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Updated: 18.12.2012 16:07
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Vorbereitung auf (unbefristeten) Transportstreik ab kommenden Dienstag Abend

Die Regierung bereit heftigen Gegenwind vor. Unterdessen häufen sich studentische Besetzungsaktionen und andere kleinere "Unruheherde"

Alle Räder stehen still, wenn Dein starker Arm...? Abwarten und Stärkungsmittel trinken. Fest steht jedoch, dass ab dem kommenden Mittwoch in den französischen Transportbetrieben - gefolgt von anderen Sektoren - eine erhebliche Kraftprobe anstehen wird. Der Streik der Transportbediensteten beginnt am Dienstag, den 13. November ab 20 Uhr abends. Parallel dazu sind etwa auch die Beschäftigten der Energieversorgungsunternehmen EDF und GDF am 14. November durch ihre Mehrheitsgewerkschaften, die (mit Abstand stärkste) CGT sowie Force Ouvrière (FO), zum Ausstand aufgerufen. Am 20. November, wenn der Ausstand in den Transportbetrieben bis dahin anhält - was mutmaßlich der Fall sein wird - treten zusätzlich noch zahlreiche Sektoren des sonstigen öffentlichen Diensts, die anders als Transport-, EDF- und GDF-Beschäftigte nicht von den ,Régimes spéciaux' (Sonderregelungen bei den Renten) betroffen sind, in den Tanz ein. Ihre Gewerkschaften rufen zum Ausstand gegen den Stellenkahlschlag in den öffentlichen Diensten und gegen die Austeritätspolitik bei den Löhnen und Gehältern auf.

Sieben von acht Gewerkschaften bei den Eisenbahner/inne/n rufen inzwischen zum Arbeitskampf ab Dienstag Abend auf, und im Gegensatz zum Ausstand vom 18. Oktober (der von zunächst 5, dann 6 Gewerkschaften zeitlich befristet worden war) lautet der Aufruf dieses Mal auf "unbefristeten" Streik. Das bedeutet, dass alle 24 Stunden in Vollversammlungen über die Fortführung des Streiks entschieden werden wird. Dies war bereits am 19. Oktober vielerorts, für die Frage einer Fortführung des am Vortag massiv durchgeführten Streiks, der Fall gewesen. Im Raum Paris etwa fanden zahlreiche Vollversammlungen mit Voten um die 95 Prozent für die Fortführung des Arbeitskampfs statt. Allerdings hatten daran real nur die Anhänger/innen jener Gewerkschaften (SUD Rail und FO Cheminots), die für eine unbefristete Weiterführung über den 24stündigen Aktionstag vom 18. Oktober hinaus eintraten, teilgenommen. Insbesondere die relativ mächtige CGT-Eisenbahner (CGT Cheminots) lie b ihre Leute damals, am 19./20. Oktober, nicht an diesen Vollversammlungen teilnehmen, sondern rief au b erhalb davon zur vorläufigen Wiederaufnahme der Arbeit auf. Insofern kam es zur dem Zeitpunkt nicht zur Konfrontation zwischen den beiden Optionen, unmittelbare unbefristete Fortführung des Ausstands o d e r vorläufige Beendigung zwecks Kräftesammelns und Eröffnung von Verhandlungen, innerhalb der Vollversammlungen.

Heute stellt sich die Lage anders dar als am 18. Oktober und den darauffolgenden Tagen. Denn jetzt rufen nahezu alle bei der französischen Bahngesellschaft SNCF vertreteten Gewerkschaftsverbände zum unbefristeten Streik auf. (Unter den französischen Eisenbahner/inne/n ist die CGT mit gut 40 Prozent der Stimmen bei den letzten Personalratswahlen die stärkste, die linke Basisgewerkschaft SUD Rail mit knapp 15 Prozent die zweitstärkste Gewerkschaft. An dritter Position folgt die CFDT mit rund 12 Prozent, die historisch wesentlich stärker war, aber aufgrund der Unterstützung der letzten "Reformen" konservativer Regierungen in den Jahren 1995 und 2003 durch die Führung des sozialliberalen Dachverbands CFDT massiv zugunsten von SUD Rail Federn lassen musste.)

