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Updated: 18.12.2012 15:51
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Grenzerfahrungen

Arbeitsmigration, Prekarisierung und der Israel/Palästina-Konflikt. Eindrücke einer Reise ins »Ge-lobte Land« – von Kirsten Huckenbeck, Teil I

»Es ist bedauerlich, dass in Deutschland eine offene Diskussion über die Ursachen des Konflikts zwischen Israel und Palästina und eine kritische Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse in Is-rael nicht möglich ist. Das ist eine Erfahrung, die ich in Israel selbst nicht mache«, so Michael Warschawski, Vorstandsmitglied des von ihm mitgegründeten »Alternative Information Centre«, das sich seit seiner Gründung für eine friedliche Lösung des Israel/Palästina-Konflikts auf der Basis von Koexistenz, Laizismus und Demokratisierung einsetzt, während einer Diskussionsveranstal-tung anlässlich der Präsentation seines kürzlich ins Deutsche übersetzten Buchs »An der Grenze« (Edition Nautilus, Hamburg 2004) in Frankfurt a.M. Der lakonische Kommentar war zumindest in Bezug auf die Verhältnisse vor Ort nicht unberechtigt: In der Tat war die Veranstaltung während der letzten halben Stunde geprägt von – immerhin auf die verbale Ebene begrenzten – Saalschlachten zwischen Mitgliedern der jüdischen Gemeinde und Anhängern einer Palästina-Solidarität, die um die Aufrechnung der Opfer von israelischen Bombardements und palästinensischen Selbst-mordattentaten und die jeweils daraus abgeleitete Notwendigkeit »bewaffneter Verteidigung« kreisten. Vielmehr als um die in dieser Stellvertreterdiskussion – der politische Ort der Beteiligten lag immerhin ›auf deutschem Boden‹ – aufgeworfene unsinnige Frage nach dem Maßstab eines berechtigten Tötens schien es um die Berechtigung der Kritik an israelischer Politik überhaupt zu gehen. Den Hintergrund dieser Debatte bildet auf eben diesem deutschem Boden der Antisemitismus in der historischen Konsequenz der Ermordung der europäischen Juden im Nationalsozialismus.

Eine ähnliche Einschätzung wie Warschawski hatte vor rund zwei Jahren auch Moshe Zuckermann auf einer von der Bundeskoordination Internationalismus (BUKO) organisierten Diskussionsveran-staltung zum Nahost-Konflikt geäußert. Eine weitere Eskalation der kaum mehr als Streitkultur zu bezeichnenden, wechselseitig provozierenden Publikumsbeiträge hatte er damit verhindern können – um den Preis betretenen Schweigens. Deutlich wurde daran nicht nur, dass die Form der Auseinandersetzung, wie sie in Deutschland geführt wird, mehr mit den politischen Verhältnissen hierzulande, mit der – allen Walseriaden zum Trotz – gesellschaftlich unabgeschlossenen Frage der Ursa-chen und damit von Verhältnissen, die Auschwitz und den Nationalsozialismus ermöglicht haben, zu tun hat als mit den gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen in Israel, sondern auch, dass letztere in diesen Auseinandersetzungen gar nicht primärer Gegen-stand des Interesses sind.

