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Updated: 18.12.2012 16:07
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Streik gegen Postprivatisierung - die Telecom ist es schon: Und muss sich einer Selbstmordwelle stellen

"Die Verzweiflungstat von Yonnel Dervin ist kein Einzelfall, vielmehr sind die Selbstmorde bei der französischen Telekom seit der vergangenen Woche eine regelrechte Staatsaffäre. Auch wenn das Unternehmen seit 2004 privatisiert ist, sah sich die Regierung gezwungen, sich einzuschalten, da das Phänomen ungekannte Ausmaße angenommen hat" - so ein Kernsatz aus dem Artikel "Die früheren öffentlichen Dienste Post und Telekom im Auge des Taifuns : La Poste streikt ab heute gegen ihre Privatisierung. Bei der französischen Telekom sorgt sich die Öffentlichkeit um eine « Selbstmord-Epidemie »" von Bernard Schmid vom 22. September 2009.

Die früheren öffentlichen Dienste Post und Telekom im Auge des Taifuns : La Poste streikt ab heute gegen ihre Privatisierung. Bei der französischen Telekom sorgt sich die Öffentlichkeit um eine « Selbstmord-Epidemie »

Die französische Post (La Poste) und Telekom (France Télécom) bildeten bis in die frühen 1990er Jahre hinein noch eine Einheit, unter dem Dach der gemeinsamen Administration PTT: ,Poste, télégraphes, télécommunications'. Unter einer sozialdemokratisch geführten "Linkis"regierung wurden sie Anfang der 90er Jahre auseinandergepflückt. Im Falle der französischen Telekom beschloss eine andere Linksregierung, jene unter Premierminister Lionel Jospin - nur einen Monat nach seinem Amtsantritt und unter flagrantem Bruch eines seiner hauptsächlichen Wahlversprechen -, entgegen vorheriger Zusagen im Wahlkampf die Privatisierung dennoch einzuleiten.

Im Juli 2009 fällte die rechte Regierung unter Präsident Nicolas Sarkozy und Premierminister François Fillon den Grundsatzbeschluss, auch die französische Post in eine Aktiengesellschaft umzuwandeln. Der Kapitalanteile sollen zunächst in den Händen des Staates verbleiben, doch alsbald würden sie absehbar für das Hereinströmen von Privatkapital geöffnet werden. Dagegen, aber auch gegen die schlechten Arbeits- und Servicebedingungen - etwa lange Warteschlangen, die das Publikum nerven (und heute einen Teil sogar herbeiwünschen lassen, "dass der Laden endlich privatisiert wird", ein gravierender Irrtum freilich) - findet heute ein nationaler Streik- und Aktionstag bei La Poste statt. In Paris begann bereits gestern ein unbefristeter Streik der Postbediensteten. Darauf werden wir in allernächster Bälde noch ausführlich zurückkommen. Doch nutzen wir die Gunst der Stunde, da man allerorten derzeit auch von Arbeitsbedingungen - die Lohnabhängige in den Selbstmord treiben - bei France Télécom spricht, einen Blick hinter die Kulissen eines bereits privatisierten Unternehmens und Ex-öffentlichen Dienstes zu werfen.

« Suizidepidemie » bei der französischen Telekom

Es passiert mitten in der Besprechung: "Ich habe die Schnauze voll! Die Schnauze voll von Euren Dummheiten!" rief der Mitarbeiter seinen Vorgesetzten zu - und rammte sich selbst ein Messer in die Brust. Er überlebte, mit erheblichen Verletzungen. Nach einer knappen Woche im Krankenhaus wurde er Anfang vergangener Woche entlassen.

Diese Szenen stammen nicht aus einem Samuraifilm mit Harakiri-Effekten, sondern aus der alltäglichen Realität. Yonnel Dervin heißt der 49jährige Techniker der französischen Telekom, der sich selbst am 09. September im ostfranzösischen Troyes diese Stichverletzungen zufügte. Er äußerte sich im Nachhinein gegenüber der französischen Presse: Er habe seinen Akt zuvor geplant, erklärte er dort vergangene Woche, aber er bedauere ihn nicht, "auch wenn der Körper verletzt ist". Er habe es nicht mehr ausgehalten, dass man ihm in Besprechungen offen erklärt habe, dass er - mit seinem beruflichen Können - einfach "zu nichts mehr nütze" sei. Seine Abteilung sollte zudem aufgelöst werden, um die abhängig Beschäftigten anderswo "rentabler" einzusetzen. Die Lohnabhängigen hatten davon im Juli erfahren, nachdem der Beschluss längst unverrückbar gefällt war und das Comité d'entreprise (ungefähre Entsprechung zum deutschen Betriebsrat) bereits zugestimmt hatte. (Vgl. Meldung externer Link)

Die Verzweiflungstat von Yonnel Dervin ist kein Einzelfall, vielmehr sind die Selbstmorde bei der französischen Telekom seit der vergangenen Woche eine regelrechte Staatsaffäre. Auch wenn das Unternehmen seit 2004 privatisiert ist, sah sich die Regierung gezwungen, sich einzuschalten, da das Phänomen ungekannte Ausmaße angenommen hat. Nachdem am Montag, den 14. September eine leitende Angestellte von France Télécom in Metz (vgl. Meldung externer Link) ihrerseits Selbstmord am Arbeitsplatz zu nehmen versuchte - sie nahm in der Mittagspause eine starke Überdosis Schlaftabletten ein -, empfing Arbeits- und Sozialminister Xavier Darcos am folgenden Tag den Generaldirektor des Unternehmens von 100.000 Beschäftigten.

