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Updated: 18.12.2012 15:51
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Verbrauchtes Vorbild

Vor zehn Jahren stand das holländische „Poldermodell“ dem deutschen „Bündnis für Arbeit“ und der „Agenda 2010“ Pate. Inzwischen gilt es selbst als „Innovationsbremse“ und droht eine Welle neuer „radikaler Reformen“.

Artikel von Waldemar Bolze

Gewerkschaftsforum Hannover: Um die neoliberalen Gegenreformen der letzten zehn Jahre zu rechtfertigen und Bezugspunkte zu schaffen, wurde von den herrschenden Herrschaften immer wieder auf so genannte „Modelle“ zurückgegriffen. Am Anfang stand neben dem „Modell USA“ das niederländische „Poldermodell“. Darauf folgten in immer schnellerer Folge u.a. das „Modell Dänemark“ und das „Modell Großbritannien“ (in Sachen „Workfare“), das „Modell Schweden“ (von der Sozialdemokratie betriebener Sozialabbau), das „Modell Slowakei“ („Flattax“ von nur noch 19%) und zuletzt das „Modell Schweiz“ (das der FAZ kürzlich einen kompletten Leitartikel des Wirtschaftsteils wert war).

Bevor sich das Modell-Karussell wieder dreht und uns ein neues neoliberales Musterland präsentiert wird, lohnt sich ein kurzer Blick auf die weitere Entwicklung der Vorbilder von gestern. Zum Beispiel das berühmte „Poldermodell“ im Nachbarland Holland. Wir freuen uns daher hier die vollständige Originalfassung (7.600 Zeichen) eines entsprechenden Artikels verbreiten zu können, von dem eine gekürzte und redigierte Version in der „jungen Welt“ vom 11.7.2008 erschien.

Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit begehen wir derzeit ein bedeutendes Jubiläum. Vor genau zehn Jahren startete das neoliberale Lager in Deutschland seine entscheidende Offensive, die schließlich in der „Agenda 2010“ und den Hartz-Gesetzen mündete und damit „das Gesicht der Republik“ nachhaltig veränderte. Als Vorbild fungierte dabei das holländische „Poldermodell“. Im Wahljahr 1998 schwärmten von Noch-Kanzler Helmut Kohl über den kurzlebigen Neue Mitte-Mann der SPD, Jost Stollmann, Ex-IG Metall-Vize Walter Riester bis hin zur Grünen Marieluise Beck alle vom „Vorbild Niederlande“, in dem „Soziale Pakte“ den Staat vor dem Bankrott gerettet und die exportabhängige Wirtschaft wiederbelebt hätten. Der angehende Kanzler Gerhard Schroeder verhieß den Deutschen gar „eine neue Art nationaler Gemeinsamkeit“ und „Die Zeit“ resümierte sarkastisch: „Bonner Politiker, so scheint’s, kennen keine Parteien mehr. Sie kennen nur noch Holland.“

Quelle der Inspiration war das im November 1982 zwischen Unternehmerverbänden, Gewerkschaften und Regierung in der Villa des Arbeitgeberchefs Chris van Veen geschlossene „Abkommen von Wassenaar“. Den zentralen Punkt des kargen Papiers bildete ein langfristiger und umfassender Lohnverzicht der Gewerkschaften, die die „Stärkung der Konkurrenzkraft der Unternehmen“ und die „Verbesserung der Ertragslage“ als vorrangig akzeptierten. Als fragwürdige „Gegenleistung“ gab es ein Ja zu flexiblen Arbeitszeiten und den üblichen „Beschäftigungssicherungspakt“. Wesentlicher Protagonist dieser Unterwerfung unter die Kapitalinteressen war der damalige Vorsitzende des Gewerkschaftsbundes FNV und spätere sozialdemokratische Ministerpräsident Wim Kok, der damit für die Einen zum „Verräter“ und für die Anderen zum „Vater des Vaterlandes“ wurde.

Als Regierungschef setzte er Anfang der 90er Jahre – Massenprotesten zum Trotz – den Sozialabbau vorübergehend auch „unilateral“ um, kürzte das Arbeitslosengeld und entmachtete die „reformunfähigen Sozialpartner“ bei der Verwaltung der Sozialversicherung. Erneut gaben die Gewerkschaftsbünde FNV, CNV und MHP klein bei und fügten sich 1993 in der Konzertierten Aktion dem „neuen Kurs“, der noch niedrigere Reallöhne und geringere Sozialabgaben für die Kapitalisten brachte, die durch eine kleine Senkung der Lohnsteuer etwas „versüßt“ wurde. Es dauerte zwei Jahre ehe das zu höherem Wachstum und mehr Jobs führte. Später folgten die Liberalisierung des Post-, Kommunikations- und Transportsektors, der radikale „Umbau“ des Gesundheitssystems und die weitere „Flexibilisierung des Arbeitsmarktes“ mit einem rekordverdächtigen Anteil an Teilzeitjobbern (44%) und befristet Beschäftigten. Der Anteil der Teilzeit arbeitenden Niederländerinnen liegt bei 74,9%, in Deutschland sind es 46,2%. Die Zeche bezahlten Rentner, Sozialhilfeempfänger und die Masse der prekär Beschäftigten. Der deutsch-niederländische Ökonomieprofessor Alfred Kleinknecht brachte das viel gepriesene „Jobwunder“ auf den Punkt. Ein typischer „neuer Job“ sei der beliebte „Honden-Uitlaat-Service“, das heißt das Ausführen von Hunden in den Villenvierteln der Besserverdiener.