Soweit zum Erfahrungshintergrund einer Reise, an der neben 13 Gewerkschafts-VertreterInnen aus sieben europäischen Ländern auch das TIE-Bildungswerk e.V., ein internationales Netzwerk ge-werkschaftlicher AktivistInnen, teilnahm, um sich vom 25. April bis 2. Mai vor Ort über ein Thema zu informieren, das zunächst wenig mit den o.g. Problemen zu tun zu haben scheint, wenn nicht nebensächlich erscheinen mag: Wir waren eingeladen, die Arbeitsbedingungen in der Bauindustrie als »Testfall« der allgemeinen Arbeitsmarktsituation und Beschäftigungspolitik in Israel zu unter-suchen. Ziel der Reise und Aufgabe der Delegation war es, einen Bericht über die ökonomischen und gesellschaftspolitischen Entwicklungen, die in diesem Bereich exemplarisch und in besonders zugespitzter Weise zum Ausdruck kommen, zu schreiben, der den Veranstaltern helfen würde, ihre Arbeit vor Ort und im Rahmen internationaler Gewerkschaftsarbeit besser bekannt zu machen. Nicht zuletzt ging es auch um den Erfahrungsaustausch über Probleme der Arbeitsmigration und der Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen sowie die Suche nach Wegen, wie die ArbeiterInnen in diesem Sektor in ihrem Kampf um Rechte und Löhne unterstützt werden könnten.
Initiiert und organisiert hatte die Reise das »Workers Advice Centre« (WAC; arabisch: ma’an). Das WAC unterstützt vor allem diejenigen Gruppierungen bei der gewerkschaftlichen Organisierung, die besonderen Härten und Diskriminierungen auf dem Arbeitsmarkt ausgesetzt sind: arabische ArbeiterInnen in Israel, Arbeitskräfte aus den palästinensischen Gebieten sowie ArbeitsmigrantIn-nen aus anderen Ländern. [1]

An dieser scheinbar sehr speziellen Thematik lassen sich allerdings nicht nur Probleme diskutieren, die über den nationalen Rahmen Israels hinaus für gewerkschaftliche Interessenvertretungen bzw. die Arbeiterbewegung weltweit eine zunehmende Bedeutung erhalten: die verschärfte Konkurrenzsituation, mit der sich Lohnabhängige aufgrund internationalisierter, rassistisch segmentierter und – via Zeitarbeitsfirmen – prekarisierter Arbeitsmärkte konfrontiert sehen. Die Arbeit des WAC eröffnet zudem ein genaueres Verständnis der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse in Israel, die vielfach in der als Auseinandersetzung um Terrorismus, Bedrohung des Existenzrechts Israels und Notwendigkeit zur Selbstverteidigung geführten Debatte verschwinden.

Die Betonung der Bedrohungssituation, in der sich der israelischen Staat als Staat wie auch seine Bürger befinden, scheint, so mein Eindruck vor der Reise, den Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse in Israel wie auch in Palästina überflüssig zu machen.
Dieser Blick ist jedoch notwendiger denn je, da sich jenseits dieser Bedrohungs- und daraus fol-genden Eskalationslogik derzeit wenig zu bewegen scheint: Nach dem Scheitern des unter Leitung von Bill Clinton im Juli 2000 angesetzten Gipfeltreffens zwischen Ehud Barak und Yassir Arafat in Camp David, mit dem der ins Stocken gekommene Oslo-Prozess fortgesetzt und die in den jeweili-gen Einzel-Verträgen des Oslo-Pakets bereits beschlossenen, vorsichtigen Schritte in Richtung »Autonomisierung« der palästinensischen Gebiete und Rückzug der Israelis aus dem Westjordan-land und dem Gazastreifen bekräftigt, umgesetzt und erweitert werden sollten, sowie dem als Pro-vokation angelegten und auch empfundenen Besuch des damaligen Likud-Vorsitzenden und heuti-gen Ministerpräsidenten Ariel Sharon auf dem Tempelberg im September 2000, der eine ganze Welle von gewaltsamen Ausschreitungen und Demonstrationen nach sich zog und als Auslöser der zweiten Intifada galt, riss die Reihe von tödlichen Anschlägen, Attentaten und Bombardements auf beiden Seiten nicht mehr ab. Alle seitdem von unterschiedlichster Seite unternommenen Versuche, eine friedliche Lösung herbei zu führen, sind gescheitert.

