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Updated: 18.12.2012 15:51
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"Die spontane Kritik siehst Du in der Kontinuität der klandestinen Migration"

Angel Lazaro Moreda, Aktivist der Elektrizitätsgewerkschaft SME aus Ciudad de Mexico, ist 43 Jahre alt und in der Hauptstadt geboren, seit mehr als 20 aktiver Gewerkschafter, der alle Tiefen der mexikanischen Gewerkschaftsbewegung mitgemacht hat. Was er über den Zustand und die Chancen des Landes, der Bevölkerung und der Gewerkschaftsbewegung, über ihre "Beziehung" zu den rund 30 Millionen ArbeiterInnen des informellen Sektors, sagt, war Ergebnis eines Gesprächs mit Helmut Weiss in Porto Alegre Ende Januar 2005.

Wie beurteilst Du, bzw Deine Gewerkschaft die wirtschaftliche Entwicklung Mexikos in den letzten Jahren?

Nun - es gibt oft genug unterschiedliche Ansichten zwischen mir und meiner Gewerkschaft, in diesem Falle nicht. Was in den ersten Jahren des 21.Jahrhunderts passiert ist, ist genau das, was beim grossen Bruder im Norden "jobless growth" heisst, also ein sogenanntes Wirtschaftswachstum, ohne dass neue Arbeitsplätze entstehen. Was zum Einen zeigt, dass dieses Goldene Kalb des Kapitalismus (und auch mancher Sozialisten), das da Wirtschaftswachstum heisst, schon an sich nichts positives ist - zumindest nicht mehr, ich wage jetzt nicht zu beurteilen, ob es mal so war. Was zum Anderen aber auch deutlich macht, dass die vielbeschworenen Auslandsinvestitionen, deren Anwerbung Hauptziel konservativer Wirtschaftspolitik ist, nichts nutzen - denn sie waren ja recht reichlich geflossen.

Mexiko gehörte lange Jahre immer - oder immer wieder - zu den Ländern, die weltweit die meisten Auslandsinvestitionen registrierten, im letzten Jahr nicht, der Umfang ging deutlich zurück, was glaubst Du warum?

Gut, das - denke ich - liegt auf der Hand, beziehungsweise wurde auch in den Medien offen gehandelt: Präsident Fox gelingt es nicht, den Privatisierungsprozess so voranzutreiben, wie diese potentiellen Investoren es wünschen würden - wie es "nötig" sei, schreibt die Lügenpresse - weder die Stromwirtschaft noch die Ölbranche sind dort, wo diese Interessen des Kapitals sie haben wollen, einmal, das sage ich ohne alle Bescheidenheit, wegen des Widerstands unserer Gewerkschaft, die - und das ist heute in Mexico leider oft schon eine Besonderheit - durchaus in der Lage ist, zu mobilisieren, zum anderen wegen der Volksstimmung bezüglich des Erdöls. Und auch sein Arbeitsgesetz kommt nicht so voran, wie das von Unternehmen und Schreibtischtätern bei Weltbank und FMI gewünscht wird.

Man liest jetzt, die Erwerbslosenquote habe sich faktisch verdoppelt, trotz einiger Prozent jährlichen Wirtschaftswachstums in den letzten Jahren. Ist das auch die weitere Perspektive?

Mit Verlaub: Das ist grosser Quatsch, blosse Propaganda. Wenn wir die offiziellen rund 4 Prozent Erwerbslosen hätten, würden sich viele wohl im Himmelreich vorkommen. Schau, wir haben über 100 Millionen MexikanerInnen, und es wird geschätzt, dass fast 45 Millionen davon ArbeiterInnen sind. Diese "offiziellen Zahlen" beziehen sich in der Regel auf ein Drittel dieser Menschen, denn je wie man die Kriterien anlegen mag - was aber zweitrangig ist - sind zwei Drittel im sogenannten informellen Sektor oder prekär beschäftigt tätig. Man kann sagen, dass 25 Millionen Menschen mal arbeiten mal nicht, auf verschiedene Weise Teilzeitbeschäftigt sind, keine Sozialversicherung haben etc pp, das alles taucht in diesen Statistiken nicht auf, das ist aber das Leben der Menschen, denen es egal ist, ob sie in der Statistik erfasst sind oder nicht, die nur menschenwürdig leben wollen, was ihnen dieses kapitalistische System auf immer verwehrt. Dass so viele ausserhalb stehen - heutezutage nennt man das in Lateinamerika "marginalisiert" - hat auch dazu beigetragen, im letzten Jahr die sogenannte Reform der Sozialversicherung zu erleichtern - die ungefähr so aussieht, wie die, die die brasilianische Regierung gemacht hat und, soweit ich weiss auch euere deutsche Regierung - nicht zuletzt die Erhöhung des Renten-Eintrittalters.

Wo stehen denn diese Menschen in der Auseinandersetzung um die Struktur der Gesellschaft?

Nun, das ist in Mexico nicht viel anders, als in anderen lateinamerikanischen Ländern, aber auch in Europa - zumindest werdet ihr das noch sehen, falls es noch nicht soweit ist. Von den politischen Parteien erwarten sie weitgehend gar nichts, wählen höchstens den, der ihnen kleine aber unmittelbare Vorteile verschafft. Die Gewerkschaften sind nach wie vor, durch die lange Geschichte von Korruption, Machtbestandteil und reaktionärem Gehabe, stark in Verruf und haben ausserdem, wie überall, seitdem 1980 sozusagen der Neoliberalismus in Mexico Einzug hielt, auch aus strukturellen Gründen verloren - so begierig, mit der PRI mitzugestalten, dass sie sogar ihren eigenen Untergang mitgestalten, weil sie wirklich überflüssig werden. Ihre spontane Kritik an den kapitalistischen Bedingungen siehst Du an der Kontinuität der klandestinen Migration in die USA, wogegen auch keine Mauern helfen, gegen die Euere in Berlin ein Witz war. Das kann natürlich niemand zählen - aber in den USA wird geschätzt, dass es beinahe 10 Millionen "Illegale" gibt, und mehr als die Hälfte von ihnen sind wohl MexikanerInnen - es gehen rund eine halbe Million, Jahr für Jahr, eine echte Fussabstimmung.

