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Updated: 18.12.2012 16:07
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"Reformen" paketweise beschlossen. Einschränkung des Streikrechts sorgte für Aufregung

"Nicolas Sarkozy ist der Speedy Gonzalez der französischen Politik"...so fängt der aktuelle Bericht "Reformen paketweise beschlossen. Einschränkung des Streikrechts sorgte für Aufregung. Neuer Reformterror in Bälde in Aussicht" von B. Schmid vom ". August 2007 an, der einen Schwerpunkt in der Analyse der Beschränkung des Streikrechts hat.

"Reformen" paketweise beschlossen. Einschränkung des Streikrechts sorgte für Aufregung. Neuer Reformterror in Bälde in Aussicht

Nicolas Sarkozy ist der Speedy Gonzalez der französischen Politik. Nachdem er in der vergangenen Woche kurz die internationale Bühne zur Profilierung nutzte und in drei Tagen quer durch Afrika hechelte -- einen höchst brisanten Libyendeal und eine für Disput sorgende Programmrede in Dakar eingeschlossen (vgl. http://www.heise.de/tp/r4/artikel/25/25871/1.html externer Link) -- , ist nun wieder die französische Innenpolitik dran. Noch bevor er in den dreiwöchigen Urlaub in Richtung seines Lieblingslands, den USA, entfleuchte, kündigte Präsident Sarkozy am Mittwoch einen neuen, verstärkten Reformterror für den Herbst an. "Rechnen Sie damit, dass es (Anm.: nach dem Ende der Urlaubsperiode) sehr stark wieder los gehen wird" rief er seinen leicht verdatterten Minister anlässlich der mittwöchlichen Kabinettssitzung zu. Und die Wirtschaftstageszeitung "Les Echos" schlagzeilte am Donnerstag: "Sarkozy verspricht einen Herbst, (der) reich an Reformen (sein wird)." Doch zu den einzelnen schon angekündigten Maßnahmen später. Zunächst drängt sich ein Überblick über das, was allein in dieser Woche alles beschlossen bzw. in die Wege geleitet worden ist, nahezu auf.

Beschlossen...

Am Mittwoch dieser Woche nahm das französische Parlament in dritter und letzter Lesung das Gesetz über die "Autonomie der Universitäten" definitiv an. Zur Verabschiedung ist ein Beschluss beider Kammern, der Nationalversammlung und des Senats (Oberhauses), erforderlich. An der Debatte der Nationalversammlung nahmen auf beiden Seiten - Regierungslager und Opposition -- nur rund 20 Abgeordnete teil, obwohl die Annahme des Entwurfs nicht ohne wichtige Konsequenzen bleiben wird. Binnen fünf Jahren müssen nun alle französischen Hochschulen finanzpolitisch "autonom" werden, können/dürfen/müssen eigene Finanzierungsmittel im privaten Sektor akquirieren und können die Entlohnung von Forschern und Lehrkräften z.T. unter Marktbedingungen aushandeln. Die Machtposition des Universitätspräsidenten wurde erheblich gestärkt. (Denn Autonomie bedeutet in diesem Sinne keineswegs jene der Selbstverwaltungsorgane von Studierenden oder Lehrenden!)

Ebenfalls am Mittwoch nahm das französische Parlament das Paket zu "Arbeit, Beschäftigung und Kaufkraft" (abgekürzt TEPA) an. Dieses beinhaltet insbesondere die Steuergeschenke an Besser- und Bestverdienende, Labournet berichtete im Laufe des Juli ausführlich, sowie die Steuer- und Sozialabgaben-Befreiung von Überstunden. Der ganze Spaß soll voraussichtlich 13 Milliarden Euro pro Jahr kosten. ...und noch ausstehend: die Finanzierung!

