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Updated: 18.12.2012 15:51
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»Wendet die Flut«

Harte Konfrontation zwischen Regierung und Gewerkschaften / Von Saskia Boumans*

Anfang August erreichte die Beziehung zwischen Regierung und Gewerkschaften in den Niederlan-den einen historischen Tiefpunkt, als der Minister für Soziales ankündigte, die Regierung werde nicht mehr, wie sonst üblich, die Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklären. Zum ersten Mal seit Jahren zogen die drei zentralen Gewerkschaftsverbände an einem Strang, als sie Regierung und Unternehmen gegenüber klarstellten, dass sie nicht bereit seien, einen solchen Angriff auf das Exis-tenzrecht der Gewerkschaftsbewegung hinzunehmen. Was geht vor in dem kleinen, einst so ruhigen Land der Polder, in dem Sozialpartnerschaft groß geschrieben wird? Saskia Boumans Beitrag wurde noch vor dem Termin für die geplante Großdemonstration am 2. Oktober verfasst. Wir dokumentie-ren ergänzend eine knappe Übersicht zu den Aktivitäten im Vorfeld.

Die Geschichte beginnt vor einem Jahr. Die Niederlande hatten gerade eine turbulente Zeit hinter sich. Di-rekt vor der Parlamentswahl war Pim Fortuyn ermordet worden, und nicht einmal ein Jahr später ist die Re-gierungskoalition dermaßen heillos zerstritten, dass neu gewählt werden muss. Als Sieger gehen aus dem Chaos Neoliberale und Christdemokraten hervor. Dieses Tandem konfrontiert die Niederlande mit der größ-ten Sparoffensive ihrer Geschichte: 22,9 Mrd. Euro bis 2007, davon 10,9 Mrd. im Jahr 2004.

»Soziale Vereinbarung«: Zwei Jahre eingefrorene Löhne

Der FNV, sozialdemokratisch orientierter größter Gewerkschaftsverband der Niederlande, reagiert lauwarm: Er lehnt den Umfang des Sparprogramms ab, ohne jedoch seine konkreten Maßnahmen oder den ihm zugrunde liegenden neoliberalen Diskurs in Frage zu stellen. Nach drei Wochen mit Aktionen, die auf niemanden Eindruck machen – nicht einmal auf den FNV selbst –, schlägt der Verband vor, die Löhne für zwei Jahre einzufrieren, wenn im Gegenzug die Sparmaßnahmen an einigen Punkten verschoben oder abgeschwächt werden, vor allem in Bezug auf Renten und Arbeitslosengeld. Der FNV trägt diesen Vorschlag seinen 1,2 Mio. Mitgliedern vor, wobei davon ausgegangen wird, dass zwei Jahre ohne Lohnforderungen nur eingehalten werden, wenn die Verhandlungen des folgenden Frühjahrs zur Einigung mit der Regierung über den vorgezogenen Ruhestand führen. 56 Prozent der 217000 Mitglieder, die von ihrem Stimmrecht Gebrauch machen, stimmen der »sozialen Vereinbarung« unter diesen Voraussetzungen zu. Alles läuft also wie immer: Traditionsbewusst, wie sie ist, hat die Gewerkschaftsbewegung im Herbst die Krallen gezeigt, um sie anschließend wieder einzuziehen und sich mit einigen Kompromissen hier und da zufriedenzugeben.

Blockierte Partnerschaft zwischen Regierung und Gewerkschaften

Die Verhandlungen des Frühjahrs drehen sich wie geplant zentral um eine Neuregelung des Vorruhestands und eines Modells, das mit Arbeitszeitkonten operiert, um den Beschäftigten längere freie Phasen (etwa im Sinne von Sabbaticals) zu ermöglichen. Die Regierung weigert sich aber unter anderem, den obligatorischen kollektiven Charakter des vorgezogenen Ruhestands beizubehalten, und will die steuerliche Bevorzugung von Beitragszahlungen zur Rentenkasse einschränken. Der FNV wehrt sich gegen Letzteres und argumentiert, die Individualisierung der Rentensysteme würde eine untragbare Erhöhung der Beiträge nach sich ziehen und den Abschied vom Solidaritätsprinzip bedeuten.