CFDT: Konsequenzen aus dem momentanen Scheitern des Verhandlungswegs

Als letzte Gewerkschaft beschloss die CFDT-Eisenbahner am Dienstag dieser Woche, dem 6. November, sich dem Streikaufruf anzuschlie b en. Bis dahin hatte die Leitung des Dachverbands CFDT eisern an dem Versuch festgehalten, zuerst (und möglichst erfolgreich) Verhandlungen mit der konservativen Regierung von François Fillon zu führen. Es war die manifeste Unmöglichkeit, dadurch etwas zu erreichen, die nun zum Kurswechsel der CFDT und ihrem Anschluss an die Streikfront geführt hat. "Man hat den Eindruck, dass die Regierung unbedingt möchte, dass es zum Streik kommt", kommentierte CFDT-Generalsekretär François Chérèque Anfang dieser Woche leicht frustriert. Sein Gewerkschafts-Dachverband habe Arbeitsminister Xavier Bertrand unmittelbar nach dem letzten Streik vom 18. Oktober handfeste Angebote gemacht, aber bislang keinerlei Anwort darauf erhalten.
(Vgl. http://abonnes.lemonde.fr/web/depeches/0,14-0,39-33106991@7-37,0.html externer Link)

Die Position der CFDT lautet, dass sie grundsätzlich die Abschaffung der ,Régimes spéciaux' (Sonderregelungen zur Rente, die bestimmten Berufsgruppen eine frühere Pensionierung, von Eisenbahner/inne/n bis hin zu technischen Mitarbeitern der Pariser Opern) akzeptiert. Aber sie schlägt eine Aufschiebung der für die künftigen Renter/inne/n aus fehlenden Beitragsjahren resultierenden Abschläge bei den Pensionen um ein paar Jährchen bzw. ihre schrittweise Einführung vor, sowie eine Einbeziehung bestimmter Prämien in die Grundlohn, um die Pensionen nicht gar zu sehr absacken zu sehen. (Die Beschäftigten der Energieversorgungsunternehmen EDF und GDF, die bislang ebenfalls aufgrund von Sonderregelungen relativ früh in Rente gehen können, rechnen derzeit mit durchschnittlich 300 Euro Verlust bei ihrer Pensionen. Denn ihnen werden künftig Beitragsjahre fehlen, wenn ihr Renteneintritt theoretisch auf den Zeitpunkt des Erreichens von 40 Beitragsjahren verschoben werden wird. In der Praxis werden die Leute ja nicht unabhängig sehr viel später in Rente gehen - vielleicht mit 60 statt bisher 55 bei EDF, aber kaum mit über 70 -, wohl aber massiv an Rentenbeträgen verlieren, da ihnen massiv Strafbeträge für fehlende Beitragsjahre angerechnet werden.) Zudem fordert die CFDT, dass zumindest einzelne Beschäftigtenkategorien aufgrund ihrer besonders harten Arbeitsbedingungen früher als andere in Rente gehen dürfen.

Dabei nimmt sie lediglich die Regierung beim Wort, die ständig das Argument im Munde führt, dass die Eisenbahner/innen ihre Pensionsregelung (Rente ab 55 ist möglich, speziell für Lokführer ab 50) nicht länger verdienten, da die Arbeitsbedingungen nicht mehr so körperlich hart seien wie früher auf den Dampflokomotiven, während es "andere, wirklich hart arbeitende Berufsgruppen" gebe. Bislang dient diesen Argument Regierungskreisen nur dazu, die Abschaffung bestehender Vorteile für die Eisenbahner zu rechtfertigen, während von einer Einführung entsprechender Vorteile (beim Rentenalter) für die oft beschworenen anderen Berufsgruppen noch nie konkret die Rede war. Zwar wurde 2003, parallel zur damaligen allgemeinen "Rentenreform" - die noch nicht die ,Régimes Spéciaux' betraf -, eine Verhandlungsrunde zwischen "Sozialpartnern" zu diesem Thema eröffnet. Sie steht unter dem Stichwort "Pénibilité du travail" (harte o. erschwerte Arbeitsbedingungen). Aber bisher wurden dort nur Worte gewechselt, ohne dass sich abzeichnen würde, dass das Arbeitgeberlager auch nur im geringsten eine entsprechende Rücksichtnahme auf bestimmte Beschäftigtengruppen plant. Allerdings erklärt auch die Regierung im Moment, im Hinblick auf die geplante Abschaffung der ,Régimes spéciaux' Rücksichten auf besondere Situationen von ,Pénibilité' in bestimmten Berufsgruppen nehmen zu wollen. Dabei verhält es sich freilich - bisher jedenfalls - ein bisschen wie mit dem Monster von Loch Ness, das ab und zu immer wieder mal "auftaucht", ohne jedoch dingfest gemacht werden zu können.