Kleinknecht zufolge hat sich die Billiglohnpolitik sogar als Standortnachteil erwiesen. Niedrige Löhne hielten seit 20 Jahren den Rationalisierungsdruck relativ niedrig, was zu geringerer technologischer Innovation führe und die fachlichen Anforderungen an die Beschäftigten reduziere. Das spiegele sich einerseits im Lohnniveau wider und führe andererseits zu einem Mangel an qualifiziertem Personal. Ein Großteil der Vollzeitbeschäftigten bezieht nur den gesetzlichen Mindestlohn. Der beträgt seit 1. Juli 2007 für alle, die älter als 23 sind und in Vollzeit arbeiten, 1.317 € brutto pro Monat. Arbeitnehmer zwischen 15 und 22 Jahren erhalten zwischen 30 und 85 Prozent des Mindestlohns. Einen „massiven Arbeitskräftemangel“ beklagen inzwischen auch zahlreiche Bau- und Industrieunternehmen. Anfang 2007 gab jeder zehnte Herstellerbetrieb an, der Arbeitskräftemangel hemme das Produktionswachstum. Dabei fehle es insbesondere an Fachkräften und „ausländischen Talenten“. Insgesamt soll die Zahl der offenen Stellen inzwischen auf 250.000 angewachsen sein. Zum „Jobwunder Holland“ gehört auch die Tatsache, dass viele Erwerbslose in der Vergangenheit für arbeitsunfähig erklärt und frühverrentet wurden. Die Zahl der sog. „Invalidenrentner“ beträgt nicht weniger als 15% der erwerbsfähigen Bevölkerung. Nur so kommt die niedrige Arbeitslosenquote von derzeit 2,9% zustande.

Die in Den Haag regierende Große Koalition aus Christlich Demokratischem Appell (CDA), der sozialdemokratischen Partei der Arbeit (PvdA) und der kleinen Christen-Union (CU) hat daher eine Kommission unter dem Vorsitz des Vorstandschefs des Postkonzerns TNT, Peter Bakker eingesetzt, die in ihrem Abschlussbericht Mitte Juni 43 Vorschläge für neue „radikale Reformen“ präsentierte. Unter anderem empfiehlt sie – offenkundig in Anlehnung an Hartz IV – die Arbeitslosenunterstützung statt der heute 38 Monate nur noch maximal 12 bis 18 Monate zu zahlen. Auch die Höhe des Arbeitslosengeldes solle schrittweise auf das Niveau der Sozialhilfe gesenkt werden. Weiter sollen die Abfindungen künftig nur noch einen Bruchteil betragen und die Beschäftigten während ihrer Arbeit dazu gezwungen werden, Geld anzusparen, das später für Umschulungen verwendet werden kann. Das Rentenalter soll ab 2016 jährlich um einen Monat heraufgesetzt werden und ab 2040 bei 67 Jahren liegen. Nach 1946 geborene Rentner sollen nicht nur Einkommenssteuer, sondern auch Rentenbeiträge zahlen. Mit diesen Maßnahmen, zu denen selbstverständlich auch verschärfte Sanktionen gehören, sollen bis zu 400.000 Menschen „aktiviert“ werden. Alle drei Regierungsparteien begrüßten die Vorschläge. Nicht umsonst trägt das Programm der Regierung Balkenende IV den Titel: "Das Bittere 2009 und das Süße 2010". Wobei die Sozialdemokraten den vorübergehenden Verzicht auf eine weitere Lockerung des Kündigungsschutzes bereits als großen Erfolg feierten.

Von Umverteilung wollen die in der „Neuen Mitte“ angekommenen Vertreter der PvdA nichts wissen, obwohl nicht nur der Abteilungsleiter des staatlichen Zentralen Planungsbüros (CPB), Wim Suyker, „die Rentabilität niederländischer Unternehmen“ als „Pluspunkt im internationalen Vergleich“ verbucht. Der Außenhandelsüberschuss stieg in den ersten elf Monaten des vergangenen Jahres auf 37,7 Milliarden Euro und der Staatshaushalt wird 2008 im dritten Jahr hintereinander einen deutlichen Überschuss ausweisen. Diesmal von 1,4% des Bruttoinlandsproduktes.

Ob die niederländischen Gewerkschaften gegen die Pläne der Bakker-Kommission ernsthaften Widerstand leisten werden, ist sehr zu bezweifeln. Zwar ist der Organisationsgrad mit 27% besser als in vielen anderen Ländern und übt man sich gegenwärtig kräftig im „Organizing“, doch ist insbesondere die sozialdemokratische FNV, die 1,2 der insgesamt 1,9 Millionen Gewerkschaftsmitglieder vereint, in den letzten Jahrzehnten zu einen Garanten des „sozialen Friedens“ mutiert, wie auch die Streikquote zeigt: 1996 und 2005 (neuere Zahlen liegen noch nicht vor) fielen je Tausend Beschäftigte in Holland durchschnittlich nur noch 7,8 Arbeitstage durch Streiks aus. Zum Vergleich: in Frankreich waren es 71,5 Tage, in Österreich 40,5 und selbst im Großbritannien der Thatcher-Gesetze immer noch 23,6.

Vorbemerkung: Gewerkschaftsforum Hannover

Kontakt: gewerkschaftsforum-H@web.de


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