Die Bedrohungssituation diente jeweils als zentrales Argument, mit dem Israel die Zustimmung zu diesen Plänen verweigert und die Aufrechterhaltung des Status Quo als notwendige »Selbstvertei-digung« begründet hat. Zu dieser Selbstverteidigung gehörte allerdings nicht nur das Festhalten an den bisherigen Siedlungen in den besetzten Gebieten, sondern auch der expansive Umgang mit der »grünen Grenze«, d.h. der Waffenstillstandslinie von 1967, und die forcierte Siedlungspolitik in den palästinensischen Territorien. Vorläufiger Höhepunkt dieser Logik ist der Bau einer rund 650 Kilometer langen »Sicherheitsbarriere« (dem so genannten »Zaun«, der jedoch zu großen Teilen eher als Mauer errichtet wird), die vielfach jenseits der »grünen Grenze« verlaufen wird. Bei dem mit 3,4 Mrd. Dollar wohl kostenträchtigsten Bauvorhaben, das je in der Geschichte Israels begon-nen wurde, ist kaum davon auszugehen, dass es sich um eine vorübergehende, im Falle erfolgrei-cher Verhandlungen über eine friedliche Zweistaatlichkeit schnell revidierbare Maßnahme handelt.

Zwei Ereignisse kurz vor Beginn der Reise riefen Zweifel wach, ob es in dieser Situation überhaupt sinnvoll sei, nach Israel zu fahren: Nach dem Mord an Sheikh Ahmed Yassin, dem geistlichen Füh-rer der Hamas, durch die israelische Armee schworen Führer der Hamas [2], der Al Aqsa-Brigaden [3] und des Islamischen Dschihad [4] Rache. Zehntausende Palästinenser demonstrierten ihre Trauer, worauf Israel wiederum mit einer totalen (bis zur Fertigstellung dieses Berichts anhal-tenden) Abriegelung der besetzten Gebiete reagierte und weitere »gezielte Tötungen« derjenigen, die für den Terrorismus verantwortlich seien, ankündigte – einschließlich Yassir Arafats. Einen knappen Monat später stellte Ariel Sharon in den USA seinen einseitigen »Trennungsplan« vor, der einen Rückzug Israels aus dem Gaza-Streifen und die Aufgabe der dortigen Siedlungen sowie eini-ger kleinerer Siedlungen in der Westbank vorsah. Zugleich sollten jedoch einige größere Siedlun-gen sowie die für diese Siedlungen notwendige Infrastruktur im Westjordanland ausgebaut werden. Während der Plan in der Weltöffentlichkeit scharf kritisiert wurde, weil er die seit den Oslo-Verträgen nicht mehr in Frage gestellte Verpflichtung zu gemeinsamen Verhandlungen mit den Palästinensern unterlief, erhielt er trotz seines unilateralen Charakters die Unterstützung von George W. Bush. Jenseits seines Inhalts stellte allein die Form einen Affront gegen die politischen Vertretungen der Palästinenser dar, unter denen vor allem diejenigen sich bestärkt sahen, für die die USA nicht als neutrale Vermittler, sondern als ›interessierte Partei‹, wenn nicht ohnehin als Feind galten.

Auf die besorgte Frage einiger DelegationsteilnehmerInnen, ob die Reise angesichts der zu erwar-tenden Eskalation – die tatsächlich jedoch ausblieb – stattfinde, reagierte Roni Ben Efrat, als Vor-standsmitglied des Workers Advice Center und Herausgeberin der Zeitschrift »Challenge« eine der InitiatorInnen der Reise und unsere Gastgeberin, überraschend gelassen: Mit solchen Entwicklun-gen müsse man in Israel rechnen, es bestehe kein Grund, die Reise abzusagen, für unsere Sicherheit sei gesorgt.

Wie sehr für Sicherheit gesorgt wird, wurde schon bei der Einreise klar: Stundenlange Kontrollen und Befragungen am Flughafen von Tel Aviv galten allen, die nicht nachweisbar als Touristen oder aus religiösen Gründen einreisen wollten. Die deutschen Teilnehmer der Delegation – neben mir ein BMW-Betriebsrat und ein Rechtsanwalt, beide Mitglied im Berliner IG Metall-Arbeitskreis Internationalismus – hatten dabei gewisse Mühe, den Zoll- und Sicherheitskräften verständlich zu machen, warum sie eine Konferenz zur Arbeitsmarktsituation in Israel besuchen wollten. Angaben zum Konferenzort, zu den Veranstaltern und zum genauen Programm wurden verlangt, doch das Misstrauen wurde dadurch nicht geringer: Besonderen Verdacht erregten bei der ausgiebigen Lek-türe des umfangreichen Programms Titel von Vorträgen, die sich mit der Lage der arabischen Ar-beitskräfte innerhalb Israels und der Arbeitskräfte aus den besetzten Gebieten auf dem israelischen Arbeitsmarkt befassten. Unsere Versicherung, dass es sich um eine Reise von GewerkschafterInnen handele, die vergleichbare Entwicklungen in Israel und in ihren Ländern studieren wollten, machte die Sache nicht besser, sondern zog die Frage nach sich, was denn eine Gewerkschaft sei. Selbst die Histadrut, der israelische Gewerkschaftsdachverband [5], war den – sehr jungen – Sicherheitskräften kein Begriff und rief ratloses Achselzucken hervor.