Bislang hat die CFDT, haben aber auch die anderen grundsätzlich zu Gesprächen mit der Regierung bereiten Gewerkschaften auf dem Verhandlungswege nichts erreichen können. Die Wochenzeitung ,Le Canard enchaîné' schildert das vorherrschende Szenario in ihrer Ausgabe von diesem Mittwoch folgenderma b en: "Arbeits- und Sozialminister Xavier Bertrand ist machtlos. Premierminister François Fillon ist nicht erreichbar. Und Präsident Nicolas Sarkozy zieht es ins Fernsehen anstatt zu Gesprächen."

Die autonome Lokführergewerkschaft FGAAC

"Rechtsaußen" (in gewissem Sinne) unter den bei der Bahngesellschaft SNCF vertretenen Gewerkschaften steht im Augenblick die autonome = berufsgruppenspezifische Lokführergewerkschaft FGAAC. Dieselbe Gewerkschaft hatte im Vorfeld des 24stündigen Warnstreiks und Aktionstags vom 18. Oktober noch mit die radikalsten Töne gespuckt und (neben der linksalternativen SUD Rail und der populistisch-schillernden FO Cheminots) zur unbefristeten Fortführung des Streiks über den Abend des 18. 10. hinaus aufgerufen. Umgekehrt bildet sie momentan die einzige Gewerkschaft unter den französischen Eisenbahnern, die nicht zum Ausstand ab kommenden Dienstag Abend aufruft.

Den Hintergrund dafür bilden die Sonderzugeständnisse, welche die französische Regierung und die Bahndirektion der SNCF im Laufe des letzten Aktionstags der Berufsgruppe der Lokführer/innen in Aussicht gestellt haben. Demnach wird zwar auch für die Lokführer die bisherige Sonderregelung - unter den ,Régimes spéciaux' konnten sie mit 50 Jahren in Rente gehen - fallen. Aber aufgrund spezifischer Anrechnungsmechanismen wird es ihnen auch zukünftig ermöglicht werden, immerhin noch fünf Jahre früher als andere Beschäftigte (bei der Bahn oder anderswo) in Rente zu gehen: Wenn, den Plänen der Regierung zufolge, ab 2012 für die Eisenbahner/innen das "normale" Rentenregime statt des bisherigen Sonderstatus gilt, dann werden sie 40 Jahre - später dann 41 Jahre, aufgrund der anstehenden Anhebung für alle Berufsgruppen - Beitragsjahre aufweisen müssen, um eine volle Pension beziehen zu können. Das früheste Rentenalter wird 60 sein, und die Grenze für den Renteneintritt wird bei 65 liegen, wie bei den meisten Beschäftigtengruppen derzeit (seit der "Fillon-Reform" von 2003, die die 65er Grenze einführte). Die Lokführer/innen aber werden mit mindestens 55 Jahren in Rente gehen können. In ihrem Falle hat also die Anerkennung der ,Pénibilité', welche die Regierung auch sonst so gerne im Munde führt, tatsächlich einen Durchbruch erfahren. Aber nur aus taktischen Gründen: Um die Lokführergewerkschaft FGAAC aus der Streikfront der übrigen Gewerkschaften heraus zu brechen.

