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Updated: 18.12.2012 15:51
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Tunesien, Teil V: Ben Ali ging, die Bourgeoisie bleibt noch

Tunesien nach dem partiellen Machtwechsel: Amtsübergabe an die Übergangsregierung erfolgte am gestrigen Montag - Demonstrationen und Kämpfe gehen weiter - Streiks erreichen nun auch die Call Centers europäischer Firmen

Teil I und Teil II und Teil III und Teil IV

Unerwartete Konsequenzen für das französische Publikum hat die Revolte - die sich zum Teilsieg einer demokratischen Revolution ausgeweitet hat - in Tunesien. Die ,Call Centers' verschiedener europäischer Firmen, die auf tunesischem Boden angesiedelt sind, antworten derzeit nicht länger. Einerseits werden auch sie durch die Streikwelle sowie das Zu-Hause-Bleiben vieler Lohnabhängigen (aufgrund der grassierenden Unsicherheit, v.a. aufgrund des Terrors zum alten Regime haltender Milizen, und zeitweilig aufgrund von Ausgangssperren) berührt.

Andererseits waren bestimmte Filialen auf tunesischem Boden im (mehrheitlichen) Eigentum von Mitgliedern des Ben Ali-Clans, die nun abgehauen sind. Beispielsweise ,Orange Tunisie' , eine Filiale der französischen Telekom stand, welche im mehrheitlichen Eigentum von Marwan Mabrouk stand, - einem Schwein aus dem Ben Ali-Clan, präziser, einem der Schwiegersöhne des gestürzten Präsidenten und Hauptprofiteure der regierenden Mafia. 51 % von ,Orange Tunisie' gehörten bislang dem Unternehmen von Marwan Mabrouk, Investec, und 49 % der französischen Telekom. Heute früh ist der Webseite des ,Figaro' zu entnehmen, dass die Gewerkschaft "CFE-CGC / UNSA bei France Télécom Orange" (eine Fusion aus zwei der rechtesten Gewerkschaften bei dem Unternehmen) sich "um die Zukunft des Unternehmens Orange Tunisie sorgt", da Marwan Mabrouk mitsamt seiner Sippschaft außer Landes geflohen ist. Marwan Mabrouk ist der Ehemann von Cyrine Mabrouk, einer Tochter von Ex-Präsident Ben Ali, die seit circa 1999 und bis im September 2010 das Unternehmen ,Agence d'Internet tunisienne' (AIT) leitete. Es handelt sich um den mit Abstand größten Internet-Anbieter in dem nordafrikanischen Land, das vor wenigen Tagen dadurch berühmt wurde, dass es die Passwörter (für Yahoo, Facebook oder Gmail) "schluckt", d.h. Außenstehenden wie etwa Polizei & Nachrichtendienstlich zugänglich macht(e).

Seit Freitag antworten die ,Call Centers' französischer Firmen wie der Mobiltelefon-Anbieter Orange (alias französische Telekom), SFR und Bouygues nicht mehr. Die Anbieter leiten die Anrufe nun auf andere Zentren um, stellen aber fest, dass sich die Wartezeiten für die Kundschaft erheblich verlängert haben. Zwischen o5 und 15 % der Anrufe liefen bislang über Tunesien, für Orange sind es beispielsweise 09 % der Anrufe im Internet-Geschäft, anderen Angaben zufolge sind es 12 % der gesamten Kundenanrufe für Orange "im Privatkunden- und kleineren Firmenkunden-Geschäft". Insgesamt sind in den Jahren von 1998 bis 2008 rund 28.000 Arbeitsplätze im Telekom-Sektor aus Frankreich ausgelagert worden - oft nach Marokko & Tunesien, wo Hochschulabgänger/inne/n solche Sklavenhalterjobs angeboten werden. Zu Lohnbedingungen, die zwar oft besser sind als im sonstigen regionalen Umfeld, aber deutlich niedriger liegen als die Löhne, die in Frankreich oder Europa bezahlt werden müssten.

Nun wird auch am einleuchtenden Beispiel klarer, was die europäische Bourgeoisie am Ben Ali-Regime zu verlieren hatte.