Die Ausgewogenheit der Beiträge (und ein Anruf beim Manager des Tagungshotels) schienen schließlich den Ausschlag zu geben, uns ziehen zu lassen. Auf dem Programm standen einerseits die offenbar Verdacht erregenden Gespräche mit arabischen Arbeitern und gewerkschaftlichen Or-ganizern in Dependancen des Workers Advice Centers in Nazareth und Um al-Fahem, auf Baustel-len in Tel Aviv, zu Gast bei ihnen zu Hause in Kufr Quara oder in dem Gemeindezentrum des Flüchtlingslagers Shu’afat bei Jerusalem sowie ein Gespräch mit Vertretern des palästinensischen Gewerkschaftsdachverbands PGFTU (Palestine General Federation of Trade Unions) in Ramallah. Daneben gab es jedoch auch Treffen mit VertreterInnen von Menschenrechtsorganisationen (wie der Hotline for Migrant Workers sowie Kav La’Oved, Workers Hotline); einer Vereinigung von RechtsanwältInnen, die die Knesseth in Fragen der Arbeitsmigration berät (Israeli Bar Association, Legislative Committee on Foreign Labour), Vertretern unabhängiger Forschungsinstitute wie dem Adva Social Research Center, das eine umfangreiche Datenbank und Forschungen zu sozialpoli-tisch relevanten Themen betreibt, sowie Professoren der Universitäten Tel Aviv und Jerusalem, die sich mit Arbeitsmarktentwicklungen und Auswirkungen der Arbeitsmigration befassen, und: Wir sollten Gelegenheit erhalten, uns mit RegierungsvertreterInnen und Mitgliedern des Finanzministe-riums und des Ministeriums für Industrie, Handel und Arbeit über ihre Sicht auf die Probleme zu unterhalten.

Krisensymptomatik – business as usual?

Es war diese Unterschiedlichkeit der Perspektiven, die uns Stück für Stück im Laufe der Woche einen Eindruck von einem Israel vermittelte, das weder noch viel mit den sozialistischen Seiten seiner zionistischen Gründerideen zu tun hat, noch in den von religiösen und politischen Auseinan-dersetzungen geprägten Schlagzeilen aufgeht, die zumindest hierzulande im Vordergrund stehen: Das Bild war geprägt von der tiefen Krise, in der die israelische Ökonomie sich befindet, von den Konsequenzen des brutalen wechselseitigen Verdrängungswettbewerbs, in den die Beschäftigten durch die Arbeitsmarktpolitik der Regierung und die Interessenpolitik der Unternehmensverbände gesetzt sind, und von einem verbreiteten und leicht funktionalisierbaren Rassismus, der die Lebens- und Arbeitsbedingungen in Israel durchzieht. Vieles davon lässt sich vergleichen mit Erfahrungen, die in westlichen Industriegesellschaften während der letzten Jahre mit neoliberalen Programmen gleich welcher Regierungen gemacht wurden, einiges verweist auf spezifische Probleme aufgrund des ungelösten Konflikts zwischen Israel und Palästina.

