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Updated: 18.12.2012 15:51
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Streikrecht beschnitten – Öffentlicher Dienst verbessert?

Stellungnahme der französischen Eisenbahngewerkschaft SUD Rail

KollegInnen von der französischen Eisenbahngewerkschaft SUD haben uns gebeten, folgende Stel-lungnahme zu geplanten Eingriffen ins Streikrecht zu übersetzen. Sie befürchten, dass dies ähnlich wie in England unter Thatcher erste Schritte auf dem Weg zur Privatisierung der staatlichen Bahn sind.
Zur Stellungnahme der SUD Rail gehört auch ein gemeinsames (!) Positionspapier aller französischen Eisenbahngewerkschaften pdf-Datei, das wir im Anschluss (S. 16) dokumentieren.

Wir widersprechen dem Inhalt des von der französischen Regierung in Auftrag gegebenen Berichts über »die Kontinuität des öffentlichen Dienstes im Personenverkehr«, den die sog. Kommission Mandelkern* gestern der Öffentlichkeit vorgestellt hat.
Die Kontinuität ist bei der französischen Bahn (SNCF) jeden Tag in Frage gestellt – aber nicht aufgrund von Streiks, sondern wegen fehlender Mittel: Bahnhöfe werden geschlossen, Züge können aufgrund von Personalmangel nicht fahren, Strecken werden aufgegeben, weil dem Profit der Vorzug vor dem sozialen Nutzen gegeben wird...

Druck auf Streikwillige

Die Kommission empfiehlt ein System, das es jedem/r einzelnen Beschäftigten vorschreibt, 48 Stunden vorab zu erklären, ob sie/er sich an einem angekündigten Streik beteiligen wird oder nicht. Die Möglichkeit, z.B. nach einer Diskussion mit den ArbeitskollegInnen die Meinung zu ändern, ist danach nicht vorgesehen.

Der Zwang zur individuellen Vorab-Erklärung ist ein Angriff auf das Streikrecht.

Geschäftsleitungen und Regierung wollen so in der Lage sein, Druck auszuüben, indem sie die industriellen Beziehungen in den Unternehmen weiter individualisieren. Dabei ist Streik zwar ein individuelles Recht, seinem Wesen nach aber ein kollektives Phänomen: Gemeinsam wird ein Streik beschlossen, gemeinsam wird gestreikt.

Ein solches Verfahren wird den Dienst am Nutzer in keiner Weise verbessern.

Im Gegenteil: Es birgt die Gefahr, die Beziehungen zwischen Führungspersonal und dem Rest der Belegschaft zu verschlechtern und kann damit nur eine Verschärfung von Konflikten nach sich ziehen. SUD Rail ist der Ansicht, dass das Führungspersonal nicht mit der Organisation von Anti-Streik-Maßnahmen betraut werden darf. Auch Führungskräfte müssen ihrer staatsbürgerlichen Verantwortung im Unternehmen in vol-lem Umfang nachkommen dürfen, inklusive des eigenen Rechts auf Streik.

»Minimaler Service« als Vorwand

Der nebulöse »garantierte« oder »minimale Service«, auf den der Bericht pocht, ist nach Einschätzung von SUD Rail nichts weiter als Politiker-Schöngeschwätz: Wer weiß, wie Unternehmen des Personenverkehrs funktionieren, der weiß auch, dass es dort keinen »garantierten« oder »minimalen Service« geben kann – außer wenn man das Streikrecht ganz einfach komplett abschafft.
Würden sie selbst in den Stoßzeiten die öffentlichen Verkehrsmittel der Ballungsräume benutzen, wüssten unsere ›Experten‹ außerdem, dass die Nutzer den »minimalen Service« Tag für Tag ertragen müssen, und zwar aufgrund ungenügender finanzieller Ausstattung.

Wir brauchen mehr öffentlichen Dienst, nicht weniger!

Die Rede von den »Grundbedürfnissen« ist völlig konstruiert und macht in diesem Zusammenhang keinen Sinn. Schließlich geht es bei allen öffentlichen Diensten um grundlegende Bedürfnisse des kollektiven Lebens – auch bei solchen, die inzwischen privatisiert oder von Privatisierung bedroht sind! Laufen wir nicht Gefahr, morgen zusehen zu müssen, wie die Bosse des Privatsektors beschließen, dass das Kriterium für einen Job darin besteht, ob man zufällig in der Nähe einer »Basisstrecke« wohnt oder nicht? Die Definition der »Grundbedürfnisse« der Gesetzgebung zu überlassen, heißt, sich für eine Beschneidung des Streik-rechts zu entscheiden, und damit für die Zunahme illegaler Streiks. Schließlich kann man die Temperatur nicht senken, indem man das Thermometer zerschlägt!

Die »unabhängige Verwaltungsstelle«, deren Schaffung im Bericht vorgeschlagen wird, ist im besten Fall ein Spielzeug, das die Illusion einer zusätzlichen Option im Konfliktfall vermitteln soll, im schlimmsten Fall aber ein zusätzliches Instrument für die Destrukturierung der industriellen Beziehungen. SUD Rail und Solidaires haben schon früher an die Existenz der Gewerbeaufsicht (inspection du travail beim Arbeitsministerium) erinnert, die man einfach besser hätte ausstatten können, damit sie ihrer Aufgabe auch nachkommen kann.