Ben Ali & 1,5 Tonnen Gold auf Reisen

Am Freitag Abend war es so weit: Der früher gefürchtete, inzwischen aber in breiten Kreisen nur noch verhasste Präsident Zine el-Abidine Ben Ali flog ins Exil.

Über seinen Bestimmungsort herrschte zunächst Unklarheit. Am Abend wurde sein Flugzeug auf Malta gemeldet, kurz darauf landete es zum Auftanken in Sardinien. Wilde Gerüchte zirkulierten, wonach der gestürzte Präsident in Frankreich erwartet werden. Dort standen bereits Begrüßungskomitees für einen heißen Empfang bereit: Hunderte von oppositionellen Exiltunesiern warteten am Flughafen von Orly, andere bei der tunesischen Botschaft in Paris.

Doch Ben Ali kam nicht. Nach einer eilig anberaumten Krisensitzung im Elyséepalast - an der unter anderem der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy und Premierminister François Fillon teilnahmen - verkündete man in Paris, eine Aufnahme Ben Alis stünde nicht auf der Tagesordnung. In einem trockenen Kommuniqué hieß es ferner, das offizielle Frankreich nehme "die verfassungsmäßige Übergangsperiode" in Tunesien "zur Kenntnis". Es hatte bislang neben den USA eine der Hauptstützen des Ben Ali-Regimes gebildet. Doch die US-Adminstration unter Barack Obama hatte rechtzeitig die Zeichen der Zeit erkannt und sich von dem Regime abgesetzt. Am ersten Freitag im Januar lud sie den tunesischen Botschafter vor; später wurde in Reaktion darauf der US-Botschafter in Tunis vorgeladen und ermahnt, seine Regierung verlasse sich auf "falsche Informationen". Doch falsch lag eher der Präsident, der kurz darauf den Flieger in Richtung Exil besteigen musste.

Einige Stunden später wurde das Eintreffen Ben Alis in der saudi-arabischen Küstenstadt Djiddah, die bereits als Exil-Ort etwa des 2003 verstorbenen ugandischen Ex-Diktators Idi Amin Dada diente, vermeldet. Informationen, die sich im Laufe des Wochenendes verdichteten, sprachen davon, Ben Ali und Angehörige seien mit 1,5 Tonnen Gold aus der tunesischen Zentralbank an Bord ausgeflogen. Inzwischen hat Paris angekündigt, man prüfe, die Guthaben und Bankkonten des Ben Ali-Clans auf französischem Boden einzufrieren. Das offizielle Frankreich versucht sich mit der tunesischen Übergangsregierung, die nach dem Sturz Ben Alis gebildet wurde, auf diese Weise besser zu stellen.

In Tunis hat man nicht vergessen, was die jetzige französische Außen- und frühere Innenministerin Michèle Alliot-Marie noch am Dienstag und Donnerstag vergangener Woche erklärte. Den Diktator Ben Ali solle man "in Ruhe und ohne Voreile beurteilen", betonte Alliot-Marie, während sie seinem Regime am Dienstag letzter Woche im französischen Parlament Polizeihilfe anbot. Die tunesischen Sicherheitsorgane seien überfordert und schlecht ausgebildet - bekämen sie kompetente Unterstützung aus dem Norden, so könnte dies erlauben, "gleichzeitig die Sicherheit und die Bewahrung von Menschenleben zu gewährleisten". Zu diesem Zeitpunkt währte die Revolte, die am 17. Dezember im zentraltunesischen Sidi Bouzid begonnen hatte, bereits seit Wochen, und ihre Niederschlagung hatte bereits mehrere Dutzend Menschenleben gefordert.