So vermittelte Yuval Rachlewski, Leiter der Abteilung für Löhne und Beschäftigung im Finanzmi-nisterium, mit seinem Beraterteam zunächst ein vertrautes Bild makroökonomischer Rahmenbedin-gungen und neoliberaler Strategien des Umgangs mit der Krise: Zwischen 1995 und 2003 sei die Arbeitslosigkeit unter den 2,5 Mio. Erwerbsfähigen (bei rund 6,78 Mio. EinwohnerInnen lt. Anga-ben des zentralen Statistikbüros in Jerusalem vom April 2004) von 6,9 auf für israelische Verhält-nisse ungewöhnlich hohe 10,3 Prozent gestiegen, im gleichen Zeitraum sei der Lebensstandard um zehn Prozent gesunken. Rachlewski erklärte dies als kombinierten Effekt »interner« Faktoren, wie der nachlassenden Binnennachfrage, und »externer« Faktoren: Sinkende Wachstumsraten auf dem Weltmarkt, die Krise der US-Ökonomie (noch vor den palästinensischen Territorien der wichtigste Absatzmarkt für Israel) sowie der Zusammenbruch des für Israel extrem wichtigen High Tech- und IT-Markts hätten zu sinkenden Exporten und nachlassendem Wachstum innerhalb Israels geführt. Zu den »externen Schocks« zählte Rachlewski auch den »palästinensischen Terrorismus«, der nicht nur für die Einbrüche in der Tourismusbranche, sondern auch für die nachlassende Investitionsbe-reitschaft nach und in Israel verantwortlich sei.

Die Regierung reagiert, so schilderte das Team weiter, auf die Rezession mit einem rigorosen Spar- und Privatisierungsprogramm. Dies beinhaltet drastische Kürzungen bei den Sozialleistungen (wie die geplante Hochsetzung des Renteneintrittsalters auf zunächst 67 und dann 70 Jahre) und damit eine Abkehr vom Anspruch eines umfassend ausgebauten staatlichen Wohlfahrtssystems, das in Folge zionistischer Ideen seit der Staatsgründung entwickelt worden war, sowie eine generelle Senkung der Staatsquote: Neben der Privatisierung staatlicher Unternehmen soll im Öffentlichen Dienst, der bislang rund ein Drittel aller Erwerbstätigen beschäftigt, massiv Personal abgebaut werden. Zugleich hat die Regierung mit der Histadrut Tarifverträge für den Öffentlichen Dienst abgeschlossen, in denen für die Jahre 2003 bis 2005 Lohnsenkungen um bis zu 4,3 Prozent, ein Verzicht auf die Anpassung der tariflichen Sozialleistungen an den nationalen Inflationsausgleich (COLA; Cost of Living Adjustment) sowie der Verzicht auf verschiedene tarifliche Sozialleistungen wie Urlaubsgeld etc. vereinbart wurden. Ein Maßnahmen-Paket aus Privatisierungen, Outsourcing, Lohnsenkungen, Personalabbau, Flexibilisierung und der Einführung von Hürden im Streikrecht – Israel habe die meisten Streiks weltweit, vor allem im ÖD – soll zu mehr Wachstum und Beschäfti-gung führen, referierte das Team die Hoffnungen von Finanzminister Benjamin Netanyahu. Den Hebel setzt die Regierung dabei zunächst an der »mangelnden Erwerbsneigung« an: »Go to work«, so der Slogan einer breit angelegten Plakataktion, mit der sie die Bevölkerung dazu aufruft, sich nicht in der »sozialen Hängematte« auszuruhen. Für den nötigen Nachdruck hinter dem Appell sorgt das Programm »From welfare to work«.

Die bis hierher bekannte Argumentation hat jedoch einen doppelten Boden. Es sei »irrational«, so Rachlewski, dass bei Arbeitslosenzahlen von rund elf Prozent der Anteil an ArbeitsmigrantInnen seit Anfang der 90er bis 2001 von 30000 auf rund 300000 gestiegen sei. Mit rund 12,5 Prozent der Erwerbstätigen liegt der Prozentsatz ausländischer Beschäftigter noch über dem der Schweiz und mehr als doppelt so hoch wie der Durchschnitt in den westlichen Industrienationen. Während die Regierung heute die Parole »Israeli first« ausgibt und damit die Idee eines nationalen israelischen Arbeitskräftereservoirs (zum Teil ist dabei auch an ausschließlich jüdische Israelis gedacht) ver-folgt, hatte sie in der Vergangenheit weniger Probleme, ausländische Arbeitskräfte, arabische Israelis und selbst Palästinenser zu beschäftigen. Dies lässt sich anhand der Situation in der Bauindustrie, neben dem Pflegebereich und der Landwirtschaft der Sektor, in dem traditionell die meisten arabischen bzw. palästinensischen Arbeitskräfte tätig waren, bevor im Zuge von Anwerbungspro-grammen zunehmend ausländische Arbeitskräfte rekrutiert wurden, verdeutlichen.