Man muss existierenden Regelungen Leben einhauchen, sie ggf. verbessern, bevor man sich neue ausdenkt. Z.B. Vorankündigung von Streiks: Die Gewerkschaften kündigen geplante Streiks großteils bereits jetzt früher an als die momentan (noch) gesetzlich vorgeschriebenen fünf Tage im Voraus. Dennoch empfängt die Geschäftsleitung die Gewerkschaften meist erst im letzten Moment, nämlich am Vorabend des angekündigten Streiks, und blockiert damit jegliche ernsthafte Verhandlung. Und das, obwohl die fünftägige Ankündigungsfrist damals extra zu dem Zweck eingerichtet wurde, den »Parteien Zeit zum Verhandeln zu geben«.

Widerstand!

Es sind aber auch andere Formen kollektiven Kampfes möglich. Z.B. Streik mit kostenloser Beförderung, wie der »Zangenstreik« des Zugpersonals vor einigen Jahren: Sie machten ihre Arbeit, die Züge fuhren, aber die Fahrkarten wurden nicht entwertet und die Fahrgäste fuhren umsonst. Diese Form der Bewegung wird systematisch unterdrückt, die Beschäftigten bestraft. Womit deutlich wird, dass es unseren ›Experten‹, Unternehmenschefs und Regierenden nicht wirklich darum geht, die Interessen der Nutzer zu wahren.

SUD Rail hat bei der SNCF-Leitung, der Verband Solidaires bei der Mandelkern-Kommission in der Vergan-genheit bereits zahlreiche Vorschläge gemacht. Bei weiteren, für September geplanten Treffen mit der SNCF und dem Ministerium werden wir diese erneut auf den Tisch legen.
1963 wurde in bestimmten Sektoren die fünftägige Ankündigungsfrist für geplante Streiks eingeführt. Auch Unternehmerschaft und Regierung war bis dahin aufgefallen, dass zwangsweise Dienstverpflichtungen nicht mehr funktionierten, weil EisenbahnerInnen in legitimer Gegenwehr kollektiv und massiv dagegen verstießen und sich weigerten, ihnen Folge zu leisten.

Heute schlägt man uns folgendes vor:

  • Beibehaltung der Ankündigung
  • Verdoppelung der Ankündigungsfrist von 5 auf 10 Tage
  • Drohung mit zwangsweiser Dienstverpflichtung für bestimmte Verbindungen und Stationen

Anti-Streik-Gesetz, Dienstverpflichtung: Mit Volldampf ins 19. Jahrhundert?

Kündigungen, Dienstverpflichtungen, Ankündigungsfristen, Geldstrafen, verwaltungsrechtliche Sanktionen, strafrechtliche Sanktionen – die Methoden ändern sich im Laufe der Jahre, aber der Wille bleibt derselbe: die kollektive Kraft der Beschäftigten zu schwächen. Durch Massenarbeitslosigkeit und prekäre Arbeitsbe-dingungen – organisiert und aufrecht erhalten von ihnen selbst – ist es den Bossen bereits in beträchtlichem Maße gelungen, das Streikrecht für Millionen Beschäftigte im privaten Sektor faktisch zu beschneiden. Wir werden nicht zulassen, dass sie dasselbe tun in Sektoren, die dank der Errungenschaften früherer Streiks noch Widerstand zu leisten in der Lage sind.

In Großbritannien hatte sich die Regierung Thatcher zuerst das Streikrecht vorgenommen, um dann die Eisenbahn besser privatisieren zu können. Die Nutzer hätten aber zweifellos lieber einige Streiks für die Stärkung des öffentlichen Dienstes Bahn ›ertragen‹ als sich nun mit dem heutigen Zustand des britischen Bahnnetzes abfinden zu müssen.

SNCF-Generaldirektor Guillaume Pépy sagt es ganz offen: »Natürlich muss man den Dialog stärken ... Aber Kräfteverhältnisse spielen eine Rolle in den industriellen Beziehungen, das ist kein Widerspruch. Eine Ver-handlung hat immer zwei Komponenten: den tatsächlichen Willen, sich mit den Gewerkschaften zu einigen, und gleichzeitig den Wunsch, ein Kräfteverhältnis zu schaffen, in dem man selbst im Vorteil ist.«

Das Streikrecht beschneiden heißt, das Kräfteverhältnis zu Gunsten der Unternehmen zu verschieben. Unsere Wahl als Gewerkschaft ist die entgegengesetzte. Wir werden das Streikrecht verteidigen und für die Ausweitung der Beschäftigtenrechte im Unternehmen kämpfen, um eine echte Gegenmacht zu schaffen, die es erlaubt, soziale Errungenschaften zu bewahren und neue freiheitliche Räume zu erobern: eine Öffnung hin zu einer anderen Gesellschaft, die nicht von Profitstreben dominiert ist.

St. Denis, 22. Juli 2004

Übersetzung: Anne Scheidhauer

Anmerkung

* Benannt nach dem Kommissions-Vorsitzenden Dieudonné Mandelkern, der als ehemaliger Richter am französischen Staatsgerichtshof und u.a. als Vorsitzender einer Algerien-Krieg-Kommission in den 60er Jahren schon traurige Berühmtheit erlangt hat (vgl. dazu Jungle World 14/99 vom 31.3.99).

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 8/04

Siehe auch das französische Originaldokument der SUD rail pdf-Datei im LabourNet Germany


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