An ihrem Falle lässt sich die besondere Problematik berufsgruppenspezifischer Gewerkschaften ablesen: Mal besonders radikal, können sie an anderen Fällen wiederum besonders leichte Umfallkandidaten sein. Aufgrund ihrer sozialen Natur müssen sie in relativ geringem Maße unterschiedliche, mitunter widersprüchliche Lohabhängigeninteressen unter einen Hut bringen. Aus diesem Grunde können sie ihren Wimpel auf besonders ausgeprägte Weise mal in die eine, aber eben mal auch die andere Richtung hängen.

Heftiger Gegenwind dürfte pfeifen

Die Regierung bereitet sich fest darauf vor, dass es zur Kraftprobe mit den Gewerkschaften kommen wird, ja sucht sie geradezu herauszufordern. In ihren Augen ist es nicht schädlich, es eher zum Zusammenstoß statt zu einer irgendwie gearteten Verhandlungslösung kommen zu lassen, jedenfalls so lange sie siegreich aus dem Kräftemessen - das sie nachgerade provoziert - hervorgeht.

"Es wird keine weiteren Zugeständnisse geben. Ich habe in der Vergangenheit gezeigt, dass ich nicht zu der Sorte gehöre, die nachgibt. Ich bin bereit, Krisen und sogar einer gewissen Unpopularität ins Auge zu sehen" tönte Premierminister François Fillon am Mittwoch Vormittag im Radiosender Europe 1. "Legen Sie Ihre Sicherheitsgurte an!", auf diese Formel hatte er die Haltung seiner Regierung am Vortag vor den Parlamentariern der Regierungspartei UMP gebracht. Staatspräsident Nicolas Sarkozy seinerseits, der sich im Moment (vom 6. bis 8. November) in den USA aufhält und dort Präsident George W. Bush inzwischen seine offene Unterstützung zu den Krisenherden Iran und Afghanistan erbrachte, rief am Dienstag vor den Unternehmern des ,French American Business Council' in Washington D.C. aus: "Es wird Streiks, Demonstrationen geben, aber ich werde durchhalten. Nicht, weil ich sturköpfig wäre, sondern weil es im Interesse meines Landes liegt. Wir sind zu weit zurückgewichen, wir können nicht mehr zurückweichen." Anlässlich eines Meetings in wahlkampfähnlicher Atmosphäre mit Auslandsfranzosen in der französischen Botschaft in den USA tönte Sarkozy: "Man verspricht mir einen schwierigen November. Es ist nicht der Monat November, der schwierig werden wird, sondern die gesamte fünfjährige Amtszeit. Ich bin gewählt worden, um schwierige Dinge zu tun, und ich werde sie durchführen." Kurzum: Schweiß und Tränen, im Namen der Aufbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit.

Das Kalkül der Regierung lautet, dass ein richtiges Zusammenrasseln mit den Gewerkschaften besser ist, als irgendwelche Zugeständnisse zu machen, sofern sie dabei schlussendlich ihre "Durchsetzungsfähigkeit" - und die Vergeblichkeit, ja Sinnlosigkeit sozialer Widerstände - demonstrativ unter Beweis stellen kann. Ihr Vorbild scheint dabei das Szenario des nordenglischen Bergarbeiterstreiks unter der damaligen britischen Premierminister Thatcher 1984/85 (der nach neunmonatiger Dauer mit einer herben Niederlage der Gewerkschaften endete) zu sein. Geht eine solche Rechnung auf, denkt sich die Regierung, dann braucht sie fürderhin auf die Gewerkschaften keinerlei Rücksichten mehr zu nehmen, sofern sie es nicht selbst zu Legitimationszwecken einplant.

Die Sache könnte freilich daneben gehen, denn eventuell schätzt die Regierung das Meinungsklima im Lande dazu falsch ein. So erklärt auch der UMP-Abgeordnete Jérôme Chartier, der Premierminister Fillon persönlich nahe steht, in der Donnerstagsausgabe der Pariser Abendzeitung ,Le Monde' vorsichtig: "Es gibt zwei Unbekannte (im Spiel): das Ausmaß der Mobilisierung (der Streikenden) und die Beliebtheit ihrer Bewegung unter den Franzosen. Die Regierung wartet ab, bis sie diese Unbekannten der Gleichung kennt."