Bislang ist der Scheck noch ungedeckt. Denn das Projekt einer Anhebung der Mehrwertsteuer (französisch TVA) von derzeit 19,6 % auf möglichweise 24,6 % wurde vom damaligen Wirtschafts- und Finanzminister Jean-Louis Borloo im Juni zu früh ausgeplaudert - acht Tage vor dem entscheidenden zweiten Durchgang der Parlamanetswahlen. Geschätzt wird, dass deswegen rund 60 Abgeordnete der konservativen Regierungspartei (UMP) in der Stichwahl durchfielen. Eine Reihe von UMP haben Borloo diese Ungeschicklichkeit noch immer nicht verziehen; eine Reihe von knackigen Zitaten wurden vor ein paar Wochen in "Libération" veröffentlicht. Vorgeworfen wird Borloo nicht, dass er lauthals mit dem Gedanken spielte, die Konsumbesteuerung, also die unsozialiste Steuerform überhaupt (da sie nicht proprotional zum Lohn oder Verdienst ausfällt und die ärmeren Haushalte, die einen gröberen Anteil ihres Einkommens für den täglichen Verbrauch ausgeben, proportional zu ihren Ressourcen stärker belastet), stark anzuheben. Dieses Vorhaben wird vielmehr von weiten Teilen des Regierungslagers geteilt, da ihnen klar ist, dass nur auf diesem Wege eine Gegenfinanzierung für die bereits getätigten Steuergeschenke bereitgestellt werden kann. (Es sei denn, dass " Prozent jährlichen Wachstums verzeichnet werden, aber "wenn das Wörtchen wenn nicht wär ..") Vorgeworfen wird Borloo wohl aber, dass er zu früh losplauderte: sehr schlechte Kommunikationsstrategie! Borloo rasselte seinerseits durch und wurde nach den Parlamentswahlen vom Wirtschafts- und Finanzminister, seinem Traumjob, zum Umweltminister "zurückgestuft". In seinen Augen und aus Sicht der übrigen bürgerlichen Regierung wurde er dadurch degradiert. Und da wäre sie schon wieder, die Debatte um die Erhöhung der Konsumsteuern!

Nach dem kleinen Unfall im Vorfeld der Parlamentswahlen hat die Regierung bei dem Thema vorläufig erst einmal zurückgesteckt. Doch da die verteilten Geschenke nun aber einmal finanziert werden wollen, wohl nicht für lange Zeit. Eine prima Rechtfertigung steht auch längst bereit, sie war bereits zum Wahlabend am 17. Juni (zweiter Durchgang der Parlamentswahlen) bereit: Die so genannte "soziale Mehrwertsteuer" oder "TVA sociale" wird dazu dienen, die nationale Produkte gegen die Überschwemmung mit Importen zu nutzen. Und diese Logik geht so: Französische wie ausländische Hersteller werden eine erhöhte Mehrwertsteuer, zum Beispiel fünf Prozent plus (eben von 19,6 auf 24,6 Prozent), auf ihre Produkte angewendet sehen. Die französischen Firmen werden dann aber, aufgrund ihrer staatsbürgerliche Tugend, ihre Preise nicht entsprechend in die Höhe schnellen lassen.

Vielmehr werden sie sich darin erinnern, dass sie ja zugleich im Inland nunmehr weniger Sozialabgaben und "Lohnnebenkosten" bezahlen, weil diese ja genau auf die TVA (Mehrwertsteuer) umgewälzt worden sind. Also werden sie, bei gleichbleibender Gewinnspanne, ihre Preise senken, in einer Weise, dass die erhöhte Mehrwertsteuer nicht zu einer Erhöhung der Verbraucherpreise für ihre je eigenen Produkte führt. Nur die dummen ausländischen Hersteller werden ihre Importe verteuert sehen, und dadurch an Marktanteilen verlieren (ohne zusätzliche Gewinne zu erzielen, da die 5 Prozent Erhöhung, die dem Konsumenten abgeknapst werden, ja an den französischen Staat gehen). Der Fiskus gewinnt dabei, und die nationalen Produzenten ebenfalls. Diese Vorstellung vertritt insbesondere Sarkozys Redenschreiber Henri Guiano, ein traditioneller Gaullist und ehemaliger EU-Skeptiker, der gerne in seinen patriotischen Idealen und Wunschvorstellungen von einem möglichst souveränen Nationalstaat schwebt.

