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Updated: 18.12.2012 16:07
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Frankreich: "Einen Schritt zurück, zwei Schritte vorrücken"

Nach taktischen Rückzügen wird der Reformterror offensiv vorangetrieben. Mehrwertsteuererhöhung, Kündigungsschutzabbau und Druck auf Arbeitslose auf dem Programm

Zum allerersten Mal hat der konservativ-liberale Regierungsblock, der hinter Präsident Nicolas Sarkozy steht, in den letzten 14 Tagen taktische Rückzieher einlegen müssen. Insbesondere musste er das Vorhaben der so genannten ,TVA sociale' (Soziale Mehrwertsteuer), hinter dem sich nichts anderes als das Projekt einer Erhöhung der Konsumbesteuerung - und damit der ungerechtesten Steuerform, die vollkommen vom Einkommen unabhängig ausfällt - von derzeit 19,6 Prozent auf mutmaßlich 24,6 Prozent stand, vorläufig zurückziehen. (Labournet berichtete)

Zugleich mussten das Regierungslager und auch Nicolas "Speedy Gonzalez" Sarkozy erstmals Einbrüche bei ihrer Popularität hinnehmen. Auch wenn Sarkozy, der weiterhin in allen Medien omnipräsent bleibt (so sehr, dass kritische JournalistInnen Aufsehen erregen konnten, indem sie für November einen Extra-Aufruf für einen "Tag ohne Sarkozy in Ihrer Zeitung" lancierten), weiterhin auf einen beträchtlichen Einfluss auf die öffentliche Meinung bauen kann.

Erste Popularitätseinbußen. Aber...

So fiel Nicolas Sarkozy in einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts IFOP, die am 12. September durch Radioberichte publik wurde, von zuvor 67 auf 62 Prozent "positive Meinungen". Sein blasser Premierminister François Fillon, der nicht aus dem Schatten des übermächtigen Präsidenten herauskommt (und Gerüchten zufolge irgendwann in naher Zukunft ersetzt werden soll, weil er sich vergangene Woche teilweise dem Vorhaben einer Einführung von DNA-Untersuchungen widersetzte), fiel demnach gar um 9 Prozentpunkte in der Gunst der öffentlichen Meinung: von 62 auf 53 Prozent "positive Einstellungen". Fillon hatte sich im Laufe des Sommers ein eigenes Plätzchen zu schaffen versucht, indem er noch härtere Ankündigungen tätigte, als Sarkozy in der Öffentlichkeit für tragbar hielt.

An diesem Wochenende nun verzeichneten die beiden Politiker erneut Rückgänge ihrer Popularität: Laut einer neuen Umfrage, die IFOP für die ,Sonntagszeitung' (JDD, Journal du dimanche) erstellte, fiel Nicolas Sarkozy von 69 % positiven Auffassungen zu seiner Amtsführung auf noch 61 Prozent im September. Premierminister Fillon stürzte demnach von 63 auf 56 Prozent. (Vgl. http://www.lemonde.fr/web/depeches/0,14-0,39-32528690@7-37,0.html externer Link)