Die Bilanz der Repression hat die provisorische Regierung inzwischen auf 78 Todesopfer beziffert. Dabei sind 42 Häftlinge, die am Samstag unter noch nicht genau geklärten Umständen in Monastir verbrannten - einer der Insassen des dortigen Gefängnisses hatte seine Matratze angezündet, während draußen vor den Türen eine Demonstration für ihre Freilassung stattfand - noch nicht mitgezählt. Zu den Getöteten zählen ansonsten auch ein deutsch-französischer Fotograph und ein Lehrer tunesischer Herkunft aus Compiègne in Nordostfrankreich. Vor allem am Wochenende, in geminderter Stärke auch zu Wochenbeginn, gingen unterdessen Schießereien zwischen Ben Ali-treuen Milizen und der Armee weiter. Die tunesische Armee, die unter Ben Ali und seinem Amtsvorgänger Habib Bourguiba eher schlecht behandelt und zugunsten von Polizei und Nachrichtendiensten marginalisiert worden war, hielt zu guter letzt nicht mehr zum Regime. In Tunis kam es schon kurz vor der Abreise Ben Alis zu vielfältigen Fraternisierungsszenen zwischen Demonstranten und Soldaten. Nunmehr wird die Armee von vielen Einwohnern als Garant eienr körperlichen Sicherheit begriffen, während Milizen, aber auch -durch die Reste des Ben Ali-Regimes instrumentalisierte - ordinäre Kriminelle zahlreiche Übergriffe verüben. Deren Ziel ist es, zu zeigen, dass ohne den alten Präsidenten das unbezwingbare Chaos einkehrt. Neben Einheiten der Armee werden aber auch Selbstverteidigungsgruppen von Einwohner-inne-n aktiv, um ihre Wohnviertel in Eigeninitiative zu verteidigen. Viele von ihnen nennen sich "Wachsamkeitskomitees", in Anlehnung an einen Begriff, der erstmals unter de Commune de Paris 1871 auftauchte, als es darum ging, über die Umtriebe der Armee der reaktionären Gegenregierung in Versailles - die damals Paris belagerte und beschoss - zu wachen. "Wachsam" möchten sie gegenüber den Milizen bleiben, aber in vielerlei Hinsicht auch gegenüber der Entwicklung der Übergangsbehörden.

Übergangsregierung: Aus Alt mach' Neu.

Am Montag wurde die Zusammensetzung der Überrangsregierung bekannt. Nur drei ihrer Minister gehören der bisherigen Opposition an: Der Generalsekretär der völlig zahnlosen Ex-Kommunisten in Gestalt der eher liberalen Partei Ettajdid (Erneuerung), Ahmed Brahim, wurde Hochschulminister. Nejib Chebbi, der Anführer der bislang tolerierten "Progressiv-demokratischen Partei" PDP, wurde Minister für Regionalentwicklung und Mustapha Ben Jafaar von der eher sozialdemokratischen Partei FDTL ("Forum für Demokratie, Freiheit und Arbeit") übernahm das Gesundheitsressort. Hingegen bleiben die Schlüsselministerin wie Inneres - also für Polizei und Repressionsorgane -, Verteidigung und Auswärtiges in den Nähen von Apparatschiks des alten Regimes. Lediglich die bisherige Staatspartei unter Ben Ali, den RCD (Demokratische Verfassungs-Sammlung), müssen sie offiziell verlassen. // - LETZTE MELDUNG VOM DIENSTAG UM 13 UHR: Der Druck auf die Übergangsregierung wächst, und ein wachsender Teil der politischen Kräfte distanziert sich inzwischen von ihr. Zwei der drei bisherigen Oppositionsparteien, die sich an ihr beteiligen mochten, ziehen sich nun doch zurück: das FDTL und Ettajdid. Nur der PDP behält seine Beteiligung am Kabinett aufrecht. Auch die Leitungsinstanzen des tunesischen Gewerkschaftsdachverbands, der UGTT ziehen sich sowohl aus der Regierung als auch aus dem Parlament zurück. Bislang gehörten drei der Minister in der Übergangsregierung und fünf Abgeordnete im Parlament der UGTT an. Deren Spitze war bislang durch das alte Regime (mittels Korruption & polizeiliche Infiltration) kontrolliert worden, aber die Basis hatte durchaus ihr gewerkschaftliches Eigenleben. Nunmehr beschloss die UGTT am heutigen Tage, ihre Leute aus Übergangsregierung, Parlament und Senat abzuziehen. Ferner fordert die UGTT nun offiziell die Auflösung der alten Staatspartei unter Ben Ali, des RCD. //