Eine Idee, die zwar beim ersten Herangehen nachvollziehbar klingt, aber so kaum funktionieren wird. Was ist, wenn etwa die Aktionäre oder der US-amerikanische (oder sonstige) Mutterkonzern einer französischen Firma derart auf der kurzfristig zu erzielenden Gewinnmarge besteht, dass es zu keiner Absenkung der Produktpreise kommt? Was ist, wenn umgekehrt die Importeure ihrerseits bei ihren Verbraucherpreise heruntergehen - bei einigen Produkten ’made in VR China" dürfte da bestimmt noch eine Marge bestehen? Und was aber ist in Sektoren los, wo gar keine "erdrückende" ausländische Konkurrenz herrscht, etwa im Baugewerbe (und bei seinen Zulieferern, Handwerkern, ..), wo die Preise durch die TVA-Erhöhung aber dennoch nach oben gedrückt werden? Kurzfristig wurde der Gedanke überlegt, man könne die Mehrwertsteuer-Erhöhung nur auf besonders intensiv der internationalen Konkurrenz ausgesetzte Sektoren wie etwa die Automobilindustrie anwenden. Das aber wäre mit geltendem EU-Recht unvereinbar und könnte durch Brüssel sanktioniert werden: Es würde den Tatbestand einer gezielten staatlichen Hilfe für bestimmte Firmen erfüllen. Also "Wettbewerbsverzerrung".

Sarkozys Ausweg: Der blasse Politiker Eric Besson, allgemein nur bekannt als "der Verräter" (da er Ende 2006 den Wahlkampf von Ségolène Royal als ihr Wirtschaftsberater führte, im Januar eine aggressive Studie über den"beängstigenden" Kandidaten Nicolas Sarkozy vorlegte - und im April zu Sarkozy überlief, um im Juni Staatssekretär zu werden), wurde mit der Erstellung einer Studie über die "Machbarkeit" der so genannten TVA sociale beauftragt. Der Mann, seines Amts Staatssekretär "für wirtschaftliche Vorausschau und die Bewertung der öffentlichen (Wirtschafts-)Politik", ging sogar in einigen Nachbarländern, u.a. Deutschland und Dänemark, spazieren, um sich die dortige Mehrwertsteuer-Politik anzugucken. Ursprünglich sollte er zum 31. Juli dieses Jahres einen detaillierten Rapport abliefern.

Da Eric Besson aber schlicht und einfach feige ist, begnügte er sich damit, eine "einfache Notiz" (so Presseberichte) vorzulegen, worin er lieblos die "Vor- und Nachteile" der Idee einer solchen Mehrwertsteuererhöhung auflistet. Sarkozy bzw. sein Premierminister François Fillon war sichs nicht zufrieden. Besson muss also den Sommer über"nachsitzen". Jetzt hat er für Ende August seinen Bericht abzuliefern. Im Herbst wird man also vermutlich weiter von dem Thema reden.

In einer Erklärung vom 31. Juli bezeichnet unterdessen ATTAC Frankreich die Idee der so genannten TVA sociale als "antisoziale Idee", die wirtschaftlich nicht funktionieren und zudem die Kaufkraft der finanzschwächsten Haushalte schmälern werde. (Vgl. "Le Monde" vom 1. August)

Einschränkung des Streikrechts

Beschlossen worden ist am Donnerstag Nachmittag nun auch die viel erwartete Einschränkung des Streikrechts durch Einführung eines ’Service minimum' (Notdienst, Mindestbelegschaft). Zuvor hatte am späten Abend Mittwoch die Nationalversammlung einem Entwurf zugestimmt, der gegenüber dem vom Senat (Oberhaus) angenommenen Text jedoch in einigen Punkten abwich. Daraufhin wurde am Donnerstag Vormittag ein (in solchen Fällen obligatorischer) Vermittlungsausschuss zwischen beiden Kammern gebildet. Da die Regierung jedoch die, für Notfälle vorgesehene, "Eilprozedur" für die Verabschiedung der Gesetzesvorlage gewählt hatte, wurde der Kompromissentwurf bereits am Nachmittag zur definitiven Verabschiedung vorgelegt.