Didier Lombard musste dem Minister versprechen, sofortige Maßnahmen einzuleiten. Sie lauten: bessere psychologische Betreuung, eine Frühwarnfunktion für die Betriebsärzte - und eine Hotline (numéro vert), auf welcher die Lohnabhängigen sich "aussprechen" können. Die Unternehmensleitung erklärte öffentlich, es müsse "vordringlich darum gehen, die Ansteckung (contagion) einzudämmen" (vgl. Meldung externer Link), als handele es sich um die Schweinegrippe oder eine sonstige Seuche. Generaldirektor Lombard bezeichnete die Selbstmordelle bei der französischen Telekom aber in einem anderen Satz auch als "Mode"-Phänomen (vgl. Meldung externer Link), was ihm von Seiten von Kritiker/inne/n den Vorwurf des "Zynismus" eintrug.

Die Gewerkschaften FO und CFTC ihrerseits fordern eine parlamentarische Untersuchungskommission zum Thema. (Vgl. Meldung externer Link) Die linke Basisgewerkschaft SUD-PTT führte ihrerseits ein "Die-in" vor dem Unternehmenssitz durch - unter dem Motto: "Stoppt das Massaker". Dort wies die linksalternative Gewerkschaft - die bei der französischen Telekom die zweitstärkste Beschäftigtenorganisation darstellt - darauf hin, dass derzeit bei France Télécom "stündlich ein Arbeitsplatz gestrichen" wird. (Vgl. Abbildung externer Link) SUD-PTT hat auch gemeinsam mit der CGC (Gewerkschaft der höheren Angestellten) eine "Beobachtungsstelle für Arbeitsbedingungen" gegründet.

23 Lohnabhängige haben sich bei der französischen Telekom in den letzten anderthalb Jahren am Arbeitsplatz "erfolgreich" das Leben genommen. Dies sei ein historisch völlig unbekanntes Phänomen, meint der Arbeitspsychologe Christophe Dejours (vgl. ausführliches Interview in der gestrigen Montags-Ausgabe der Tageszeitung L'Humanité), der mehrere Bücher über "das Leiden in der Arbeitswelt" verfasst hat: Erst seit Ende der 1990er Jahre erlebe man überhaupt, dass Menschen sich unmittelbar am Arbeitsplatz umbringen - und nicht irgendwohin dafür zurückziehen. "Wenn sich jemand in einem Wald aufhängen geht", meint Dejours, "dann kann man über das Ursachenbündel diskutieren. Aber wenn er es am Arbeitsplatz tut, dann drängt sich der Zusammenhang mit dem Arbeitsleben unübersehbar auf." In vielen Fällen hinterließen jene, die Suizid verübte, auch unzweideutigen Nachrichten. Der Telekom-Mitarbeiter Michel Deparis, der sich im Juli 2009 in Marseille das Leben nahm, schrieb einen Abschiedsbrief, in dem stand, es sei "unnötig, anderswo als in meinem Arbeitsleben bei France Télécom nach Ursachen zu suchen". (Vgl. Meldung externer Link) Er hatte ein glückliches Familienleben geführt, und seine berufliche Qualifikation war allgemein anerkannt. Aber er fühlte sich zunehmend in Konkurrenz zu anderen Lohnabhängigen getrieben - etwa durch die individuellen Leistungsbeurteilungen, die zunehmend in Mode kommen. Von ihnen hängen Lohnbestandteile wie etwa Prämien ab, aber mitunter auch das Risiko, bei der nächsten Entlassungswelle mit dabei zu sein. Und sie "vergiften" das Arbeitsleben, weil die meisten Beschäftigten sich vor einer Leistungsbeurteilungen in ein gutes, die Kollegen aber in ein negatives Licht zu rücken versuchen.

Die französische Telekom wird, bevor 1996 ihre Privatisierung eingeleitet - und im Juli 1997 gleich zu Beginn der "Linksregierung" unter dem Sozialdemokraten Lionel Jospin beschlossen - wurde, noch 160.000 Mitarbeiter/innen. Heute sind es noch 102.000, also ein Drittel weniger, obwohl zusätzlich zu den Festnetz-Anschlüssen inzwischen auch noch Handys und Internetzugänge betreut werden müssen. (Vgl. Meldung externer Link) Ohne Berücksichtigung der Filialen lauten die Zahlen : vor zwölf Jahren waren es noch 145.000 Beschäftigte im "Stammhaus", heute nur noch 80.000 (Vgl. Meldung externer Link) Die technischen Funktionen wurden zugleich wurden die technischen Funktionen abgebaut und Werbeabteilungen aufgewertet - 60.000 der abhängig Beschäftigten mussten bisher, oft unfreiwillig, den Beruf wechseln. Entsprechend wuchs der Druck auf allen Ebenen.

Und die Telekom steht nicht allein. Ein Bericht der Tageszeitung L'Humanité von diesem Montag belegt, dass die Suizidrate auch unter Staatsbediensteten im Umwelt- und Energieministerium stark angestiegen ist. Verantwortlich sei auch hier wachsender Leistungsdruck, verbunden mit der zunehmend Vereinzelung der Beschäftigten. Ein Gesetz vom August 2009 über "die Mobilität im öffentlichen Dienst" entgarantiert die Arbeitsverhältnisse nun auch der Staatsbediensteten: Hatten diese bislang eine Jobgarantie, so entfällt diese - wer drei mal eine Versetzung, die mit Umzug verbunden ist, ablehnt, kann hinausgeworfen werden.

B.Schmid, 22.9.09


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