Isolierung oder Solidarität?

Was Letztere betrifft, also die Unterstützung oder ausbleibende Unterstützung für die Streikbewegung in der öffentlichen Meinung, so glaubt die Regierung, über beste Karten zu verfügen. Ihr wird es darum gehen, die Streikbewegung von der Mehrheit der öffentlichen Meinung zu isolieren. Gelingt dies, muss der Transportstreik mutmaßlich tatsächlich über kurz oder lang "austrocknen", und die großen Gewerkschaftsbünde CGT und CFDT (Letztere ohnehin.) werden versuchen, die Glut so schnell wie möglich auszutreten.

Tatsächlich war es noch selten so schwierig, die Auswirkungen eines Streiks auf das öffentliche Meinungsklima zu prognostizieren, wie derzeit. Es kommt bei den Umfragen fast vollständig darauf an, wer die Frage stellt und vor allem wie, und mit welcher Einführung und Gesamtdarstellung die entsprechenden Einzelfragen präsentiert werden.

Das konservative Wochenmagazin ,Le Figaro Magazine' präsentierte vor rund 10 Tagen triumphierend eine Umfrage, die auf der Titelseite mit den Worten ankündigt war, 85 % der Befragten seien gegen den sich abzeichnenden Transportstreik. In Wirklichkeit war das Ergebnis der von dem rechten Magazin in Auftrag gegebenen Umfrage etwas nuancierter; die 85 Prozent bezogen sich auf eine allgemeine Frage danach, ob die Befragten die Aufrechterhaltung eines Minimalbetriebs (Service minimum) während des Transportstreiks wünschen würden. Da die Mehrzahl der Leute nicht Masochisten sind, antworteten sie überwiegend mit ,Ja'. Diese Frage fällt natürlich zugleich auf ideologisch vermintes Terrain, zumal es seit August dieses Jahres ein eigenes Gesetz zum ,Service minimum' in den öffentlichen Transportbetrieben gibt. (Angenommen unter dem Vorwand, die armen Passagiere nicht auf dem Trockenen sitzen lassen zu wollen. In diesem Falle hätte man sich freilich vielleicht eher um die 97 Prozent Ausfälle der öffentlichen Transportmitteln, die veraltetem Material, Signalpannen u.Ä. geschuldet sind, kümmern müssen - statt um die 03 Prozent Ausfälle im Jahresdurchschnitt, die mit Streikbewegungen zusammen hängen.) Dieses Gesetz vom August 2007 tritt freilich erst zum 1. Januar 2008 in Kraft, ist also auf den kommenden Streik noch nicht anwendbar, und benötigt für seine konkrete Anwendung vor allem Betriebsvereinbarungen in den einzelnen Transportbetrieben. Am Ablauf des kommenden Streiks wird dieses Gesetz also noch nicht viel ändern. Aber ideologisch ist das Publikum mehr und mehr darauf gestimmt worden, dass ein Ausfall der öffentlichen Transportmittel durch Streik eine "nicht hinnehmbare Attacke auf die Grundrechte" des Publikums (wie des Rechts auf Arbeit und auf Freizügigkeit), eine "Geiselnahme der Passagiere und des ganzen Landes" usw. bilde. - Ansonsten fallen die Ergebnisse derselben Umfrage im Auftrag des ,Figaro Magazine' über die sonstigen Aspekte des Transportstreiks etwas moderater aus. Doch freilich kommen die Umfragemacher bei ihrer Nachfrage nach der "Reform" (d.h. Abschaffung) der ,Régimes spéciaux' auch zu dem Ergebnis, dass angeblich rund 70 Prozent der Befragten diese befürworteten.

Nicht alle Umfragen bringen so eindeutige Ergebnisse wie diese. Aber fest steht, dass ein heftiger Gegenwind gegen den Transportstreik in Teilen der (ver)öffentlich(t)en Meinung pfeifen wird, und dies vor allem so lange, als der kommende Arbeitskampf in einigen Sektoren isoliert ausgetragen wird.