Cross border working – and waiting

Bis in die 80er Jahre hinein waren es in der überwiegenden Mehrzahl arabische Israelis und (trotz der Besetzung des Westjordanlandes und des Gaza-Streifens seit 1967 und der damit verbundenen sicherheitspolitischen Vorbehalte in Israel) Arbeitskräfte aus den palästinensischen Territorien, die in der Bauindustrie beschäftigt waren. Der Sektor war gewerkschaftlich gut organisiert, die Pensionsfonds der Beschäftigten die höchsten innerhalb der Histadrut.

Bereits während der ersten Intifada (1987), auf die Israel mit Ausgangssperren und restriktiven Kontrollen entlang der »green line« (eine Grenze im Sinne der Fixierung eines Staatsgebietes gibt es bis heute nicht) reagierte, wurde es zunehmend schwieriger für palästinensische Arbeitskräfte, an ihren Arbeitsplatz zu gelangen. Die Ökonomie innerhalb der besetzten Gebiete, soweit sich diese überhaupt entwickeln konnte, ist weitgehend von Israel abhängig, die Arbeitslosigkeit liegt bei rund 50 Prozent, wie Hussein Fuquaha, Mitglied des geschäftsführenden Vorstandes der PGFTU, uns in Ramallah berichtete [6]. Ein Großteil des Einkommens stammt aus den Löhnen derjenigen, die in Israel einen Job haben. [7] Mit dem Golfkrieg von 1991 wurde die unter Moshe Dayan 1970 durchgesetzte allgemeine Ausreisegenehmigung annulliert und durch ein differenziertes Passsystem ersetzt. Seitdem reagiert Israel zudem mit dem Instrument der totalen Schließung der Grenzen auf »Bedrohungssituationen«. In solchen Zeiten steigt die Arbeitslosigkeit laut Angaben des WAC auf nahezu 65 Prozent. [8] Schon an »normalen« Tagen ist es für die, die überhaupt eine Ausreise- und Arbeitsgenehmigung erhalten (d.h. verheiratete Männer ab einem bestimmten, nicht mehr »sicherheitsrelevanten« Alter, das mal bei 40 Jahren, mal darunter liegt), schwierig, ihren Arbeitsplatz zu erreichen: »fliegende Checkpoints«, die jederzeit eingerichtet werden können, erschweren das oh-nehin langsame Fortkommen auf den maroden Verbindungsstraßen innerhalb der Territorien, endlose Schlangen und stundenlanges Anstehen an den regulären Checkpoints, willkürliches Einbehalten von Papieren etc. führen dazu, dass Termine nicht eingehalten werden oder eine Ausreise schlicht unmöglich ist. Ein geregeltes Arbeitsverhältnis ist unter solchen Bedingungen nicht aufrecht zu erhalten. [9]

Teil II folgt im nächsten express.