Nichtsdestotrotz bleibt unter dem Strich übrig, dass Nicolas Sarkozy und seine Gang sich nach wie vor auf beträchtliche Teile der öffentlichen Meinung stützen können. Sicherlich auch, weil nach der Periode der demagogischen Ankündigungen die konkreten Schritte in der Wirtschafts- und Sozialpolitik bisher noch kaum zum Tragen kamen. Zumindest zwei "Reformprojekte", die in der vergangenen Woche enthüllt bzw. im Parlament debattiert wurden, sind jedoch durchaus nicht unpopulär: Sowohl die Einschränkung der (verglichen mit den Regeln für die Gesamtbeschäftigten, relativ günstigen) Rentenregelungen für die Eisenbahner/innen und andere Gruppen öffentlich Bediensteter -- vor dem Hintergrund eines Sozialneid-Diskurses gegen diese angeblich "Privilegierten" -- als auch die geplante drastische Beschränkung der Familienzusammenführung für Einwanderer stoßen bei Teilen der Bevölkerung durchaus auf Zustimmung. Sicherlich werden dabei auch niedere Instinkte ("Die sollen es nicht besser haben als wir Privatbeschäftigten", "Warum sollen die hier Ansprüche stellen dürfen") gegen bestimmte Gruppen mobilisiert. Das Aufkeimen von Solidarität, wenn kollektiver sozialer Protest ausbricht, kann solche Mechanismen zwar durchkreuzen. Dies hat etwa die Streikbewegung vom Herbst 1995 und - unmittelbar in ihrem Anschluss - die massenhafte Solidarisierung der Bevölkerung mit den kämpfenden öffentliche Bediensteten, aber auch die damalige Popularität der gleichzeitig aufkeimenden Sans papiers-Bewegung belegt. Erst muss es allerdings noch Bruchpunkte bzw. scharfte Bruchflächen zwischen größeren Beschäftigtengruppen und der Regierungspolitik, und damit das Entstehen von Kristallisationskernen für sozialen Widerstand geben. Noch sind wir keineswegs so weit. Und im Gegensatz zu seinem Amtsvorgänger Jacques Chirac kann Nicolas Sarkozy durchaus Teile der öffentlichen Meinung für sich und seine Ziele mobilisieren. Dort, wo Chirac vor der Wahl wohlklingende Versprechungen machte und erst nach dem Wahltermin unschöne "Reformprojekte" stück- und scheibchenweise aus den Schubladen zog - weshalb sich die Leute massenweise und zu Recht "verarscht" fühlten -, hat Nicolas Sarkozy von Anfang an Farbe bekannt. Tatsächlich ist die Politik, die er real ausführt, durchaus konform zu dem, was er zu einem früheren Zeitpunkt ankündigte. Damit erntet er bei manchen Anerkennung für seinen "Mut" und seine Offenheit, zumal so einige Leute (vor allem Männer) gerne so hart und durchsetzungsfähig wären, wie Sarkozys Bild suggeriert. "Unverschämt gewinnt" lautet die Botschaft.

Anhebung der Mehrwertsteuer: Sie kommt. Kommt nicht. Kommt doch...

In der Frage der Erhöhung der Mehrwertsteuer hat die Regierung im Laufe des September, wie angedeutet, vorübergehend zurückstecken müssen. In der zweiten Septemberwoche wurden die Pläne zunächst beerdigt. Zwar sprach sich der neue Staatssekretär "für vorausschauende Wirtschaftspolitik", Eric Besson (alias "Monsieur Verräter", da er den letzten Wahlkampf als wirtschaftspolitischer Berater der Kandidatin Ségolène Royal anfing und im Lager Nicolas Sarkozys beendete), in seinem Untersuchungsbericht im Prinzip für ihre Einführung aus. Aber der Auftritt Eric Bessons wurde, zeitgleich, von einem anderen Papier der amtierenden Wirtschaftsministerin Christine Lagarde flankiert. Die Ministerin, die mit Fug und Recht als Repräsentantin der globalisierten Eliten bezeichnet werden kann - Sarkozy holte sie unmittelbar aus den USA, wo sie ein fabrikähnlich funktionierendes Kabinett von Wirtschaftsanwältin mit 9.000 MitarbeiterInnen leitete -, sprach sich ihrerseits gegen die Erhöhung der Mehrwertsteuer im konkreten Falle aus. Denn Letzere sei als "inopportun" zu betrachten, während die Konjunktur am Absaufen sei, vor dem Hintergrund der im August ausgebrochenen Finanzkrise und der im Euroraum anstehenden Zinserhöhung (und damit der Verteuerung von Bankkrediten, damit einhergehend der Drosselung von Produktivinstitutionen).

Am Samstag/Sonntag berichtete die linksliberale Pariser Tageszeitung ,Libération' nun, für die anlaufende Woche sei mit damit zu rechnen, dass das Dossier der Mehrwertsteuererhöhung erneut aufgetischt werde. In Regierungskreisen überlege man, die Ma ß nahme nun doch einzuführen, aber mit einer "Erhöhung der Kaufkraft" für die Lohn- und Gehaltsempfänger zu kombinieren. Am Montag dieser Woche - so der Bericht weiter - werde der UMP-Abgeordnete Jérôme Chartier dem stellvertretenden Generalsekretär der Regierungspartei UMP, Patrick Devidjian (einem der rechten Arme Nicolas Sarkozys), diesbezüglich einen Untersuchungsbericht, "Frucht von zwei Monaten Arbeit", vorlegen. (Noch einer!)

