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Updated: 18.12.2012 15:51
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Erneute Riots in (einzelnen) Pariser Trabantenstädten

Wieder fanden Unruhen Riots in den Pariser Banlieues statt - wenngleich sie dieses Mal örtlich und zeitlich eingegrenzt blieben, dienen sie doch führenden PolitikerInnen von rechts und "links" zum Anlass, erneut innenpolitische Verschärfungen zu fordern. Während zweier Nächte zu Anfang voriger Woche lieferten sich Jugendliche schwere Auseinandersetzungen mit den Polizeikräften in Montfermeil und Clichy-sous-Bois, wo 150 junge Leute es schafften, 250 Beamte vier Stunden lang zu 'beschäftigen'. Ein Polizeioffizier meinte im Anschluss, es sei "heftiger" zu gegangen als während der mehrtägigen Zusammenstösse in Clichy-sous-Bois Spätoktober 2005, die sich im Anschluss während mehrerer Wochen im November in Form von nächtlichen Ausschreitungen über ganz Frankreich ausgebreitet hatten. Ein solcher Effekt blieb dieses Mal aus. In der Nacht vom Montag zum Dienstag dieser Woche kam es allerdings auch in Grigny, südlich von Paris, zu Zusammenstößen zwischen rund 100 jungen Männern und der Polizei.

Tatsächlich erklären aber spezifische örtliche Verhältnisse in diesem Falle so Einiges vor allem in der Pariser Trabantenstadt Montfermeil, von wo die jüngste (kleine) « Welle » von Unruhen ausging. Doch blenden wir zurück auf Ende Mai...

«Ungefähr 100 junge Leute warfen Gegenstände auf mein Haus und riefen 'Bürgermeister, Hurensohn'». Dies behauptet das Stadtoberhaupt der knapp zehn Kilometer nordöstlich von Paris gelegenen Trabantenstadt Montfermeil, Xavier Lemoine.

Möglicherweise hat er seine Darstellung übermäßig dramatisch zugespitzt, denn im nächsten Satz - wie er durch die Pariser Abendzeitung Le Monde zitiert wird - erzählt er: «Die Zusammenstöße (zwischen Jugendlichen und Ordnungskräften) fanden 50 Meter von meinem Wohnsitz entfernt statt.» Damit dürfte sein Haus kaum von irgendwelchen Würfen getroffen worden sein. Fest steht aber, dass Bürgermeister Lemoine tatsächlich in der Nacht vom vorigen Montag zum Dienstag aufgesucht worden ist, während es auch andernorts in der von ihm verwalteten Kommune brannte. Er wohnt in einem besseren Wohnviertel aus Reihenhäuser und Villen, das aber unmittelbar die Cité des Bosquets angegrenzt, eines der vernachlässigsten und am stärksten heruntergekommenen Plattenbauviertel im gesamten Großraum Paris.

Niemand hält es für Zufall, dass gerade Xavier Lemoine zum Ziel von wütenden Attacken wurde. Dabei gibt es freilich mehrere Versionen. Er selbst behauptet, deshalb angegriffen worden zu sein, weil er am Vortag die Verhaftung eines jungen Straftäters durch seine Zeugenaussage ermöglicht habe: Wenige Tage zuvor habe er einen jungen Mann beobachtet, der aus einer Gruppe von fünf Jugendlichen heraus einen Busfahrer körperlich angegriffen habe. Die örtliche Polizei wird freilich durch die Tageszeitung Libération dahin gehend zitiert, dass es in Wirklichkeit die Überwachungskameras im Bus gewesen seien - und nicht ein Augenzeugenbericht des Bürgermeisters -, die eine Identifizierung des Aggressors ermöglicht hätten.