Nach wie vor nicht enthalten im Text ist die Dienstverpflichtung streikender Angestellter gegen ihren Willen. Dies wäre auch mutmaßlich nicht durchsetzungsfähig. Wohl aber erschwert das neue Gesetz die Aufnahme eines Streiks in den z.Zt. hauptbetroffenen Transportbetrieben, indem die Fristen für die vorab erforderliche Anmeldung, zwingend gestaltete Verhandlungsrunden usw. für eine erhebliche Ausdehnung der Vorwarnperiode sorgen. Statt bisher nach 5 Tagen kann die Periode für die Auslösung eines Streiks in den Transportbetrieben bis auf maximal 16 Tage ausgedehnt werden.

Vor allem an einem Punkt wurde der Entwurf durch den rechten Flügel des Regierungslagers beträchtlich verschärft. Bislang sah der Entwurf"lediglich" vor, dass den individuellen Beschäftigten eine Erklärungspflicht, im Sinne einer Informationspflicht für den Arbeitgeber, 48 Stunden vor Ausbruch eines Arbeitskampfs zukommen solle. Zu diesem Zeitpunkt sollten die einzelnen Beschäftigten also für sich persönlich erklären, ob sie an dem bevorstehenden Streik teilnehmen werden oder nicht.

Dies solle den Verkehrsbetrieben eventuelle Umbesetzungen von Personal erlauben. Was aber passieren würden, falls die abhängig Beschäftigten diese Information nicht abgeben würden, oder falls die Entwicklung anders verlaufe als einmal vorher angekündigt, war bislang nicht klar. Durch Aufnahme einer Zusatzbestimmung in das Gesetz wird nunmehr verfügt, dass abhängig Beschäftigte mit disziplinarrechtlichen Konsequenzen bedroht werden, falls sie ihrer Informationspflicht nicht nachkommen - oder falls sie sich entgegen vorheriger Ankündigung dann doch an einem Ausstand beteiligen. Ungeklärt ist dabei freilich, ob dies nur in einer Richtung gelten wird (also erklärte Nichtstreikende nicht nun doch noch teilnehmen können) oder aber in beiden Richtungen (d.h. dass auch vorab erklärte Streikteilnehmer nicht mehr nachträglich "zurückrudern" können). Erstere Version vertritt der Generalsekretär des Gewerkschafsbunds Force Ouvrière (FO), Jean-Claude Mailly, der erklärte, diese Bestimmung verletze das Prinzip der Rechtsgleichheit (in diesem Falle zwischen streikwilligen und nicht streikwilligen Angestellten) und sei deshalb juristisch anfechtbar.

Über diesen Punkt Gedanken angestellt hat auch die Wochenzeitung "Le Canard enchaîné", und hält anscheinend die zweitgenannten Variante für plausibel. In seiner Ausgabe vom Mittwoch, 1. August vermutet das kritische Blatt, dies könne noch zu schönen Komplikationen führen. Was, wenn etwa ein Streik angekündigt wird, aber ganz knapp vorher noch eine Einigung stattfindet: "Müssen" die erklärten Streikteilnehmer dann dennoch ihren Arbeitskampf durchführen? Und was, wenn Streikwillige entgegen vorheriger Erklärung doch noch "zurück können": Gesetzt den Fall, dass der Arbeitgeber zuvor strategische Umbesetzungen seines Personals für das Streikdatum vorgenommen hat, und der Arbeitsplatz des oder der "rückkehrwilligen" Beschäftigten also aus diesem Grunde bereits besetzt ist? Kann der/die dann doch nicht Streikende auf Beschäftigung, oder wenigstens Bezahlung, bestehen? "Sollte dies der Fall sein", verspricht der ’Canard enchaîné", "dann dürften die Gewerkschaften, die einen guten Sinn für Humor haben, mit dieser Vorschrift bestimmt zu spielen verstehen..."

