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Updated: 18.12.2012 15:51
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Marseille/Korsika: Allgemeiner Aufruhr wegen drohender Privatisierung der Fährgesellschaft SNCM

Für spektakuläre Bilder sorgten die Seeleute der in Marseille ansässigen Schifffahrtsgesellschaft SNCM (Société Nationale Corse - Marseille) vorige Woche. Die Abfolge der Bilder ist beeindruckend: Da ist das von 40 Seeleuten am Dienstag aus dem Marseiller Hafen ins nordkorsische Bastia "entführte" Schiff, die Pascal Paoli. Die Erstürmung des Fährschiffes, am Mittwoch morgen - durch Mitglieder des Sondereinsatzkommandos GIGN (eine militarisierte Polizeitruppe, die dem Verteidigungsministerium untersteht), die sich von Helikoptern aus an Deck abseilen und den "Meuterern" Handschellen anlegen. Der spöttische und fast heitere Empfang, mit ironischem Applaus, der dem Sturmkommando an Bord bereitet wird. Schließlich der Jubel, der die ersten 36 Freigelassenen (zunächst wurden noch vier der "Meuterer" in Haft belassen, die am Freitag und Samstag ihrerseits frei kamen, gegen die aber ein Strafverfahren eröffnet wird) anschließend auf Korsika empfängt. In Marseille hätte ähnliches passieren können, deswegen hatte der GIGN das "rückeroberte" Schiff auch nicht dorthin zurück-, sondern nach Toulon umgeleitet.

Dieser Aufsehen erregendste Moment des Ausstands gegen die drohende Zerschlagung der SNCM, darf nicht vergessen machen, dass dahinter eine breitere Streikfront steht. Der gesamte Hafen von Marseille, nicht nur die Anlegestellen der SNCM, wird seit über einer Woche bestreikt. In Sète, 150 Kilometer weiter westlich, wurden in der ersten Wochenhälfte die unter Zeitvertrag stehenden Marseiller Hafenarbeiter - die dort von ihrem Arbeitgeber zu Ersatzarbeiten gezwungen werden sollten - durch ihre Kollegen von der CGT solidarisch in Empfang genommen und vor dem Arbeitszwang geschützt. In Fos-sur-Mer und Laréva, im weiteren Umland von Marseille, lagen die gesamten Ölhäfen der Region lahm. Sie wurden am Samstag früh durch die Polizei wieder "geöffnet", ebenso wie die Häfen auf Korsika, wo gegen Ende der Woche sonst die Treibstoffversorgung zusammenzubrechen drohte.

Hafenarbeiter und Seeleute wehren sich gegen den drohenden Verkauf der SNCM, aber auch gegen Pläne zur Privatisierung des gesamten Marseilles Freihafens (Port autonome de Marseille). Die Gesellschaft SNCM, die seit Jahrzehnten die Fährlinien nach Korsika und Algerien betreibt, ist seit der Öffnung ihres Sektors für private Konkurrenz 1996 in die roten Zahlen gerutscht. Mit verantwortlich dafür ist der französische Staat, dem bisher 100 Prozent der Anteile gehörten: Als ideeller Gesamtvertreter des einheimischen Kapitals verpflichtete er die SNCM dazu, nur Schiffe von französischen Werften zu kaufen - dachte aber nicht daran, der Gesellschaft finanziell unter die Arme zu greifen, wenn sie dadurch höhere Kosten hatten als ihre privaten Konkurrenten. Die SNCM hatte aber auch höhere Personalkosten, da sie mehr Leute beschäftigt und kämpferische Gewerkschaften hat, die für die Einhaltung (nicht allzu ungünstiger) Tarifverträge sorgten.

Der ursprüngliche Plan der Pariser Regierung sah vor, die Gesellschaft zu 100 Prozent zu privatisieren und geschlossen an einen französisch-amerikanischen Investmentfonds zu verkaufen. Dieser hätte die SNCM freilich nicht behalten, um sie zu nutzen - der Fonds hat keinerlei Kompetenz im Transportsektor -, sondern ausgeschlachtet, um ihre Reste weiter zu verkaufen. Die starken Widerstände führten bereits jetzt dazu, dass der Staat eine Sperrminorität von 25 Prozent behalten und - neben dem Investmentfonds - noch einen privaten industriellen Betreiber in Höhe von 30 Prozent hereinholen will. Es handelt sich um die Transportfirma Connex, einen Ableger des Konzerns Véolia (Vivendi); Connex gehört einem persönlichen Freund von Premierminister Dominique de Villepin und ist noch dazu dieselbe Firma, die am vorletzten Septemberwochenende den ersten vollständig privatisierten Zug in Frankreich rollen liess, wogegen im ostfranzösischen Dugny rund 300 Angehörige der linken Eisenbahnergewerkschaft SUD Rail und SympathisantInnen protestierten. Mit dem neuen "Sanierungsplan" erklärt sich die CGT nach wie vor nicht einverstanden, die ihrerseits mindestens die Erhaltung einer Mehrheitsposition des französischen Staates in Höhe von (wenigstens) 51 Prozent fordert, um diesen jederzeit sofort in die politische Verantwortung für den eventuellen Abbau von Arbeitsplätzen nehmen zu können. Am Montag wurde in Marseille erneut verhandelt, bis zur Stunde (Montag abend) noch anscheinend ergebnislos.