Andere Stimmen sehen, im Gegensatz zu Xavier Lemoine, darüber hinaus einen direkten Zusammenhang mit der äußerst repressiven und provokativen Politik des Stadtoberhaupts. Die Polizeigewerkschaft UNSA-Police erklärte etwa öffentlich: «Der Bürgermeister von Montfermeil hat die Früchte der unangemessenen Entscheidungen, die er fällte, geerntet.» Ähnlich argumentierte der Parteivorsitzende der französischen Sozialdemokratie, François Hollande, der äußerte, Lemoine habe «einen Kontext der Gewalt geschaffen». Beide Aussagen spielen auf einen Beschluss an, den Xavier Lemoine am 7. April dieses Jahres im Namen seiner Kommune angenommen hatte: Er verbot allen Jugendlichen unter 18 - tagsüber ebenso wie in der Nacht - Ansammlungen von mehr als drei Personen im Stadtzentrum. Denn letzteres möchte der rechtsaußen stehende Bürgermeister gern von unerwünschter Präsenz aus den Unterschichtssiedlungen seiner Kommune «freigehalten» sehen. Die Verordnung stand unter Androhung einer Geldstrafe von 38 Euro pro Zuwiderhandlung, für Minderjährige aus Unterschichtsfamilien eine erhebliche Drohung. Es kam zu Reibereien und Konflikten zwischen der Kommunalpolizei und Jugendlichen, die nur zu mehreren von der Schule mit Umweg über das Einkaufszentrum nach Hause gehen oder in der Mittagspause eine Pizza essen wollten. Am 29. April war das Domizil des Bürgermeisters bereits einmal angegriffen worden, nachdem drei Tage zuvor auch seine beiden Töchter am Ausgang einer Schule attackiert wurden. In der darauffolgenden Woche hob allerdings das Verwaltungsgericht von Cergy-Pontoise diese Form von Ausgangssperre wieder auf.

Rechtsradikaler Bürgermeister schüttet Öl ins Feuer

Xavier Lemoine ist Mitglied der konservativen Regierungspartei UMP, aber wohl nur zu taktischen Zwecken, weil nämlich die größere Partei ihm eine bessere politische Deckung bietet. Bis 2002 - dem Jahr, in dem er das Bürgermeisteramt übernahm - gehörte er dem Mouvement pour la France (MPF, Bewegung für Frankreich) an, einer rechtskonservativen bis rechtsextremen Kleinpartei, die sich vom Front National fast nur dadurch unterscheidet, dass sie auf offenen Antisemitismus verzichtet und sich auf Rassismus gegen arabische Einwanderer konzentriert. Dort amtierte er als Sekretär seines Amtsvorgängers im Rathaus, Pierre Bernard, der zugleich Bezirksfunktionär des MPF war. Pierre Bernard musste sein Amt als Stadtoberhaupt räumen, nachdem er zum dritten Mal wegen rassistischer Diskriminierung verurteilt worden war und ihm deshalb das passive Wahlrecht auf Zeit entzogen worden war: Seit über einem Jahrzehnt hatte er sich geweigert, ausländische Kinder in Schulen «seiner» Stadt einzuschreiben. Der Altbürgermeister nahm am 25. Juli 1996 auch an der Beerdigung von Paul Touvier teil, dem ehemaligen Chef der Miliz unter dem Vichy-Regime. (Vgl. dazu bei wikipedia externer Link sowie bei l'Humanité externer Link) Später regierte er «seine» Stadt mit einer faktischen Koalition aus bürgerlichen, rechtskonservativen und rechtsextremen Kräften ( vgl. dazu externer Link). Aus Altersgründen hat er sich aus der Politik zurückgezogen. Innenminister Nicolas Sarkozy verlieh ihm zu Anfang dieses Jahres einen Verdienstorden, wogegen die französischen Sozialisten protestierten (vgl. >> Siehe dazu externer Link) .