Ansonsten vertritt die Zeitung die Auffassung, dass, falls das Streikrecht in der Praxis tatsächlich streng eingeschränkt werde, dann nur noch das gezielte Bestreiken ausgewählter, strategischer Sektoren helfe. Also "heute die Lokführer, morgen die Fluglotsen"... Wen die Zeitung da nur mal nicht die französischen Gewerkschaftsapparate in ihrem Kampfeswillen überschätzt! Der Gewerkschaftsbund CGT hat angekündigt, eine Klage vor dem Verfassungsgericht gegen das neue Anti-Streik-Gesetz voranzutreiben und zu begleiten. Sie verfüge über die 60 Abgeordneten, die dazu erforderlich sind, und werde deren Verfassungsklage mit einem eigenen Rechtsgutachten begleiten. Im geltenden französischen Recht kann das Verfassungsgericht nicht von "einfachen" Bürgern, sondern nur von 60 Abgeordneten oder Senatoren (und nur VOR der Verkündung des betreffenden Gesetzes im Amtsblatt, nicht nachträglich) oder von Verfassungsorganen wie Präsident und Premierminister angerufen werden. Diese Konzeption diente ursprünglich, unter der Französischen Revolution, dazu, dass der politische Voluntarismus der gewählten Vertreter der Nation nicht durch die Richter (als nicht demokratisch legitimierte Experten) "gefesselt" werden dürfe. Heute ist sie allerdings eher ein Hindernis für demokratische Kontrolle, da die durch die Legislative verabschiedeten Gesetze, sind sie einmal in Kraft getreten, nicht mehr durch das Verfassungsgericht aus dem Verkehr gezogen werden können - sondern nur durch einen neuen gesetzgeberischen Akt außer Kraft gesetzt oder ausgetauscht werden können.

Am Mittwoch, 31. Juli fand auch die durch die CGT zu Anfang des Monats beschlossene, und im Nachhinein vor allem durch SUD/Solidaires unterstützte, Mobilisierung gegen das neue Anti-Streik-Gesetz statt. Rund 2.000 Menschen, für die hochsommerliche Periode keine richtig schlechte Anzahl, demonstrierten in Paris neben der Nationalversammlung. Im Inneren des Abgeordnetenhauses lieferten die Repräsentanten der Parlamentsopposition dieses Mal einen demonstrativen Abwehrkampf: Die französische Sozialdemokratie hatte beschlossen, bei diesem Themen ihren oppositionellen Willen unter Beweis zu stellen. Doch konnte dies die Annahme der Vorlage durch die konservative Abgeordnetenmehrheit nicht verhindern.

"Le Canard enchaîné" lässt zwei Beschäftigte in einer Karikatur dazu sagen: "Nach dem ’Service minimum1: Demnächst müssen wir vielleicht um ein ’Droit de grève minimum" (Mindest-Streikrecht) kämpfen". Tja, falls es so weiter geht... Für den September 2007 hat die CGT allerdings bereits Ausstände gegen die Änderungen am Streikrecht angekündigt. Die Boulevardpresse (’Le Parisien1) tobte im Laufe dieser Woche bereits, dann finde doch die Rugby-Weltmeisterschaft statt, und stimmte einmal mehr das uralte Lied von der Erpressung, Geiselnahme usw. an. Nichtsdestotrotz ist für den September wohl "trotz Rugby-WM" (Bernard Thibault, CGT) mit sozialen Konflikten diesbezüglich zu rechnen.