Darauf folgt eine wahre Kettenreaktion: Die Regierung zieht ältere, noch üblere Pläne wieder aus der Schublade und droht damit, Tarifverträge nicht mehr für allgemeingültig zu erklären. Daraufhin ruft der FNV seine Anhänger zu einem Referendum auf: Sie sollen der Gewerkschaft das Mandat erteilen, die Verhandlungen zu beenden. Nachdem die Mitglieder dies mit 97 Prozent der abgegebenen Stimmen auch tun, erklärt der FNV, er fühle sich nicht mehr an die sechs Monate alte »soziale Vereinbarung« mit der Regierung gebunden. Sofort beginnen einige Mitgliedsgewerkschaften, Lohnforderungen aufzustellen. Die Regierung reagiert, indem sie ihre Drohung wahr macht und das Parlament davon in Kenntnis setzt, dass ab dem 1. November kein Tarifvertrag, der Lohnerhöhungen oder bestimmte andere Leistungsverbesserungen vorsieht, mehr für allgemeinverbindlich erklärt werden soll. Daraufhin gelingt es dem FNV, die beiden anderen, kleineren Gewerkschaftsverbände für einen gemeinsamen Aktionsplan zu gewinnen. Unter dem Slogan »Die Niederlande haben etwas Besseres verdient«, soll es in den darauf folgenden Wochen im ganzen Land Streiks, Aktionen und Arbeitsniederlegungen geben, die in einer nationalen Demonstration in Amsterdam am 2. Oktober gipfeln werden.

»Darf’s auch ein bisschen streitbarer sein?«

Zur Zeit ist noch nicht klar, ob es den Gewerkschaften gelingen wird, das Land stillzulegen. Vor kaum einem Jahr hatte sich der FNV noch selber in eine bemitleidenswerte Situation gebracht. Mehrere Aktionen mussten mangels AktivistInnen abgesagt werden, und die Vorsitzenden des Verbandes sowie der größten Mitgliedsgewerkschaft räumten Enttäuschung über das Mobilisierungsvermögen der Organisation ein.

Allerdings steht diesmal weit mehr auf dem Spiel. Zum ersten Mal seit der Einführung des Gesetzes über Tarifverträge (1938) macht die Regierung von ihrem Interventionsrecht Gebrauch. Und das nicht etwa in einem allgemeinen Sinne, sondern sehr spezifisch im Hinblick auf die Dinge, mit denen sie nicht einverstanden ist. So maßt sie sich (erneut) eine Rolle bei der Verhandlung von Arbeitsbedingungen an, welche seit 1968 primär zwischen Vertretern von Unternehmen und Beschäftigten geführt wurden.

Darüber hinaus muss man wissen, dass die Beziehungen mit der rechten Regierung schon seit ihrem Amtsantritt vor einem Jahr nicht eben herzlich waren. Der nämliche Sozialminister, welcher gerade dabei ist, die guten Beziehungen zu zerstören, war jahrelang Vize des zweiten, christlich orientierten Gewerkschaftsverbandes im Land, des CNV. Derselbe CNV hat eine Stiftungsprofessur von Premierminister Balkenende zwischen 1993 und 2002 finanziell unterstützt.

Vor allem ist aber in der Zwischenzeit die Stimmung in der Bevölkerung umgeschlagen. Als ob die Konsequenzen der Sparpläne erst jetzt durchgedrungen wären: geschlossene Bürgerhäuser, abgesagte Bildungsprogramme, von der Krankenversicherung nicht mehr übernommene Zahnarztkosten, Kostenexplosion bei der heimischen Pflege... Der Regierung fallen dazu keine anderen Vorschläge ein, als die Steuer auf große Vermögen zu senken, gleichzeitig die steuerliche Förderung des Sparens abzuschaffen und Abfindungen ggf. auf das Arbeitslosengeld anzurechnen – und all diese Pläne sollen nun wirklich umgesetzt und nicht – wie in der Vergangenheit – annulliert, verschoben oder stark abgeschwächt werden. All das müssen die Menschen nun ohne begleitende Lohnerhöhung oder auch nur Inflationsausgleich bezahlen, was einen Verlust an Kaufkraft in diesem Jahr nach sich zieht und, wenn es nach der Regierung geht, auch in den folgen-den Jahren.

