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Updated: 18.12.2012 16:07
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Paris und Frankreich "am Tag danach": Streik durchschlagend, Demo eher flau. Wie geht es nun weiter?

Arbeitskampf mit durchschlagender Wirkung

Am gestrigen Tage wurde ein neuer historischer Rekord vermeldet: 73,5 Prozent Streikbeteiligung, im Durchschnitt aller Beschäftigtenkategorien, bei der französischen Bahngesellschaft SNCF. Laut Direktion! Beim letzten massiven Ausstand der Eisenbahner/innen, im November und Dezember 1995, waren es noch 67 Prozent gewesen. Und bei dem Transportstreik vom 13./14. Mai 2003 (im Zuge der damaligen Proteste gegen die "Rentenreform"), der ebenfalls sehr stark begonnen hatte, aber später durch die Gewerkschaftsapparate abgewürgt wurde, waren es 62,4 Prozent. Man muss schon bis in die 1930er Jahre zurückgehen, um eine ähnlich hohe oder noch höhere Teilnahmequote an einem Streik der französischen Eisenbahner/innen belegt zu finden.

Hingegen fiel der Protest auf den Straßen am gestrigen Donnerstag eher mau aus. In Paris demonstrierten laut Angaben der Polizei 21.000, laut jenen der CGT 25.000 Menschen. Ausnahmsweise klaffen also die Angaben beider Seiten (zwischen denen gewöhnlich die Realität irgendwo in der Mitte zu suchen ist) nicht sehr weit auseinander. Frankreichweit gingen laut polizeilichen Zahlen 150.000, der CGT zufolge hingegen 300.000 Menschen auf der Straße. Damit fällt die Mobilisierung deutlich schwächer aus als im November/Dezember 1995, im Mai 2003 oder auch im März 2006.

Daran, dass die Transportbeschäftigten als (aufgrund ihrer bisherigen, historisch zu erklärenden "Sonderregelungen" zum Renteneintritt) "Privilegierte" allein und von anderen Lohnabhängigengruppen isoliert protestiert hätten, hat es jedenfalls nicht gelegen. In Paris waren die (an der Spitze laufenden) Eisenbahner/innen und Beschäftigten der Transportbetriebe RATP klar in der Minderheit unter den DemonstrantInnen, und sie stellen auch nicht den lebendigsten oder den dynamischsten Block. Laut BeobachterInnen mag dies aber auch daran gelegen haben, dass ihre kämpferischsten Elemente sich um dieselbe Zeit auf den Streikposten befanden, um zu verhindern, dass die Züge eventuell von Streikbrechern gefahren werden. Schwung kam in die Pariser Demonstration eher von anderer Seite: Ein ansehnlicher Studierendenblock (der, im Gegensatz zur sozialdemokratischen Führung der größten Studentengewerkschaft UNEF, das Gesetz vom August 2007 zur finanzpolitischen "Autonomie der Universitäten" nicht geschluckt hat), ein kämpferischer LehrerInnenblock, dazu auch kämpferische "harte Kerne" aus der Privatindustrie (Total, Renault, Peugeot/Citroën) sorgten am ehesten für Power in der Pariser Demo. Auch die Kommunalbeschäftigten aus der CGT wirkten ganz gut mobilisiert. Vorne wirkte die Demo eher lahm und wie eine Pflichtübung. Ziemlich weit hinten war sie hingegen am lebendigsten, bis hin zur anarchosyndikalistischen CNT, die den letzten Block bildete. (Dahinter kam noch ein Technowagen, hinter dem die Provofraktion demonstrierte, mit der Aufschrift: "Für die Rente mit 20, denn zum Vögeln braucht es Zeit" und "Die Rente ist uns wurscht, wir wollen überhaupt nicht arbeiten." Nun ja, nicht eben die "proletarische Massenlinie", aber OK.)

All diese sozialen Gruppen, mit Ausnahme der Eisenbahner/innen und RATP-Beschäftigten, waren und sind von der Abschaffung der "Sonderregelungen" bei den Renten nicht betroffen. Sie fallen hingegen unter die allgemeine "Rentenreform", die schon im Jahr 2003 durch en damaligen Sozial- und jetzigen Premierminister François Fillon - damals gegen massive Widerstände - durchgedrückt worden ist. Diese Reform ist also bereits "durch", auch wenn sie im kommenden Jahr 2008 neue manifeste Früchte tragen wird, weil dann die Anzahl der erforderlichen Beitragsjahre zur Rentenkasse (für eine Pension zum vollen Satz) von 40 auf 41 angehoben wird. Ein Schritt, der bereits im "Reformgesetz" vom 24. Juli 2003 enthalten war, aber bei einem Großteil der Öffentlichkeit in Vergessenheit geraten bzw. Verdrängung anheim gefallen war. Daran nun unangenehm erinnert zu werden, hat wohl auch noch mal böses Blut hervorgerufen. Ansonsten aber erklärt sich die Teilnahme an der gestrigen Demo wohl überwiegend, von den unmittelbar betroffenen Kategorien (Transportbedienstete) abgesehen, aus Solidarität und aus dem klaren Bewusstsein, dass die jetzige "Reform" nur der Hebel ist, mit dem die Regierung den sozialen Widerständen insgesamt an den Kragen will. Denn noch jede Regierung ist seit den frühen 1990er Jahren an dem mehrfach unternommenen Versuch, den "Sonderregelungen" bei den Renten den Garaus zu machen, schmählich gescheitert. Der Versuch, die dagegen bestehenden massiven Widerstandspotenziale in die Knie zu zwingen, ist aus Sicht Nicolas Sarkozys der Dreh- und Angelpunkt für eine (reaktionäre) Verschiebung der Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen.