Dem Vernehmen nach hat die Parteiführung der konservativen Regierungspartei UMP ihre Basis dazu aufgeforderte, Petitionen und sogar Demonstrationen zugunsten des "Ja zur Reform der ,Régimes spéciaux'" zu organisieren. Auch nimmt das Netzwerk der Bewegung "Stoppt den Streik!" vom Frühsommer 2003, das damals "immerhin" gegen Schluss der damaligen Streikwelle eine Gegendemonstration an einem Sonntag (dem 15. Juni 03) mit rund 18.000 Teilnehmern - überwiegend aus den sog. besseren Schichten und aus der politischen Rechten aller Schattierungen - auf die Beine stellen konnte, allem Anschein derzeit wieder seine Dienste auf. Angeführt war die damalige Anti-Streikbewegung von jungen Galionsfiguren, diplomierten Schwachköpfen mit Abschlüssen von höheren Handelsschulen wie der jungen Vorzeigefrau Sabine Hérold. Deren Netz unter dem Namen ,Liberté Chérie' ("Geliebte Freiheit", unter flagrantem Missbrauch einer berühmten Zeile eines Gefängnisgedichts aus der französischen Résistance) wird offenkundig reaktiviert, wovon eine Reihe von E-Mails aus unterschiedlichen Kanälen zeugen. Auch berichten Gewerkschaftsorganisationen wie der (relativ linke und gegenüber der Führung des Dachverbands oppositionelle) Transportarbeiterverband der CFDT, die FGTE-CFDT, sie hätten noch nie so viele Pöbelmails gegen die "privilegierten" Eisenbahner und gegen den Transportstreik in geballter Form erhalten wie zur Zeit. Offenkundig organisiert.

Die Anti-Streikbewegungen haben in der jüngeren Periode zugenommen. Noch während der Herbststreiks in den öffentlichen Diensten im November/Dezember 1995 hatten sie eine exotische Außenseiterrolle eingenommen: 100 bis höchstens 200 Aktivbürger standen sich an einem Sonntag Nachmittag mit ihren dummen Parolen die Beine auf der Pariser Place du Châtelet in den Bauch. Aber bereits während der Streiks gegen die Rentenreform 2003 (s.o.) hatten sie ein etwas anderes Kaliber. Anlässlich der Jugend- und Studierendenbewegung, mit Unterstützung durch alle Gewerkschaften, gegen den "Erstseinstellungsvertrags" CPE im März/April 2006 ging die offensive Anti-Streik-Akvitität wieder zurück. 1.000 bis maximal 2.000 Männekens tummelten sich bei den Kundgebungen "Stoppt die (Uni-)Blockaden!", zu denen unter anderem die Gratistageszeitung ,Métro' - ein Gossenblatt mit sehr hoher Auflage - unentwegt aufrief. Aber wovon die konservative Regierung derzeit träumt, ist offenkundig, vor dem Hintergrund einer Ermüdung und geschürten Empörung über anstehende Ausfälle der Transportmittel, ein Remake der Massendemonstrationen der Rechten vom 30. Mai 1968. Damals hatten, nach den mehrfachen Demonstrationen vieler Hunderttausend Menschen während des Mai 1968, dieses Mal auch eine Million Menschen auf einen Gegenaufruf der Gaullisten reagiert. Ferner erlebten die regierenden Gaullisten dann im darauffolgenden Monat, im Juni 1968, einen Erdrutschsieg bei den darauffolgenden Parlamentswahlen. (Damals hatte sich gerächt, dass die Bewegung zwar die Formen eines veritablen revolutionären Generalstreiks angenommen und zu einem echten politischen Vakuum an der Staatsspitze geführt hatte, aber über keine Perspektive politischen Wechsels verfügte. Ein Vakuum kann nicht lange offen bleiben, bevor es durch wen auch immer gefüllt wird.)