Ein "Baron" des alten Regimes ist auch der Parlamentspräsident Foued Mebazaa, der - wie durch die Verfassung vorgesehen - die Übergangsperiode leiten wird. Zur Zusammenstellung der provisorischen Regierung wurden ausschließlich Vertreter der bisher bereits offiziell zugelassenen, mehr oder minder handzahmen Opposition eingeladen. Bislang verbotene Oppositionskräfte dürfen sich zwar künftig frei betätigen, doch wurde nicht mit ihnen über die Bildung der Übergangsregierung verhandelt. Zu ihnen gehören Kräfte auf unterschiedlichen Seiten des politischen Spektrums. Links steht der PCOT (die "Kommunistische Partei der Arbeiter Tunesiens") unter Anführung eines des prominentesten Opponenten Ben Alis, des Journalisten und Literaturlehrers Hamma Mammadi, der noch vergangene Woche erneut verhaftet worden war. Seine Partei war früher maoistisch und pro-albanisch ausgerichtet, hat aber wie andere ex-maoistische Parteien der Region - etwa "Demokratischer Weg" in Marokko - eine Wende zu einem eher vage demokratisch-sozialistischen Profil vollzogen. Verboten waren auch bürgerlich-demokratische Kräfte wie der "Kongress für die Republik" (CPR) von Moncef Marzouki, der am vergangene Wochenende aus dem französischen Exil nach Tunis zurückkehrte. Illegal waren schließlich auch die Islamisten der Partei En-Nahda (Wiedergeburt), die in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre unter ihrem damaligen Namen Mouvement de la tendance islamique (MIT) zeitweilig stark im Aufwind waren. Ihre Anhänger wurden später zunächst zu den Hauptbetroffenen der Repression, mit 30.000 Verhafteten und zahllosen Folteropfern. Ihr Vorsitzender Rachid Ghannouchi bereitet seine Rückkehr aus dem langjährigen Londoner Exil vor. Seine Partei hat ein eher moderates Profil im internationalen islamistischen Spektrum und lehnt sich an die innenpolitische Orientierung der regierenden türkischen AKP an, akzeptiert also demokratische Machtwechsel und die Einhaltung bürgerlicher Rechtsgarantien.

Jene Parteien, die bislang verfolgt waren und nunmehr außerhalb der Regierung bleiben, kritisieren deren Profil. Moncef Marzouki spricht von einer "Maskerade" und der PCOT nennt ihre Bildung ein "Reförmchen". Wie auch andere Kräfte fürchten sie, dass die durch die Jugend- und Massenrevolte aufgerissene und erzwungene Öffnung des Regimes sich bald wieder schließen könnte. Jedenfalls, sobald der Druck von unten nachlässt.

Die neue Regierung ihrerseits kündigte an, in naher Zukunft Wahlen abzuhalten. Diese müssen theoretisch (juristisch) innerhalb von 60 Tagen stattfinden, da das Verfassungsgericht ein "Machtvakuum" ausgerufen hat. Doch eventuell möchte man sich bis zu sechs Monaten Zeit geben. Dies dürfte für die Parteien außerhalb des bisher de facto diktatorisch regierenden RDC eher von Vorteil sein, da sie sich erst organisieren müssen. Allerdings droht der soziale und demokratische Druck auf die Regierenden gleichzeitig nachzulassen, je länger der zeitliche Abstand zur Revolte er ersten Januarwochen wird.

Erster erfolgreicher Umsturz seit dem algerischen Oktober 1988

Tunesien hat bislang eine demokratische Revolution erlebt; die erste erfolgreiche in der arabischen Welt, seitdem das Ein-Parteien-Regime in Algerien durch eine Jugendrevolte im Oktober 1988 zum Einsturz gebracht wurde. Diese war das Werk unterschiedlicher Kräfte. Zwar sind derzeit politische Suppenverkäufer unterwegs, um das Ergebnis zugunsten ihres jeweiligen ideologischen Projekts zu interpretieren. Islamisten wie der sudanesische Politiker Hassan Al-Tourabi, der am Montag Abend verhaftet wurde, weil er einen Aufstand "ähnlich wie in Tunesien" als "wahrscheinlich" angekündigt hatte, reklamieren den Erfolg für sich. Sie haben ebenso Unrecht wie die Neokonservativen in verschiedenen westlichen Ländern auf Dummenfang, die den Umbruch in Tunesien als verspäteten Erfolg des US-amerikanischen Angriffs auf den Irak von 2003 verkaufen möchten (vgl. http://www.wadinet.de/blog/?p=3366 externer Link) - die Administration Bush hatte ja wiederholt das Anliegen der "Demokratisierung" als einen ihren Vorwände für eine militarisierte Außenpolitik angeführt.