Insofern lässt sich als Bilanz festhalten: Insgesamt (von den quantitativen Ausmaßen her) blieb die Mobilisierung eher lahm und flau für eine Demo, angesichts der Größenordnung dessen, was auf dem Spiel steht. Allerdings ist ausdrücklich positiv zu werten, dass die SNCF- und RATP-Beschäftigten keineswegs isoliert mobilisieren, sondern in der Demo - im Gegenteil - sogar klar die Minderheit bildeten. Das könnte immerhin einen guten Ansatzpunkt für die nähere Zukunft bilden.

Zum Fortgang der Ereignisse

Im Laufe des Freitag allerdings dürfte der Streik, vorläufig?, abzubröckeln beginnen. Die "autonome" (also keinem gewerkschaftlichen Dachverband angehörige) Lokführergewerkschaft FGAAC hat am Donnerstag abend beschlossen, vorerst doch nicht zum Weiterstreiken ab heute früh aufzurufen. Bis dahin hatten noch drei von acht Gewerkschaften, die bei der französischen Bahngesellschaft vertreten sind - die FGAAC, die linke Basisgewerkschaft SUD Rail (SUD Schienenverkehr/-transport) und die populistisch-schillernde FO cheminots, zum Weiterstreiken ab dem heutigen Freitag aufgerufen.

Für den heutigen Freitag hat die SNCF die "Rückkehr zum Normalverkehr" ab circa 16 Uhr angekündigt und "möglicherweise schneller als vorhergesehen" aufgrund des Positionswandels der Lokführergewerkschaft FGAAC. Aufgrund der zahlreich stattfindenden Vollversammlungen am Vormittag fiel der Verkehr allerdings zunächst noch spürbar gestört aus. Circa ein Drittel der Regionalzüge (TER), der überregionalen Züge (trains Corail) sowie der Hochgeschwindigkeitszüge vom Typ TGV konnten verkehren. Hingegen funktionierte der "Thalys" (Verbindung Paris-Brüssel-Köln/Amsterdam) zu rund 60 Prozent, der "Eurostar" (Paris-London) hingegen "wie normal" laut Angaben der SNCF.

An manchen Standorten der französischen Bahngesellschaft fanden sich allerdings Schwerpunkte bzw. "Hochburgen", in denen hohe Konzentrationen von Streikbefürwortern anzutreffen waren. Am Standort der RER-Linie C (eine S-Bahn-Linie, die den Pariser Ballungsraum quer von Nordwesten nach Südosten durchkreuzt) in Bretigny, südlich von Paris, nahmen Mitglieder aller Berufsgruppen und Beschäftigtenkategorien an der örtlichen Vollversammlung teil. Und die Zustimmung zum Streik lag bei 100 Prozent der abgegebenen gültigen Stimmen (93 Prozent Ja-Stimmen, 7 Prozent Enthaltungen und Null Gegenstimmen auf die Frage, die wie folgt formuliert war: "Wollt Ihr eine harte Streikbewegung, bei der das Ende nicht festgelegt ist?". (Vgl. den Artikel externer Link)

Die CGT cheminots (Eisenbahner-CGT) hatte hingegen bereits am Donnerstag ihre Position dahingehend klargestellt, dass sie nicht zum Weiterstreiken unmittelbar über den 24stündigen "Aktionstag" hinaus ausrufe. Spätere erneute Aufrufe zum Streik werden hingegen nicht ausgeschlossen. Sie wird sicherlich auch durch die Führung des Dachverbands CGT ausgebremst, die laut eigenen Angaben verhindern möchte, "dass die Transportbeschäftigten sich isolieren", indem sie ("zu früh") in einen zu harten Konflikt für ihre eigenen Interessen eintreten, auf das Risiko hin, über die Unterstützung durch andere soziale Gruppen im Ungewissen zu bleiben. Ähnlich wie die französische Sozialdemokratie, welcher sich die (ehemals KP-nahe) CGT bzw. ihre Führung seit 2002 sehr eng angenähert hat, kritisiert die CGT auch offiziell nicht frontal das Projekt einer Abschaffung der "Sonderregelungen" bei der Rente. Vielmehr klagt sie in der Öffentlichkeit nur an, dass diese so genannten Reform "ohne Konzertation, ohne Verhandlung, ohne Diskussion" durchgeführt worden sei - denn während die Regierung auf rhetorischer Ebene viel von Verhandlungen und "Sozialpartnerschaftes"klimmbimm spricht, hat sie in dieser Frage den Gewerkschaften längst die Pistole auf die Brust gesetzt. Nach dem Motto: Entweder Ihr akzeptiert, dass "refomiert" wird, wie wir es (im Grundsätzlichen) beschlossen haben, oder aber die "Reform" wird ohne "sozialpartnerschaftliches" Federlesens durchgezogen.

