Home >Internationales > Israel > arbeit > rosso1
Updated: 18.12.2012 15:51
Aktuelle Meldungen im neuen LabourNet Germany

Aufruhr an Israels Schulen

Oberstufenlehrer drohen mit langem Lohnstreik. Arabische Gemeinden organisieren Boykott gegen Unterversorgung.

Von Rosso Vincenzo*

Berichte und Analysen über die soziale Situation und die gewerkschaftlichen Kämpfe in Israel sind hierzulande eher selten. Auf der Basis dieses Nichtwissens (und bei manchen: Nicht-wissen-wollens!) gedeihen u.a. die antideutschen Wahnideen von „Israel als halbem Weg zum Kommunismus“. Der folgende Artikel beschäftigt sich mit dem Bildungsnotstand in Israel und dem sich abzeichnenden großen Lehrerstreik. Eine aus Platzgründen gekürzte Fassung erschien in der „jungen Welt“ vom 11.9.2007. Hier nun der komplette Text:

Der Beginn des neuen Schuljahres wird in Israel von einer Protestwelle gegen die unhaltbaren Zustände im Bildungssystem begleitet. Die Vereinigung der Sekundarschullehrer droht mit „monatelangen“ Streiks. Parallel dazu boykottierten die infrastrukturell massiv benachteiligten arabischen Gemeinden die ersten drei Schultage, um den Bau neuer Schulen sowie die Renovierung und bessere Ausstattung der alten Gebäude durchzusetzen.

Seit Dezember letzten Jahres verhandeln Israels Sekundarschullehrer über Lohnerhöhungen, ein Bemessungssystem für den Inflationsausgleich, Zusatzvergütungen für die Arbeit mit behinderten Schülern und bessere Möglichkeiten der Frühverrentung. Bislang ohne Erfolg. Das israelische Finanzministerium setzt, wie bereits in der Vergangenheit, auf eine Verschleppungstaktik. Nach Gesprächen mit dem zuständigen Abteilungsleiter im Ministerium, Eli Cohen, erklärte der Chef der Lehrergewerkschaft Ran Erez am 30.August: „Das Finanzministerium will zunächst mehrmonatige Verhandlungen über eine Reform des weiterführenden Bildungssystems abhalten und erst dann Gespräche über Gehaltserhöhungen beginnen, wenn diese scheitern. Dies bedeutet eine weitere Verzögerung der Gehaltserhöhungen. Wir haben nicht die Absicht uns an diesen sinnlosen Diskussionen zu beteiligen.“

Dass die Zustände in Israels Schulen und Kindergärten unhaltbar sind, steht außer Frage. Ein Vollzeit arbeitender Geschichtslehrer mit Doktortitel und sechsjähriger Berufserfahrung an einer Oberschule kommt monatlich auf gerade mal 4.700 Schekel (umgerechnet rund 840 Euro) netto. Selbst Oberschullehrer mit 15 und mehr Berufsjahren verdienen im Schnitt mit 4.900 Schekel (knapp 900 Euro) nur geringfügig mehr. Unter den Akademikern sind sie die finanziell prekärste Berufsgruppe. In der Rangliste der Bruttoverdienste liegen sie an letzter Stelle. So verdient ein israelischer Arzt im Durchschnitt 3.340 Euro, ein Ingenieur 2.336 Euro, ein Sozialarbeiter 1.830 € und ein Lehrer 1.280 € vor Steuern und Abgaben. Obendrein sind die Lehrerbezüge, laut Gewerkschaftsangaben, in den letzten 11 Jahren nicht gestiegen, sondern infolge der Inflation um 18,4% gesunken. Nicht wenige Lehrer müssen daher ihr Einkommen durch staatliche Sozialhilfe aufstocken.

Um dies zu ändern, haben die Lehrergewerkschaften bereits im letzten Schuljahr immer wieder in wechselnden Konstellationen gestreikt, wobei der Schulbetrieb punktuell oder regional lahm gelegt wurde. Von der Regierung und dem Verband der Kommunalbehörden angerufen, entschied das Nationale Arbeitsgericht Ende August, ein Streik in der ersten Schulwoche sei „exzessiv“. Am 6.September will das Gericht erneut zusammentreten, um zu entscheiden, ob ein Streik in der Folgezeit legal ist. Gerichtliche Verbote von Streiks insbesondere im Öffentlichen Dienst sind in Israel an der Tagesordnung. In seiner einstweiligen Anordnung betonte der National Labor Court dieses Mal allerdings: „Es ist wichtig zwischen dem Streikrecht (…) und der Art des Streiks zu unterscheiden, den sie <die Gewerkschaft> plant“. Gegen Streiks an sich sei nichts einzuwenden. Auch hinter den Kulissen hatten die Richter offenbar durchblicken lassen, dass ein generelles Verbot dieses Mal nicht zu erwarten sei. Um einer formellen Niederlage zu entgehen, bestanden die Staatsvertreter in der zweiten Anhörung am 6.September nicht mehr auf einer Ausdehnung des Streikverbots. Entsprechend beließ es das Gericht bei der unverbindlichen Empfehlung, doch den Verhandlungsweg zu beschreiten.