Polizeiliche Provokation

Feuer an die Lunte legte am Montag, dem 29. Mai die polizeiliche Hausdurchsuchung bei einem Minderjährigen, der eines Einbruchsversuchs beschuldigt wurde. Dazu veröffentlichte Libération folgenden Augenzeugenbericht: «Die Polizisten (...) sind aus dem Auto ausgestiegen, sie haben ihn (den Beschuldigten) in die Eingangshalle seines Hochhauses gestellt, und ein Polizist ist gekommen, hat ihm vor allen Leuten die Hose heruntergezogen, dann ist sein Bruder gekommen und hat ihnen gesagt: 'Warum zieht ihr ihm die Hose herunter, kommt lieber und zieht sie mir herunter'. Und dann ist es abgegangen, sie haben den Flashball hervorgezogen» - also ein Gewehr, mit dem Gummigeschosse abgefeuert werden und das 2002 bei den Polizeikräften in den französischen Banlieues eingeführt worden ist - «und ein anderer hat eine Tränengas-Spraydose heraus geholt, und die Mutter (des Minderjährigen) stand daneben, und sie haben sie mit dem Gas angegriffen.»

Besonders der Tränengasngriff auf die aus Mali stammende Frau, die ihre Kinder allein erzieht, wurde durch die Anwohner als schockierend empfunden. Später wurde sie mit auf die Polizeiwache genommen und dort im Laufe des Abends gezwungen, eine Erklärung zu unterschreiben, obwohl sie des Lesens unkundig ist - dem Papier zufolge hat sie angeblich anerkannt, einen Polizisten geschlagen zu haben. (Vgl. dazu die Sonntagszeitung 'JDD' vom 04. Juni, die auch ein Foto von Madame Komotine Coulibaly enthält.)

Daraufhin kam es in der Nacht zum Dienstag vergangener Woche zu heftigen Unruhen, die sich auf mehrere Viertel von Montfermeil und auch der Nachbarstadt Clichy-sous-Bois ausbreiteten. Dort waren Ende Oktober 2005 die beiden Jugendlichen Bouna und Zyad auf der Flucht vor einer polizeilichen Personalienfeststellung gestorben, was den Anlass zu den weit ausgedehnten Riots im November gab. Ein dritter Jugendlicher hatte sich mit ihnen zusammen in einem Transformatenhäuschen versteckt und mit schweren Verbrennungen überlebt, der inzwischen 18 gewordene Mühittin Altun. Im Herbst vorigen Jahres hatte die gesamte Presse seinen Vornamen, den man offensichtlich nur vom Hören kannte, mit «Metin» wiedergegeben.

Am Dienstag, den 30. Mai wurde er nun festgenommen, unter dem Vorwurf, er habe angeblich Steine auf Polizisten geworfen. Das bestreitet nicht nur er selbst, sondern auch Augenzeugen gegenüber der Presse. Samir Mihi von der Vereinigung AC le feu - deren Name sinngemäß «Schluss mit dem Feuer» bedeutet und die deeskalierende Arbeit vor Ort zu verrichten versucht - meint etwa, die Polizei habe wie im November «alle die Jugendlichen verhaftet, die sich am falschen Ort befunden haben, ohne zu schauen, wer wirklich etwas gemacht hat». Dies vor allem, «weil sie zahlenmäßige Erfolge vorweisen muss». Mühittins Anwalt, Jean-Pierre Mignard, vermutet dagegen eine bewusste Entscheidung des Staatsanwalts, der den jungen Mann festnehmen ließ: «Der Staatsanwalt hat dies explizit angeordnet, um die Zeugenaussage Mühittins zu schwächen und unglaubwürdig zu machen.» Just am folgenden Vormittag sollte die Nachstellung des Hergangs beim Tod der beiden Jugendlichen durch die Justiz stattfinden, doch sie konnte aufgrund der Festnahme Mühittins nicht stattfinden. Die Aussicht darauf, die Szenen nachgestellt zu sehen und nochmals zu erleben, hatte nach Ansicht vieler Beobachter die Jugendlichen von Clichy-sous-Bois in den Tagen davor in emotionale Unruhe versetzt.