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 5/04

Anmerkungen

1) Die Terminologie ist – wie immer – auch eine Frage der Perspektive. Hier wird zunächst der Ansatz des WAC aufgenommen, der nach drei Stufen der Diskriminierung unterscheidet:
1. arabischen Israels mit a) vollen Staatsbürgerschaftsrechten (Bewohner des Staatsgebiets Israels, die dort schon vor bzw. seit der Staatsgründung gelebt haben bzw. leben) bzw. b) (eingeschränkten) Residentschaftsrechten (meist EinwohnerInnen von Flüchtlingslagern innerhalb Israels, die dort in Folge der Kriege seit der Staatsgründung »gelandet« und sesshaft geworden sind),
2. den PalästinenserInnen als BewohnerInnen der seit 1967 besetzten »palästinensischen Gebiete« (Gaza und Westjordanland)
3. den seit Anfang der 90er Jahre angeworbenen ArbeitsmigrantInnen aus Ländern Asiens und Osteuropas.
Diese Unterscheidung birgt, wie leicht nachzuvollziehen ist, nicht nur eine Form der Hierarchisie-rung, sondern auch eine Zusammenziehung verschiedener Kriterien: Staatszugehörigkeit, ethni-sche, geographische, historische und politische Gründe der Selbst- und Fremd-Zuordnung.

2) Die »Islamische Widerstandsbewegung« Hamas wurde 1987 mit Beginn der ersten Intifada von Führern der Moslembruderschaften, darunter Sheikh Ahmed Yassin, gegründet, hat unter den Bedingungen der Intifada ihre Bedeutung als »soziale« Organisation entwickelt und ist mittlerweile die zweitgrößte Organisation in den besetzten Gebieten; vgl. Amira Hass: »Gaza. Tage und Nächte in einem besetzten Land«, München 2003 (übersetzt auf Basis der Ausgabe »Drinking the Sea at Gaza. Days and Nichts in a Land under Siege«, Owl Books, New York 2000), S. 401

3) Die »Al Aqsa-Brigaden« gelten als inoffizieller militärischer Arm der »Tanzim«, die wiederum die so genannte »Basis« von Widerstandskämpfern innerhalb der »Fatah«, der größten Organisation in den besetzten Gebieten, bildet. Die »Tanzim« grenzt sich formell von der 1994 als Ergebnis der Oslo-Verträge eingesetzten Palästinensischen Autonomiebehörde (Palestinian Authority; PA) ab und damit von den Fatah-Widerstandskämpfern, die zwischenzeitlich ins Exil gegangen waren und nun die meisten Funktionen in der PA besetzen. Der Begriff »Tanzim« ist in Folge der Oslo-Verträge entstanden und bezeichnet damit auch eine oppositionelle Haltung zu diesen, insbesondere jedoch zu den beschränkten Autonomierechten der Palästinenser in den Oslo-Abkommen. Die Al Aqsa-Brigaden sind als Konkurrenzprojekt zur Hamas angelegt und haben deren Methode der Selbstmordattentate übernommen. Vgl. für einen aktuellen Überblick über die Widerstandsbewe-gungen in Palästina: »Challenge, A Magazine convering the Israeli-Palestinian Conflict«, No. 84, March/April 2004, S. 5

4) Der »Islamische Heilige Krieg« ist eine von Flüchtlingen in Palästina gegründete Splittergruppe der Moslembruderschaften, die für einen islamischen Staat in ganz Palästina kämpft; vgl. Amira Hass, München 2003, S. 402
5) Siehe zu Histadrut unten mehr.
6) Die PGFTU ist der Dachverband 13 palästinensischer Einzelgewerkschaften, steht der Fatah nahe und unterhält (u.a.) Beziehungen zur Histadrut, zum DGB und zur IG Metall.
7) Die ökonomische Abhängigkeit ist fixiert im Pariser Protokoll, einem Teilvertrag der Oslo-Abkommen. Das Protokoll negiert die Möglichkeit einer von Israel unabhängigen ökonomischen Einheit und damit Entwicklung der besetzten Gebiete – eine Bedingung, die Israel dafür stellte, dass palästinensische Arbeitskräfte weiterhin in Israel arbeiten gehen können.
8) WAC-Working Paper: »The Labor Market in Israel 2004: The Construction Industry as a Test Case«, Mai 2004, S. 11 (eine gekürzte Fassung ist erhältlich unter: www.workersadvicecenter.org)
9) Zur Problematik der Ausreisegenehmigungen und zu den ökonomischen Konsequenzen der Abriegelungspolitik vgl. ausführlich die Kapitel »Die Ausreisegenehmigung von gestern« und »War-ten, bis man vierzig wird« bei Amira Hass, München 2003


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