Bereits im Vorfeld hatte Gewerkschaftschef Ran Erez, unterstützt von der linken und linksliberalen Öffentlichkeit, bei einem weiteren Verbot von Arbeitsniederlegungen mit wilden Streiks gedroht und eine Protestkundgebung vor dem Gerichtsgebäude organisiert. Am 7.September gab es einen „Warnstreik“ in den Jahrgängen 7 bis 12. Sofern die Regierung nicht einlenkt, sollen ab Ende September flächendeckende Streiks folgen. Notfalls auch „monatelang“. Die Große Koalition aus Kadima, Arbeitspartei und der rechtsradikalen Vaterlandspartei von Avigdor Lieberman versucht unterdessen den auf ihr lastenden Druck durch das bewährte Prinzip des „Teile und Herrsche“ zu reduzieren. In einem Separatabkommen mit der Gewerkschaft der Grundschullehrer gestand sie diesen Lohnerhöhungen in noch unbekannter Höhe zu. Der Inhalt dieses Abkommens soll erst in einigen Tagen bekannt gegeben werden.

Währenddessen organisierten die arabischen Gemeinden und das Higher Arab Monitoring Committee einen dreitägigen Schulboykott, um gegen die bildungsmäßige Unterversorgung zu protestieren. So weigert sich die Regierung in Tel Aviv hartnäckig in den arabischen Kommunen weiterführende Schulen zu bauen, was die palästinensischen Oberschüler in Israel täglich zu langen und teuren Pendelfahrten in jüdische Nachbarorte zwingt. Auf diesen Protest reagierte die Große Koalition in gewohnter Weise. Wortgewaltig wurde die Bereitstellung von 50 Millionen Schekel im kommenden Jahr verkündet. Bei näherem Hinsehen ist das kaum mehr als ein Almosen, denn bereits im Schnitt der letzten sieben Jahre belief sich der Etat für die schulische Infrastruktur der palästinensischen Gemeinden auf 40 Millionen Schekel, (d.h. 6,6 Millionen Euro) pro Jahr. 2008 soll es also knapp 1,7 Millionen € zusätzlich geben. Bezogen auf 22% der Bevölkerung (so hoch ist der Anteil der Araber) nicht eben viel.

Geld für eine deutliche Erhöhung der Bildungsinvestitionen wäre durchaus vorhanden. Die israelische Wirtschaft erlebt seit Jahren einen außerordentlichen Boom. Das Wachstum liegt gegenwärtig bei knapp 8%. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf erhöhte sich zwischen 2004 und 2006 um 12,4%. Die Produktionskapazitäten stoßen in vielen Bereichen an ihre Grenzen. Das führt an der Börse in Tel Aviv zu einer Hausse, deren Ende nicht abzusehen ist. Binnen Jahresfrist ist der TA-100-Index von 800 auf 1.150 Punkte geklettert. Obendrein wies die FAZ am 24.7.2007 darauf hin, dass „sich der israelische Aktienmarkt bisher immun zeigt gegenüber den immer wieder auftretenden ungünstigen politischen Einflüssen. Diese Eigenschaft zeichnet ihn schon seit Jahren aus.“

Dass es im Bildungssektor dennoch an Geld mangelt, hat im Wesentlichen drei Gründe: Zum einen die neoliberale Politik der letzten Jahre, im Zuge derer der Staatsanteil am Bruttoinlandsprodukt allein zwischen 2004 und 2006 von 40,8% auf 37,3% sank und die Nettoneuverschuldung auf 0,9% im Jahr 2006 gesenkt wurde. Zum anderen verschlingt der Rüstungsetat immense Mittel. Und was übrig bleibt, verschwindet nicht selten in den unüberschaubaren Verästelungen und korrupten Strukturen der Bürokratie mit ihrem Wust an doppelten und dreifachen Kommissionen, Ausschüssen und Sonderabteilungen.

Vorbemerkung: Rosso

Der Name Rosso steht für ein Mitglied des Gewerkschaftsforums Hannover und der ehemaligen Antifa-AG der Uni Hannover, die sich nach mehr als 17jähriger Arbeit Ende Oktober 2006 aufgelöst hat (siehe: http://www.freewebtown.com/antifauni/ externer Link Rubrik „Aktuelles“).

Hinweise, Kritik, Lob oder Anfragen per Mail an: negroamaro@mymail.ch


Home | Impressum | Über uns | Kontakt | Fördermitgliedschaft | Newsletter | Volltextsuche
Branchennachrichten | Diskussion | Internationales | Solidarität gefragt!
Termine und Veranstaltungen | Kriege | Galerie | Kooperationspartner
AK Internationalismus IG Metall Berlin | express | Initiative zur Vernetzung der Gewerkschaftslinken
zum Seitenanfang