Den Regierungsplänen schlägt harte Opposition entgegen. Dabei treffen sich aber in Wirklichkeit zwei verschiedene Problemstränge: Der soziale Konflikt vermischt sich mit dem Benachteiligungsgefühl eines Teils der korsischen Inselgesellschaft. Diese Empfindung kann sich auf einen gewissen Realitätsgehalt stützen - tatsächlich hat der französische Staat, der die Mittelmeerinsel 1768 der Republik Genua abkaufte, Korsika zwei Jahrhunderte lang weitgehend unterwickelt belassen. Der Grund dafür war, dass Korsika lange Zeit hauptsächlich als Reservoir für die Rekrutierung von Siedlern für die Kolonien und von Freiwilligen für Armee und Polizei genutzt wurde. Längst aber ist diese durchaus reale Benachteiligung in der korsisch-nationalistischen Bewegung, die sich seit den 70er Jahren herausbildete, zum Mythos geworden: Ihr gilt Korsika im Prinzip als "zu befreiende Kolonie". Das übersieht dann doch eine Reihe von Besonderheiten der Situation. Denn Korsen haben nicht nur volle Staatsbürgerrechte in Frankreich, sondern stellten auch eine Reihe von Führungsfiguren des Staats - vom "Kaiser der Franzosen" Napoléon I. bis zum früheren Innenminister Charles Pasqua. Für die wirklichen Kolonialsubjekte, von Algerien bis Vietnam, war das undenkbar.

Der Mythos vom "nationalen Befreiungskampf auf Korsika" hat sich faktisch längst in Luft aufgelöst, viele der bewaffneten Nationalistengrüppchen agieren längst wie reine Mafiosi. Übrig geblieben ist ein subjektives rebellisches Gefühl, das jetzt auch den spektakulären Aktionen des Syndicat des travailleurs corses (STC, Gewerkschaft der korsischen Arbeiter) Nahrung gibt. Dieser nationalistischen Inselgewerkschaften gehörten die 40 "Meuterer" an Bord der Pascal Paoli an.

Dabei sind die korsischen Nationalisten freilich inkonsequent gegenüber ihren ideologischen Prinzipien - der jetzige Kampf richtet sich gegen den Rückzug des französischen Staates aus der SCNM, damit die Beschäftigten nicht fallen gelassen werden. Diese Inkonsequenz datiert freilich nicht erst von gestern. Noch 1989 hatte der STC einen Streik der anderen Gewerkschaften auf denselben Fährlinien, die jetzt umkämpft sind, im Namen korsischer Interessen boykottiert: Die Anbindung der Insel an den Kontinent und ihre Versorgung dürfe nicht gefährdet werden. Im September vorigen Jahres hatten der STC und die anderen Gewerkschaften am Marseiller Sitz der Fährgesellschaft sogar gegeneinander gestreikt. Zuerst hatte die korsische Nationalistengewerkschaft für die bevorzugte Einstellung von Einwohnern der Insel bei der SNCM gestreikt - im Anschluss dann hatten die CGT und andere Organisationen für die Rücknahme dieser "Diskriminierung" zum Ausstand geblasen. Am Schluss stand eine Lösung, die soziale Interessen über regionale Zugehörigkeit stellte: Alle prekär, etwa mit Zeitverträgen, auf den Fähren Beschäftigten mussten durch die SNCM festangestellt werden - egal wo sie wohnen.

Wenn das korsische Rebellentum jetzt mit dem sozialen Widerstand der übrigen Mitarbeiter bei der SNCM zusammentrifft und alle Gewerkschaften an einem Strang ziehen, dann ist das vom Ergebnis her nur zu begrüßen. Jedoch wäre es Zeit, sich von den Mythen des korsischen Nationalismus zu verabschieden. Unbekannte, die einer der bewaffneten Splittergruppen auf der Insel angehören dürften, versuchten von dem entstandenen Aufruhr zu profitieren: Sie schossen am Donnerstag abend eine Panzerfaust - ohne Sprengladung - gegen die Präfektur in der Inselhauptstadt Ajaccio ab. Verletzt wurde niemand, aber eine Telefonistin, neben der das Geschoss einschlug, erlitt einen Schock. Diese auf der Insel weithin mystifizierte Form von vermeintlichem "Widerstand" ist der absolut falsche Weg. Vielversprechender ist die Streikfront, die den Ausstand der Seeleute bei der SNCM unterstützt: Der gesamte Hafen von Marseille, aber auch der von Sète und der Ölhafen von Fos-sur-Mer sind seit Tagen im Ausstand.

Am Samstag demonstrierten über 8.000 Menschen in der korsischen Inselhauptstadt Ajaccio, im Rahmen einer alle Gewerkschaften übergreifenden "intersyndicale" (übergewerkschaftliches Streikkomitee) unter Anführung des STC. Auch dies ist ein absolutes historisches Novum. Am Rande des Proterstmarschs kam es zu gewaltsamen Zusammenstössen: Nachdem junge korsische Nationalisten einen Zivilpolizisten "leicht verletzt" (Radiobericht) hatten, wüteten uniformierte Polizeieinheiten - wie auch im französischen Fernsehen zu sehen war - unter anderem gegen Gäste eines Cafés.

Bernhard Schmid, Paris 03.10.2005


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