Im Namen der CGT-Führung erklärte ihr Generalsekretär Bernard Thibault (früher, u.a. bei den Streiks von 1995, selbst an der Spitze der CGT-Eisenbahner; heute an jener des Dachverbands), nun liege es zunächst an der Regierung, zu (echten) Verhandlungen aufzurufen. Danach erst werde seitens der CGT beschlossen, wie man sich in der neuen Situation positioniere, d.h. ob und ggf wann man zu neuen Kampfmaßnahmen aufrufe.

Nähere Aussichten

Arbeits- und Sozialminister Xavier Bertrand hatte bereits am Donnerstag seine Bereitschaft erklärt, "schon ab kommender Woche" die verschiedenen Gewerkschaften zum Gespräch zu empfangen. Gleichzeitig verlautbart von der Staatsspitze jedoch auch, dass Präsident Nicolas Sarkozy fest "entschlossen (sei), die angekündigten Reformen durchzuführen", also fort- und durchzusetzen (vgl. http://www.lemonde.fr/web/depeches/0,14-0,39-32882107@7-37,0.html externer Link). Die bisherige Linie der Regierungspolitik lautet, die Grundzüge der Reform würden auf jeden Fall bis zum 31. Dezember 2007 umgesetzt. Das beinhaltet insbesondere die Verlängerung der obligatorischen Beitragsdauer zur Rentenkasse für die "von Sonderregelungen betroffenen" Lohn- und Gehaltsempfänger/innnen auf 40 Beitragsjahre bis zum Jahr 2012. (Und im Anschluss, der allgemeinen Entwicklung für alle Lohnabhängen - dem Beschluss zur "Rentenreform" von 2003 gemäß- folgend, bis 42,5 Beitragsjahre im Jahr 2020.) Hingegen sollte für die konkreten Modalitäten der Umsetzung dieser Reform "Unternehmen für Unternehmen" noch "diskutiert" werden können, wobei viel Spielraum für die Debatte dabei gar nicht mehr bleibt.

Betroffen von den "Sonderregelungen" im Rentenbereich sind bisher hauptsächlich Eisenbahner/innen, Beschäftigte der Pariser Transportbetriebe (RATP) und anderer städtischer Vekehrsgesellschaften, der Pariser Opernhäuser und der Comédie française, Bergleute (die freilich im Aussterben begriffen sind), hauptberufliche Militärs und Abgeordnete. Alles in allem 1,1 Millionen Rentner/innen und 500.000 aktive Beschäftigte. Liebes Publikum, drei Mal dürfen Sie/dürft Ihr raten, welche beide Gruppen NICHT von der "Reform" = Abschaffung der bestehenden Sonderregelung bei der Renten betroffen sind. OK, diese Frage war zu leicht! Erraten: die beiden letztgenannten unter den aufgezählten Gruppen. Militärs und Abgeordnete.

Post scriptum:

Zu den diversen Reaktionen auf die gestrige Mobilisierung lässt sich sagen, dass sie ähnlich wie erwartet ausfielen. Die Linke begrüßte die Widerstände gegen die "Reform". Die Boulevardpresse und andere Medien geißelten ,la galère', also die immense "Qual und Pein", in welche der Streik die armen Passagiere stürze. Laut einer genialen Zusammenfassung vom Freitag früh auf ,Radio Africa Numéro 1' (ein Sender, der von Paris und Libreville aus sendet): "Eine Journalistin von einem Privatradio, die wahrscheinlich noch nie eine Monatskarte für die Métro aus der Nähe gesehen hat, erlaubte sich einen Eisenbahner ins Gesicht zu fragen: ,Und was passiert, wenn die Regierung <la rançon> (wörtlich: Lösegeld bei Erpressungsfällen) nicht bezahlen will?' Und plötzlich entdecken solche Journalisten vemeintlich die Nöte der kleinen Leute..." Die bürgerliche Journaille, in den rechten sowie den Boulevardzeitungen, dekliniert das Thema der "Geiselnahme (prise d'otages)" der Nutzer öffentlicher Verkehrsmittel, oder des ganzen Landes, hinauf und hinunter.

Und noch eine Reaktion durfte selbstverständlich nicht fehlen: Jean-Marie Le Pen, noch immer an der Spitze des rechtsextremen Front National, beklagte einmal mehr einen "illegalen und rein politisierten Streik" (vgl. http://www.frontnational.com/communique_detail.php?id=1490 externer Link). Nun, wer solche "Kritiker" bzw. Feinde hat, darf sozusagen die Ehre auf seiner Seite wissen.

Bernard Schmid, Paris, 19.10.2007


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