Entscheidend wird also sein, ob die streikenden Transportbediensteten (zu denen noch jene der Energieversorgungsunternehmen EDF und GDF hinzu kommen) über mehrere Wochen hinweg isoliert bleiben werden, oder aber ob es zu einem Zusammenfluss der Mobilisierung in unterschiedlichen Sektoren oder jedenfalls massiven Sympathiebekundungen für die Streikenden anderswo kommt. Diese Frage ist derzeit noch vollkommen offen. Ein Umkippen der öffentlichen Meinung im negativen Sinne ist jederzeit möglich. Allerdings dürfte die Regierung gut daran tun, sich nicht allzu sehr in Sicherheit zu wiegen:

  • Nicolas Sarkozy hat soeben, vergangene Woche, sein Präsidentengehalt per Votum der Parlamentarier von zuvor rund 8.200 Euro auf über 19.000 Euro monatlich anheben lassen, eine Steigerung um 174 Prozent. Möglicherweise, um die Unterhaltungszahlungen für seine soeben geschiedene Gattin Cécilia ohne Einbußen beim Lebensstandard leisten zu können. Das kommt, trotz allen Medienhypes um die Sarkozys und ihre Scheidung, nicht unbedingt gut an.
  • Das Arbeitgeberlager seinerseits ist durch die Affäre rund um die "schwarzen Kassen erheblich geschwächt. In den letzten vier Wochen geriet der Präsident des Metall-Arbeitgeberverbands UIMM; Denis Gauthier-Sauvagnac, ins Visier der Ermittler, nachdem herausgekommen war, dass er mittels einer Kreditkarte in den Jahren 2000 bis 2007 rund 15 Millionen Euro in bar abgehoben hatte, deren Verbleib völlig ungeklärt ist. Bei dieser Gelegenheit kam heraus, dass es im Rahmen von Kollektivverhandlungen (ungefähre Entsprechung zum deutschen Begriff Tarifverhandlungen) ein weitverzweigtes Netz von Korruptions- und Schmierpraktiken gegeben hat. Die Rede ist von schwarzen Kassen des Metall-Arbeitgeberverbands in Höhe von 600 Millionen Euro. Von der Präsidenten des zentralen Arbeitgeberverbands MEDEF, Laurence Parisot, stammt in diesem Zusammenhang das schöne Bonmot, wonach "wir alle vielleicht unbewusst gewusst" haben, dass es das irgendwas gebe, was sie mit einem "Familiengeheimnis" verglich. Gauthier-Sauvgnac versuchte erst, seinerseits die Gewerkschaften zu beschmutzen - für deren Finanzierung die Kassen u.a. bestimmt gewesen seien -, wobei in der öffentlichen Wahrnehmung möglicherweise tatsächlich auch "etwas an ihnen hängen geblieben ist". Ansonsten mochte er nicht sehen, wo es da ein Problem gebe. Inzwischen hat er aber darin eingewilligt, sein Amt in wenigen Wochen zur Verfügung zu stellen. Der MEDEF sah sich gezwungen, seinen bisherigern Verhandlungsführer bei den am 7. September eröffneten Gesprächen mit den Gewerkschaften über den Kündigungsschutz - welcher Gauthier-Sauvagnac bis dahin war - im fliegenden Wechsel auszutauschen. Neue Verhandlungsführerin wurde Cathy Kopp, die Vorstandsvorsitzende der Hotelkette ACCOR, was auch (zusammen mit der Wahl von Laurence Parisot, bis dahin Leiterin eines Instituts für Umfragen & Meinungsforschung, zur MEDEF-Vorsitzenden vor rund zwei Jahren) den Aufstieg des Dienstleistungs- auf Kosten des traditionellen Industriekapitals widerspiegelt. Insgesamt aber steht das Kapitalistenlager in der öffentlichen Meinung zur Zeit auf einer geschwächten Position. Allzu viele Zugeständnisse, die von ihnen verlangt werden, dürften die abhängig Beschäftigten unter diesen Bedingungen wohl nicht hinnehmen.