Die Politik reagiert, bzw. findet einen willkommenen Vorwand

Die etablierte Politik nahm die erneuten Unruhen, die aber nur anderthalb Nächte andauerten, zum Anlass für Profilierungsversuche. Innenminister Nicolas Sarkozy ließ es sich nehmen, zum Kommissariat im benachbarten Gargan zu eilen, wo er die Polizisten für ihre Arbeit lobte - und just jene repressiven Maßnahmen zu fordern, mit denen er in der Vorwoche im Kabinett nicht durchgedrungen war. Sarkozy fordert etwa eine vollständige Abschaffung der Jugendgerichtsbarkeit für alle 16jährigen und Älteren: Ab dieser Altersstufe soll automatisch ein Erwachsenenrichter zuständig sein. Aber auch seine voraussichtliche Gegenkandidatin bei der Präsidentschaftskandidatin im April kommenden Jahres, Ségolène Royal, war um Profilierung bemüht. Bei einer Ansprache in der Pariser Trabantenstadt Bondy am Mittwoch versuchte sie Sarkozy sogar noch rechts zu überholen: Dieser sei gescheitert, und man müsse «noch härter durchgreifen». Konkret forderte Royal eine möglichen Sperrung von Sozialleistungen für die Familien jugendlicher Straftäter; eine solche wird auch durch die regierende Rechte favorisiert und für Schuleschwänzer jüngst gesetzlich verankert. Royal möchte dagegen ihren Ansatz anders verstanden wissen und möchte die gesperrten Sozialleistungen einem «Vormund» unterstellen, der über ihre richtige Verwendung wachen soll, anstatt die Leistungen lediglich zu streichen. Dennoch stößt gerade dieser Vorschlag in den Banlieues auf vehemente Kritik, da er nicht berücksichtigt, unter welchem Druck und in welchem Elend viele Familien und vor allem geschiedene oder alleinstehende Mütter leben, die in gewissem Maße die Kontrolle über ihre Kinder verloren haben - weil sie etwa spät abends noch an Supermarktkassen sitzen oder Büros putzen müssen. Ferner forderte Royal aber auch «Erziehungssysteme mit militärischem Charakter».

Die Abschaffung der Wehrpflicht durch Präsident Chirac, der 1996 den Übergang zu einer Berufsarmee beschloss, war Royal zufolge «ein Fehler, darum muss man neue Formen des Militärdienst erfinden». Prompt protestierte ein Offizier der französischen Armee, der meinte, der Beitritt zu seiner Institution werde dadurch zu Unrecht «als Strafe dargestellt». Der konservative Abgeordnete George Fenech übersetzte den Vorschlag Royals durch die konkrete Forderung, eine Einrichtung ähnlich der berüchtigten «Boost Camps» in den USA einzuführen. Dagegen reagierten größere Teile der Linken mit Kritik. Sogar der sozialdemokratische Parteivorsitzende François Hollande distanzierte sich, der nebenbei auch Ségolène Royals Lebensgefährte ist. Einer Umfrage, die 'Le Monde' in ihrer Ausgabe vom 06. Juni 06 publizierte, zufolge war die sozialistische Wählerschaft über Royals Vorstöße gespalten (50 Prozent dafür, 48 Prozent dagegen). Dagegen überwog die Zustimmung in der konservativen Anhängerschaft und in jener der extremen Rechten (81 Prozent der Wâhler des Front National stimmten zu). Mutmaßlich wollte Royal von vornherein verhindern, dass sie im Wahlkampf in der "Sicherheitsfrage" von rechts her unter Druck gesetzt werden könne.

Solche Probleme mit den eigenen Leuten dürfte Nicolas Sarkozy dagegen nicht bekommen, wenn er zukünftig weiterhin einen verschärften Kurs in der französischen Innenpolitik fordern wird.

Bernard Schmid, Paris, 07.06.2006


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