"Ein reformreicher Herbst"

Und was soll der kommende Herbst sonst noch bringen? - Bei Medikamenten soll es einen stärkeren Selbstbehalt der Sozialversicherten als bisher geben. Bereits seit 2004 gilt ein Prinzip de Selbstbehalts der Patienten, von einem Euro pro Arztbesuch. (Eine Arztkonsultation kostet in Frankreich, bei Allgemeinärzten, etwas über 20 Euro. Normalerweise bezahlt die gesetzliche Krankenversicherung 70 Prozent der Behandlungskosten aller Art zurück, und den Rest übernimmt ggf. eine privat bzw. über den Arbeitgeber abgeschlossene Zusatzversicherung,"mutuelle". Den Selbstbehalt in Höhe von einem Euro dürfen aber weder die eine noch die andere Versicherung zurückerstatten. Dies soll die Patienten"verantwortungsbewusst machen", damit sie nicht missbräuchlich oderübertrieben oft zum Arzt gehen. Bei Dauerbehandlungen wie AIDS-Therapien usw. entfällt der Selbstbehalt pro Praxisbesuch bzw. wird bei einer jährlichen Obergrenze gedeckelt.)

Nunmehr plant Nicolas Sarkozy, zusätzlich bei jedem Arztbesuch, aber auch jedem ärzlichen Rezept, jedem einzelnen verschriebenen Medikament einen weiteren Selbstbehalt von 50 Cents einzuführen. Dieser neue Selbstbehalt, genannt "franchise médicale" (medizinischer Freibetrag), soll nach Auskunft des Präsidenten die medizinischen Forschungskosten etwa beim Kampf gegen die Alzheimer-Krankheit finanzieren helfen. Im Vorfeld waren jährliche Obergrenzen für den neuen "Freibeitrag" von 100 oder 200 Euro im Gespräch, zuletzt führte Präsident Sarkozy allerdings eine Summe von "nur" 50 Euro im Munde.

- Die Regeln für die jährliche Neufestsetzung des gesetzlichen Mindestlohns, SMIC, sollen "reformiert" werden. Dies geht aus der "Lettre de mission", der Aufgabendefinition, die Nicolas Sarkozy seinem Arbeits- und Sozialminister Xavier Bertrand in den letzten Tagen zuschickte, hervor. Die bisherigen Regeln zur jährlichen Anpassung des SMIC (dem die Regierung, so sieht es das Arbeitsgesetzbuch bisher zwingend vor, mindestens die jährliche Preissteigerungsrate im vergangenen Jahr plus 50 % des durchschnittlichen Anstiegs der übrigen Löhne und Gehälter hinzufügen muss) waren dem Arbeitgeberlager bisher stets ein Dorn im Auge. Gefordert wurde aus seinen Reihen bislang insbesondere, dass (1) statt der Regierung, deren Entscheidung potenziell immer für politischen Druck anfällig ist, eine "unabhängige Expertenkommission" für die jährliche Neufestlegung des Mindestlohns zuständig sein solle. Und (2.) möchte das Arbeitgeberlager, dass der SMIC nicht mehr länger als Stunden- und (bei Vollzeitarbeit) Monatslohn, sondern nur noch als jährlicher Mindestverdienst definitiert werden soll. Dies würde es erlauben, sämtliche Jahressonderzahlungen, Prämien usw. einzuberechnen, um zu überprüfen, ob die Grenze des gesetzlichen Mindestlohns erreicht worden ist. Man darf darauf gespannt sein, wie die Regierung die geplante "Reform" des Mindestlohns ins Auge fassen wird.

- Die Regeln zur Festlegung der Regeln für die "gewerkschaftliche Repräsentativität" (die historisch durch das Nebeneinander mehrerer konkurrierender Gewerkschaftsverbände unabdingbar geworden waren) sollen gründlich überarbeitet werden. Auch hier darf man auf die Ergebnisse gespannt sein. Als solche war eine Reform an diesem Punkt tatsächlich unabdingbar geworden, da die derzeit bestehenden und seit 1966 geltenden Regeln der "Repräsentativ" das Monopol eines Clubs anerkannter gewerkschaftlicher Dachverbände festschreiben. Einige der dazu gehörenden Organisationen, etwa der christliche Gewerkschaftsbund CFTC, sind aber in Wirklichkeit nur sehr begrenzt "repräsentativ". Dennoch darf man sehr darauf gespannt sein, wie die konservative Regierung dieses äußerst heikle Thema anpacken wird.

