren Job, weitere Millionen Arbeiter und Arbeiterinnen mussten Kurzarbeit und Zwangsurlaub hinnehmen. Die offizielle Arbeitslosenquote stieg von 9,5 auf 14%. Die Angst, den Job zu verlieren, wuchs bei den Beschäftigten sehr stark.

Der Widerstand der Tekel-Arbeiter zeugte aber von der Unrichtigkeit der Behauptung, man könne in der Krise keinen effektiven Streik führen. Am Anfang besaßen die Tekel-ArbeiterInnen nichts anderes als ihre Überzeugung und ihre Einsicht in die unbedingte Notwendigkeit sich für ihre gerechten Forderungen einzusetzen. Ein Anspruch auf Streikgeld oder auf finanzielle Unterstützung durch die Gewerkschaft hatten sie nicht. Wenn die Überzeugung Widerstand zu leisten die meisten Angehörigen einer Belegschaft erfasst, wenn eine Belegschaft ihre wichtigste Kraft, nämlich ihre Masse, in Bewegung setzt, dann kann sie einen langen, hartnäckigen, aufopferungsvollen Kampf aufnehmen und einen erfolgreichen Streik führen.

Im direkten Zusammenhang mit einem erfolgreichen Widerstandskampf von ArbeiterInnen ist, was die Kampfformen anbelangt, die Frage der blinden Rechtsgläubigkeit zu erwähnen. In der Türkei existiert eine der reaktionärsten und restriktivsten Arbeitsgesetzgebungen Europas. Der Generalstreik, sowohl der politische als auch der Unterstützungsstreik, ist per Verfassung verboten. Selbst ein Streik, der den gesetzlichen Vorgaben und Fristen nicht nachkommt und nicht nach dem Buchstaben der Gesetze durchgeführt wird, ist ein ungesetzlicher Streik. Die daran Beteiligten, Unterstützer und Verantwortlichen können mit hohen Haft- und Geldstrafen geahndet werden. Darüber hinaus verstießen die Tekel-ArbeiterInnen allein mindestens gegen Dutzende Paragraphen des Versammlungrechts. Die Tekel-ArbeiterInnen haben eindeutig bewiesen, dass es in der gesellschaftlichen Realität nicht nur auf die Legalität, sondern auch auf die Legitimität eines Kampfes ankommt, die in gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen, im Kampf gegen die Kräfte des Kapitals eine stärkere Wirkungskraft entfalten kann als die Legalität. Die Tekel-ArbeiterInnen haben einen ungesetzlichen, aber legitimen Streik geführt. Sie haben eine ungesetzliche, aber in den Augen der Bevölkerung und der Öffentlichkeit legitime Kampfform -die Besetzung eines öffentlichen Ortes- angewendet. Selbst die Gewerkschaften riefen zu einem faktischen Generalstreik auf, dessen 'Verfassungsverstoß' mehr als klar war. Kein Regierungsvertreter, kein Gericht wagte aufgrund der wachsenden Unterstützung und Sympathie hinsichtlich des Widerstandes gegen den (halbherzigen) Generalstreik Beschwerde einzulegen oder einen Haftbefehl gegen die Arbeiter/innen oder Gewerkschafter zu erlassen.

Der gewerkschaftliche Organisationsgrad der ArbeiterInnen der Türkei liegt um ca. 6,51 %, d.h. nur eine kleine Minderheit der ArbeiterInnen sind überhaupt gewerkschaftlich organisiert. Die überwiegende Mehrheit der ArbeiterInnen ist der Gier nach Ausbeutung durch die Unternehmer ohne jeglichen gewerkschaftlichen oder tarifvertraglichen Schutz vollkommen ausgeliefert. Gemessen an den Einkommens- und Arbeitsbedingungen sind die gewerkschaftlich organisierten ArbeiterInnen in der Türkei sozusagen eine 'privilegierte' Schicht. Dazu kommt die Tatsache, dass die absolute Mehrheit der Gewerkschaften nicht nur arbeitgeberfreundlich ist, sondern auch als inoffizielle verlängerte staatliche Institutionen verwaltet werden. Die Gewerkschaftsspitzen herrschen in den Gewerkschaften selbstherrlich und autoritär wie die Despoten des Mittelalters. Die Arbeitsgesetzgebung zementiert auch ihre absolute Herrschaft in den Apparaten. Nicht selten werden aufmüpfige Gewerkschaftsmitglieder in enger und harmonischer Zusammenarbeit mit den Arbeitgebern entlassen und raus geschmissen.