Studentische Streiks und Blockaden

Unterdessen ist in den letzten 8 bis 14 Tagen auch in die französische Studierendenschaft erhebliche Bewegung gekommen. Nunmehr organisiert sich der Protest gegen das neoliberale Hochschulrahmengesetz "Gesetz zur (finanzpolitischen) Autonomie der Hochschulen", dessen Verabschiedung Anfang August - mitten in der Urlaubsperiode - nicht verhindert werden konnte. An 40 (von insgesamt knapp 100) französischen Universitäten wurden in den letzten Tagen "Störungen" verzeichnet. An zehn von ihnen wurden bis im Laufe des Mittwoch Blockaden oder Blockadeversuche verzeichnet.

Ein "Kollektiv gegen die Autonomie der Universitäten" fasst derzeit die linksradikalen Studierendengewerkschaften FSE und SUD Etudiants, einen Teil der Basis der mit Abstand größten Studierendengewerkschaft UNEF und politische Strömungen der radikalen Linken. Es prangert vor allem folgende Punkte an der geplanten finanzpolitischen Autonomie der Hochschulen an: den Rückgang an inneruniversitärer Demokratie, da die persönliche Macht des Universitätspräsidenten im selben Atemzug gestärkt wird; den verstärkten Rückgriff auf Geldmittel aus der Privatwirtschaft, was notwendig mit der finanzpolitischen Autonomie einhergehen wird; und die geplante verstärkte Rekrutierung prekärer Mitarbeiter auf Basis privatrechtlicher Verträge. Die Führung der UNEF lehnt die Forderung nach einem vollständigen Rückzug des LRU-Gesetzes (LRU = "Gesetz über die Freiheit und Verantwortung der Universitäten", so der offizielle Titel, unter dem es im Gesetzblatt erschien) ab, da sie bereits im Frühsommer mit der Regierung verhandelt hat und gegen einige institutionelle Garantien - sprich Posten - ihr grünes Licht für die Reform grundsätzlich gegeben hatte. Doch ist die UNEF derzeit gezwungen, auf den fahrende Zug des Protests aufzuspringen, und unterstützte diese mit, um "Verbesserungen" am Gesetzestext zu fordern sowie um von anderen Themen (ungenügende Wohnheimplätze, Kaufkraft der Studierenden) zu reden. Die Führung der UNEF befindet sich fest in der Hand einer Unterströmung der französischen "Sozialistischen" Partei.

Die Zentren der Protestbewegung sind bislang die Universitäten für Geisteswissenschaften (Literatur, Psychologie und Soziologie) in Toulouse sowie Rouen - zwei Städte, in denen auch ansonsten ein Umfeld starker sozialer Bewegungen besteht. Dort sind die Studierenden seit dem 30. Oktober im Streik. Am vergangenen Wochenende traf sich in Toulouse-Mirail auch bereits eine (noch embryohafte) "Nationale studentische Streikkoordination".

Zwei weitere Hochschulen, Paris I-Tolbiac - eine Außenstelle der Sorbonne für Geisteswissenschaftler/innen - und Aix-Marseille, wurden infolge von Blockadeversuchen und Vollversammlungen durch die Administration autoritär geschlossen. In der Nacht vom Mittwoch zum Donnerstag griff die Polizei in Paris I-Tolbiac (der deutsche Name würde übrigens "Zülpich" lauten) und an der literaturwissenschaftlichen Fakultät in Nantes ein, um studentische Blockierer/innen zu entfernen. Auch das Hauptgebäude der Sorbonne, wo sich der Beginn einer Besetzung formiert hatte, wurde in der Nacht geräumt. Am Dienstag hatten dort 400 Studierende eine Vollversammlung abgehalten und in der darauffolgenden Nacht drei Hörsäale besetzt. Die zuständige Hochschulministerin Valérie Pécresse erklärte, sie verfolge die studentischen Proteste mit "Aufmerksamkeit".

Vorläufiges Fazit

Entscheidend wird die Frage sein, ob diese unterschiedliche "Protestherde" auf irgendeine Weise in Verbindung zueinander treten können, und eine drohende Isolierung in den Augen der öffentlichen Meinung (vor allem des Transportstreiks!) durchbrochen werden kann.

Bernard Schmid, Paris, 08.11.2007


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