Die "Vereinfachung und Vereinheitlichung des juristischen Rahmens" der Arbeitsverhältnisses: Dahinter steht das seit längerem von Nicolas Sarkozy gehegte Projekt einer Aufweichung des Kündigungssschutzes, und faktischen Zusammenlegung von befristetem und unbefristetem Arbeitsvertrag (CDD und CDI). Kernidee: Je länger jemand beschäftigt worden ist, desto stärker soll sein oder ihr Kündigungsschutz ausfallen, d.h. desto höher soll die finanzielle Abfindung im Falle einer Entlassung ausfallen. - Nicht zuletzt: Die "Spezial-Rentenregime" sollen ab 2008 dringend reformiert werden. Dies forderte Präsident Sarkozy in seinem Brief an Arbeits- und Sozialminister Xavier Bertrand, der seine Aufgabendefinition enthält. Dahinter steckt nichts anderes als das Vorhaben, die bisherigen, vergleichsweise günstigen Rentenregelungen für bestimmte Berufsgruppen (insbesondere Lokführer und andere Bahnbeschäftigte, sowie Angestellte der Stromversorgungsgesellschaft EDF) auszuhebeln. Diese Berufsgruppen hatte sich historisch das Recht erkämpft, u.a. aufgrund der damals vorherrschenden Arbeitsbedingungen (Stichwort: Dampflokomotive), früh in Rente zu gehen - viele Kategorien von Bahnbediensteten etwa mit 50 bzw. 55 Jahre.

Geschichtlich diente dieses Erkämpfen besonderer "Vergünstigungen" durch bestimmte Gruppen von Staatsbediensteten als "Lokomotive" für andere Beschäftigte, die ihrerseits dann versuchen konnten, ähnliche oder vergleichbare Bedingungen andernorts zu erkämpfen. Längst hat sich dieses Verhältnis aber umgekehrt und ist auf den Kopf gestellt worden: In der konservativ-liberalen, ständig via Medien in die Köpfe getrommelten Propaganda sind heute die Staatsbediensteten die "wahren Privilegierten", denen es zu Unrecht besser ergehe als anderen Beschäftigtengruppen. Zudem scheuten sie "das Risiko", da ihre Arbeitsplätze durch ihren Status gesichert seien, während die Beschäftigten in der Privatwirtschaft das Arbeitsplatzrisiko trügen. (Was stimmt, wobei aber Letztere auch wesentlich besser bezahlt werden! Zumal viele Staatsbedienstete, sofern sie öffentliche Dienstleistungen erbringen - wie Bahnbedienstete, insbesondere das rollende Personal, oder Krankenschwestern im staatlichen Gesundheitswese - auch in weit überdurchschnittlichem Mabe abends, nachts, an Wochenenden oder in Urlaubsperioden malochen.)

Nicolas Sarkozy forderte in seinem Brief an Minister Xavier Bertrand, er solle "die Regeln für die Spezialregime mit denen der anderen (Renten-)Regime konvergieren lassen". Dies bedeutet, in normale Sprache rückübersetzt, dass alle vorteilhaften Sonderregelungen abgeschafft werden sollen, was für das Jahr 2008 geplant ist. Dieses Thema kündigt ordentlichen Zündstoff für soziale Konflikte an, sobald es angepackt wird. Nun wird auch klar, warum die Regierung es eilig hatte, das Streikrecht in denöffentlichen Transportbetrieben so schnell wie möglich unter Kontrolle zu bringen. Die linskliberale Tageszeitung "Libération" hatte also Recht, als sie im Frühsommer schrieb: "Die Reform des Streikrechts ist die Voraussetzung für die Reform der 'Spezialregime'."

(Bernhard Schmid, Paris, 03.08.07)


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