Man könnte aufgrund dieser Voraussetzungen sehr leicht zu der Auffassung kommen, dass die Gewerkschaften als Organisationen fast gänzlich ihre Rolle verloren hätten und die gewerkschaftlich organisierten ArbeiterInnen nicht in der Lage wären, einen effektiven, wichtigen Widerstand zu leisten. Diese Schlussfolgerung wäre nicht nur unrichtig, sondern auch in Bezug auf die Fähigkeit der gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten zutiefst schädlich. Das Beispiel der Tekel-ArbeiterInnen zeugt von der Tatsache, dass die Beschäftigten trotz ihrer minimalen gewerkschaftlichen Organisierung ihre Möglichkeiten und die Vorteile ihrer tarifvertraglich erkämpften Rechte als einen wichtigen Hebel für einen Kampf nutzen können.

Der Widerstand der Tekel-Arbeiter implizierte von Anfang an eine politische Qualität, die sich als wichtiger Motor zur Stärkung der Auseinandersetzung gegen den öffentlichen Arbeitgeber und als ein effektives Mittel zur Organisierung der Solidarität mit vielen weiteren öffentlich Beschäftigten erwiesen hat. Im Laufe des Widerstandes mussten sich die Tekel-Beschäftigten intensiver mit politischen Fragen auseinander setzen: Woher kommt die erbitterte Feindschaft 'ihrer' Regierung und vieler öffentlich bekleideter Ämter wie die des Gouverneurs oder des Bürgermeisters gegen sie? Warum schützen die ganzen Gesetze kaum ihre Interessen, sondern die der Arbeitgeber? Warum behandelten die 'Sicherheitskräfte' ihres Landes die Beschäftigten so brutal, wie sie ein feindliches Heer bekämpfen würden? Wahrscheinlich haben viele ArbeiterInnen in Bezug auf diese und ähnliche Fragen nicht immer eine befriedigende Antwort gefunden. Aber dass ihr bisheriges Vertrauen auf das politische System grundsätzlich erschüttert wurde, steht es außer Frage. Die direkte Auseinandersetzung mit vielen politischen Akteuren des politischen Systems fegte ihre vielen falschen Vorstellungen über die etablierte Politik hinweg. Und diese Vorstellungen bildeten bisher einer der wichtigsten Gründe für ihre Passivität. Als der Kampf ihre falschen Vorstellungen in Frage stellte, eröffnete dies ihnen auch eine vollig neue Sicht der Dinge und eine ungeahnte Dynamik ihrer eigenen Kräfte.

Die Tekel-Beschäftigten kämpften in der Tat gegen viele Dogmen des Neoliberalismus wie z. B. gegen die Privatisierung, Deregulierung, Abschaffung des Kündigungsschutzes und die Einführung der prekären Arbeitsbedingungen ... und für den Erhalt des Tarifvertrages, des Koalitionsrechts und für eine soziale und gerechte Gesellschaft. Und so weckten sie spontan bei vielen Belegschaften im In- und Ausland nicht nur Sympathie, sondern auch eine unerwartete Solidarität. Für viele Belegschaften und Gewerkschaften im In- und Ausland waren die Forderungen der Tekel-Arbeiter/innen dieselben Fragen, mit denen auch sie konfrontiert waren und dieselben Forderungen, die sie auch für gerecht und notwendig hielten. Dadurch erhielt der Widerstand der Tekel-Beschäftigten einen internationalen politischen Charakter.

Es hat sich auch gezeigt, dass die Praxis, der Kampf und die direkten Erfahrungen einer Belegschaft wertvollste Universitäten für ArbeiterInnen sind, in denen sie nach allen Regeln der Kunst das beste Studium genießen können.

Ali Osman Basegmez; März 2010

Mail: aliosmanbasegmez@windowslive.com


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