Wird das denn in der Gesellschaft diskutiert?

Nun ja, wenn mal wieder MexikanerInnen auf dem Altar der Wall Street geopfert werden, dann schon, aber ansonsten wird heute eher über die Migration, die aus Zentralamerika hierher kommt gerade - und das, wie überall, unter dem Aspekt "Kriminalität". Wo früher über soziale Fragen gesprochen, gestritten wurde, da geschieht dies heute über "Sicherheit" und das in einem System, das den Tod produziert und täglich Menschen dafür bezahlen muss, dass sie den Anderen sagen, diese Toten seien ein Zufall, ein Unfall, eine Verantwortung Einzelner - nur ja nicht des Systems.

Trifft das auch die Wahlchancen der PRD?

Ja, zumindest wird das versucht, indem jede Menge Kampagnen organisiert werden, die zeigen sollen, dass Mexiko-Stadt - eben wegen der PRD-Stadtregierung - ein besonders kriminelles Pflaster sei. Denn die meisten ihrer WählerInnen haben gemerkt, dass die PÖAN des heutigen Präsidenten nun wahrlich keine Alternative zum Moloch PRI ist, der zwei Generationen lang, nicht zuletzt auch mit grosser Hilfe seiner Gewerkschaften, das Land nicht etwa regiert, sondern ausgesaugt hat - die Hälfte aller lateinamerikanischen Milliardäre sind MexikanerInnen.

Nun ist man fast schon daran gewöhnt, die mexikanischen Gewerkschaften als in der Krise und schwach zu beurteilen - und zwar nicht nur die traditionellen CTM und CT, sondern auch die neueren versuche, echte Gewerkschaften zu organisieren. Wie siehst Du das - gerade auch im Verhältnis zu den politischen Parteien und sozialen Bewegungen?

Kompliziert sehe ich das. Der Organisationsgrad ist in den letzten etwa 20 Jahren von 30 auf 20 Prozent gefallen. Jetzt kann man das nicht umstandslos als "Wert an sich" nehmen, denke ich - denn es gibt auch viele gute Gründe, viele Gewerkschaften zu verlassen. Wir von der SMTE jedenfalls haben als oberstes Prinzip parteipolitische Unabhängigkeit - wirkliche, meine ich, nicht nur auf dem Papier, auch etwa gegenüber der PRD, und was ich gerade hier in Brasilien sehe, wie die CUT Probleme mit ihrer PT Bindung hat, das bestärkt mich darin. Aber ja, auch die "Neugründungen", Abspaltungen, was auch immer von alten Verbänden haben nicht nur strukturelle Probleme, auch politische, auch die Linken. Auch da ist wenig Arbeit im informellen oder prekären Bereich, und ohne das geht bald gar nichts mehr. Stellt sich für unsere Gewerkschaft im Moment noch nicht so aktuell, aber da bin ich durchaus der Meinung, brauchen auch wir, nicht nur für die Zukunft, dringend Korrekturen.

Es hat sich in den letzten Jahren aber wieder einiges getan - die beiden sozusagen progressiven Gewerkschaftskoordinationen, die UNT - die, ich hoffe ich beleidige niemanden, eher sozialdemokratisch orientiert ist, allerdings ein Typ von Sozialdemokratie, der im aussterben begriffen ist und auch nicht wiederbelebt werden kann - und unsere FSM, die mit unseren Zutun entstanden ist, ein antikapitalistisches Programm hat - aber dennoch im CT verblieben ist, frag ausgerechnet mich nicht warum, ich war dagegen - und auch soziale Bewegungen umfasst, haben sich deutlich angenähert und auch eine gemeinsame Front mit Bauernorganisationen hergestellt. Das hat schon zu einer gewissen Revitalisierung geführt, während auch der anderen Seite zwei Drittel der Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes Ende 2004 die CT verlassen haben, allerdings nicht in unsere Richtung. Also ganz so hoffnungslos ist es nicht, wie manche das immer noch sehen - jedenfalls deutlich besser, als es zwischendurch, sagen wir um die Jahrtausendwende war. Eine wichtige Rolle als Klammer zwischen den beiden Koordinationen spielt nach wie vor die Frente Autentico del Trabajo, die auch in Bereichen organisiert, die der mexikanischen Gewerkschaftsbewegung ziemlich neu sind, mit Stadtteilbüros etc.

Wie siehst Du also die Perspektiven?

Nun, aus dem gesagten geht ja hervor: keineswegs rosarot, aber ich war schon mal pessimistischer. sowohl, was die Wiedererstarkung alternativer Ansätze in der Gewerkschaftsbewegung betrifft, als auch was die Kraft der Menschen zum Widerstand gegen Privatisierung betrifft. Auf der anderen Seite - diese Frage können wir in einem Gespräch nicht auch noch erledigen, schon das hier waren Ansätze für mindestens drei Gespräche - aber wir haben auch Keime einer rechten "Recht und Ordnung" Bewegung, die man unbedingt beachten - und bekämpfen muss.

Nun ich denke, das wird auch nicht das letzte Gespräch bleiben - ich würde auch gerne mal über die Zapatisten mit dir und deinen Strömungsgenossen reden...

Jederzeit und gerne.


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