Doch die organisierten Islamisten spielten innerhalb Tunesiens keine erkennbare Rolle bei den Aufständen. Und im Ausland nahmen etwa Anhänger von El-Nahda in London oder Paris an den Bündnissen zur Unterstützung der tunesischen Opposition teil - konnten dabei aber keinerlei eigene politische Agenda setzen, sondern hängten sich an die sozialen und demokratischen Forderungen der übrigen politischen Kräfte mit dran. Was die US-Invasion im Irak betrifft, so hat sie in Tunesien den Großteil der öffentlichen Meinung gegen sich, und die Opposition hatte in der Vergangenheit Demonstrationen gegen die US-Militärpolitik organisiert, die durch das Regime Ben Alis unterdrückt worden waren. Der Aufstand vom Januar dieses Jahres setzt auch nicht die militärische Invasion im Irak fort, sondern den tunesischen Generalstreik von 1978 oder die algerische Revolte von 1988.

Rolle der Gewerkschaften

Die demokratische Revolution - manche Beobachter sprechen von "Jasmin-Revolution", doch der Begriff ist in Tunesien selbst sehr umstritten, wo viele lieber von "tunesischer Revolution" sprechen - trug auch einige Züge einer sozialen Revolution. Ausgelöst worden war sie in der zweiten Dezemberhälfte durch eine Arbeitslosenrevolte. Von entscheidender Bedeutung war in ihr unter anderem auch das Gewicht der oppositionellen Kräfte innerhalb des Gewerkschaftsdachverbands UGTT. Diese "Allgemeine Union der Werktätigen Tunesiens" ist von ihren Anfangstagen an eine "echte" Gewerkschaftsbewegung gewesen. Im Gegensatz etwa zur algerischen UGTA, die 1956 als verlängerter Arm der antikolonialen Nationalbewegung gegründet worden war und sich deswegen nie von der Nationalen Befreiungsfront (FLN) - die den Befreiungskrieg anführte, aber später zur diktatorisch regierenden Staatspartei wurde und heute wiederum in der Regierung sitzt - emanzipieren konnte.

Die Spitze des UGTT-Apparats wurde zwar mit den Mitteln der Korruption und polizeilichen Infiltration durch das Regime Ben Alis kontrolliert, aber nie die Gesamtheit ihrer Einzelgewerkschaften. Allein fünf Branchenverbände waren vollständig oppositionell. Wesentliche Teile der UGTT spielten eine wichtige Rolle bei der Organisierung der Basisbewegung. Darin liegt sowohl einer der Gründe für den Erfolg, als auch beispielsweise ein Unterschied zur aktuellen Situation in Algerien. Dort fanden zeitgleich zur Revolte in Tunesien vom o6. bis zum o9. Januar dieses Jahres heftige Riots statt, die jedoch nach vier Tagen in sich zusammenbrachen. Dazu trugen zwei Hauptgründe bei. Einerseits fehlt eine strukturierende Kraft, wie die tunesische Gewerkschaftslinke sie darstellt. Andererseits weist Algerien - wo im Unterschied zu Tunesien unter Ben Ali seit langem eine relative Pressefreiheit herrscht, und reine Meinungsäußerungen weitgehend risikolos sind - wesentlich mehr faktische "Ventile" auf.