Das Ergebnis des zweiten FNV-Referendums spiegelt den Meinungsumschwung in der Bevölkerung wider. Trotz geringerer Medienaufmerksamkeit war die Wahlbeteiligung ungleich höher als beim Referendum zur »sozialen Vereinbarung« vom letzten Jahr; das Ergebnis des diesjährigen Referendums von 97 Prozent beeindruckt also auch hinsichtlich der Beteiligung ungleich mehr als das magere 56 Prozent-Ergebnis vom Vorjahr.

Plattform »Keer het Tij«

Bei den Mitgliedern der Plattform »Keer het Tij« (etwa: Wendet die Flut) ist der Stimmungsumschwung bereits angekommen. Zur Plattform, die es sich zum Ziel gesetzt hat, die Regierung aus dem Amt zu jagen, gehören inzwischen 475 Organisationen aus dem Spektrum der sozialen Bewegungen. Das sind 100 mehr als im letzten Jahr. Vor einem Jahr war es der Plattform gelungen, 25000 Leute gegen die Regierungspolitik auf die Straße zu bringen, während der FNV seine Teilnahme verweigerte, weil er immer noch an die »konstruktive Abstimmung« mit der Regierung glaubte. »Keer het Tij« wollte dieses Jahr einige Tage nach der Vorstellung des neuen Haushalts mit den neuen Projekten der Regierung erneut zu einer nationalen Demonstration aufrufen. Obwohl der FNV inzwischen verstanden hatte, dass die Zeiten der »konstruktiven Ab-stimmung« vorbei sind, verweigerte er wieder seine Teilnahme und organisierte lieber für die Woche darauf gemeinsam mit den beiden anderen Gewerkschaftsverbänden seine eigene nationale Demonstration. »Keer het Tij« versuchte darauf noch einmal, den FNV davon zu überzeugen, alle Kräfte zu vereinen, was nun zu dem Ergebnis geführt hat, dass es am 2. Oktober eine große Demonstration der drei Gewerkschaftsverbände geben wird, und vorher eine Demonstration der 475 Organisationen der Plattform mit eigenem Programm und eigener Zugstrecke. Diese werden sich später dem Zug der Gewerkschaften anschließen.

Es ist zwar beklagenswert, dass auch die niederländischen Gewerkschaften noch nicht bereit sind, die sozialen Bewegungen als »natürliche Verbündete« zu begreifen, dass die Aktionen lediglich ein »Vorspiel« für die Tarifvertragsverhandlungen im Frühjahr sein sollen und keine konkreten Forderungen gestellt werden. Trotz allem lässt die Tatsache, dass die Aktionen überhaupt stattfinden, wieder hoffen. Zum ersten Mal seit vielen Jahren bewegt sich überhaupt wieder etwas in der Arbeiterbewegung. Für den 2. Oktober wird mit ca. 100000 DemonstrantInnen gerechnet.

Aktivitäten im Vorfeld des 2. Oktober

20. September: Rund 50000 Gewerkschafter, vor allem Hafen- und Dockarbeiter, beteiligen sich in Rotterdam an der Demonstration gegen die Regierungspläne und treten damit zum Teil auch in Streik.

21. September: Landesweit demonstrieren rund 13000 Menschen anlässlich der traditionell am dritten Dienstag im September stattfindenden Veröffentlichung der Regierungspläne für das jeweils nächste Jahr. Üblicherweise verzichten alle relevanten Gruppierungen, Organisationen und Parteien auf politische Aktivitäten, da die niederländische Königin an diesem Tag ihre Ansprache zur Weltlage im Allgemeinen und der Lage der Niederlande im Besonderen hält.

23. September: Getragen von allen vier Gewerkschaften treten 4500 PolizistInnen in den Streik; seitdem tragen viele PolizistInnen im Dienst einen »Action«-Button.

27. September: In Amsterdam findet ein 24-stündiger, branchenübergreifender Streik statt, der vor allem von Beschäftigten des Öffentlichen Transportwesens getragen wird.

Übersetzung (aus dem Französischen): Anne Scheidhauer

* Saskia Boumans ist Mitarbeiterin von TIE Niederlande in Amsterdam. Der Beitrag wurde ursprünglich für das diesjährige Bulletin International der französischen SUD Rail geschrieben.


Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 9/04


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