Die große Mehrheit der Algerier schimpft tagtäglich auf "das System", fühlt sich jedoch ohnmächtig, es zu stürzen. Das Scheitern der radikalen Islamisten in den neunziger Jahren, die sich an seinem Umsturz versucht hatten, aber im Verlauf des Bürgerkriegs (u.a. aufgrund stattgefundener Massaker) ihre massenhafte Unterstützung verloren, trug zu diesem Ohnmachtsgefühl bei. In Ermangelung einer strukturierten und gut verankerten Opposition bleibt es bislang in Algerien - trotz der Existenz unter anderem zweier trotzkistischer und mehrerer islamistischer Parteien - bei spontanen Ausbrüchen, die "dem System" nicht wirklich gefährlich werden.

Regionale Ausweitung erhofft bzw. befürchtet (je nach Standpunkt)

Dennoch zieht das "tunesische Beispiel" derzeit Kreise, und lehrte die Regimes in den Nachbarländern das Fürchten. Als einzige arabische Regierungsstruktur begrüßte die Palästinensische Autonomiebehörde den Umsturz in Tunesien, während umgekehrt Libyens Staatschef Muammar el-Kaddafi den Abgang Ben Alis offen bedauerte. In Algerien, Mauretanien und Ägypten - dort vor dem Parlament in Kairo - fanden zu Wochenbeginn Selbstverbrennungen statt, in der Mehrzahl der Fälle von jungen Arbeitslosen. Sie knüpfen an die tragische Tat des jungen Arbeitslosen von Sidi Bouzid vom 17. Dezember an.

Neben der Komponente einer sozialen Revolte sind aber auch andere Elemente in der tunesischen demokratischen Revolution gegenwärtig. Auch Teile der Bourgeoisie wollten sich des bisherigen Regimes entledigen, da die erweiterte Familie Ben Alis - besonders die Sippschaft seine Gattin, Leila Trabelzi - wesentliche Sektoren der Ökonomie mit eine mafiösen Überwucherung überzogen hatte. Wer Geschäfte im Tourismus, Autoimport oder auch im Schmuggel machen wollte, musste einen Anteil an die Ben Alis oder an die Trabelzis abdrücken. Nicht wenige Privatkapitalisten sahen sich auf diese Weise am ungestörten Geschäftemachen gehindert. Besonders die "Trabelzija", die Sippe der Präsidentengattin (ihr Familienname bedeutet "Tripolitaner"), war ins Visier der aufgestauten Wut breitester Segmente der Gesellschaft geraten. Viele ihrer Villen, Luxusautos und wirtschaftlichen Besitztümern - etwa Supermärkte der Carrefour-Kette, deren Lizenzen sie besaßen - wurden in der vergangenen Woche einem warmen Abbruch unterzogen. 16- und 17jährige wählen die Villen nach Namenslisten aus, kippen Benzin herum und zünden es an. Ein jüngerer Bruder von Leila Trabelzi-Ben Ali wurde am Samstag durch eine wütende Menge totgeschlagen.

Die über die "Trabelzija" und ihre mafiösen Verflechtungen empörte Bourgeoisie möchte sicherlich mehr politische Freiheiten, aber von einer anderen Verteilung der Reichtümer oder sozialen Umwälzungen auf die Dauer nichts hören. Sie strebt eher eine Verbreiterung der sozialen Basis der künftigen Regierung innerhalb der Oligarchie an - ähnlich wie es seit 1986 in mehreren Ländern geschah, die unter der Schirmherrschaft der USA bisherige diktatorisch-oligarchische durch korrupt-demokratische und halbautoritäre Regierungen austauschten. Etwa durch die Ersetzung des Diktators Ferdinand Marcos durch Präsidenten Corrazon Aquino auf den Philippinen, oder durch die 1986 eingeleiteten sukzessiven Regimewechsel auf Haiti.

In einem Land wie Tunesien, wo bislang nicht einmal eine rudimentäre Arbeitslosenversicherung existiert, wird das Konzept der politischen Freiheit für junge Arme oder lebenslänglich Prekarisierte schnell theoretisch. Wer aufgrund mangelnder ökonomischer Mittel in fortgeschrittenem Alter auf engem Raum mit der Familie zusammenleben muss, kann auch individuelle Freiheiten nur in geringem Ausmaß wahrnehmen. Zukünftige Konflikte unter den jetzigen Unterstützern des Umbruchs sind also vorprogrammiert.

Bernard Schmid, Paris, 18.01.2011


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