Untersucht wird demzufolge insbesondere die Arbeitshypothese, wonach die Konsumsteuer erhöht, aber zugleich die durch die abhängig Beschäftigten auf ihre Löhne und Gehälter bezahlten Sozialabgaben verringert werden. Dies würde ihre Kaufkraft erhöhen, so dass sie die Mehrwertsteuererhöhung aufgrund dieses Ausgleichs verkraften könnten. Bislang war nur von einer Minderung der durch die Arbeitgeber abgeführten Sozialabgaben (deren Ausfall durch die erhöhte Mehrwertsteuer ersetzt werden sollte) die Rede, nun sollen also auch die Sozialabgaben für die abhängig Beschäftigten parallel dazu reduziert werden. Allerdings hätte auch diese Lösung ihre ganz offensichtlichen Nachteile. Erstens hätten Arbeitslose und Rentner/innen nichts davon, obwohl auch die von ihnen bezahlte Konsumsteuer unmittelbar anwachsen würde. Zum Zweiten droht auf diesem Wege eine noch weitere Austrocknung der Kassen des Sozialversicherungsystems. Denn in diesem Falle blieben ja die Einnahmen, die aus den Sozialbeiträgen sowohl der "Arbeitnehmer" als auch der "Arbeitgeber" geschöpft werden, auf doppelte Weise aus - und müssten durch die Mehreinnahmen aus der Konsumbesteuerung doppelt aufgefangen werden.

Aber eine solche Situation kommt vielleicht gerade richtig. Übt sich doch ein Teil des Regierungslagers zur Zeit darin, Panik zu schüren, um die brachiale Durchsetzung zusätzlicher "Reformen" als bittere Notwendigkeit erscheinen zu lassen. Am Wochenende tobte die Auseinandersetzung um eine Äu ß erung von Premierminister Fillon, der behauptet hatte, Frankreich stehe am Rande "des Bankrotts". Doch am Montag legte der (noch?) amtierende Regierungschef nach und posaunte hinaus, der Staat sei - finanziell - in einer "kritischen Situation". (Vgl. http://abonnes.lemonde.fr/web/article/0,1-0@2-3224,36-958599@51-882765,0.html externer Link) Diese Auslassungen erfolgen just parallel zur Debatte um das jährlich zu verabschiedende Gesetz zum Haushalt des Sozialversicherungssystems, und zur Veröffentlichung der aktuellen Zahlen au dessen "Defizit". Eine weitere Austrocknung der Sozialkassen könnte also gerade recht kommen, um noch tiefere "strukturelle Einschnitte" als unwendbar erscheinen zu lassen.

Kündigungsschutz: Das Arbeitgeberlager radikalisiert seine Forderungen

Den Kündigungsschutz betreffend, hatte Nicolas Sarkozy bereits im Vorjahr 2006 einen Vorschlag vorgebracht, den er im diesjährigen Wahlkampf erneuerte: Er forderte die Einführung eines "Einheits-Arbeitsvertrags" ( Contrat de travail unique ). Dieser solle, nach einer Art von Punktesystem, den Lohnabhängigen umso mehr Kündigungsschutz gewähren, je länger sie bereits bei "ihrem" Arbeitgeber beschäftigt sind. Zugleich solle durch ihn die bisherige Grenze zwischen "befristeten" und "unbefristeten" Arbeitsverhältnisse eingerissen werden.

Dieser Vorschlag scheint im Augenblick aber wieder vom Tisch zu sein. Am 7. September fingen die Verhandlungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden zum Thema "Arbeitsmarkt und Arbeitsverträge" an, bei denen es insbesondere um den Kündigungsschutz geht. Den "Impuls" dazu, im Namen der Notwendigkeit des "Reformierens", hatte das Regierungslager gegeben. Aber dort am Runden Tisch zeichnete sich ab, dass der "Einheitsvertrag" weder durch die Gewerkschaften (ohnehin nicht), noch durch die Arbeitgeberverbände richtig gewollt wird. Die Kapital-Repräsentanten fürchten, dass sie den Spatz in der Hand für die Taube auf dem Dach aufgeben würden, indem sie sich auf die "Preisgabe" des Instruments "befristeter Arbeitsvertrag" einlie ß en, um einen neuen Vertragstyp mit unsicheren Rechtsfolgen dafür zu bekommen. Ein gebranntes Kind scheut das Feuer: Die Arbeitgeber haben (aus ihrer Sicht) negative Erfahrungen mit dem Instrument des "Neueinstellungsvertrags" CNE gesammelt, der im August 2005 eingeführt wurde und eine zweijährige Probezeit enthält, während derer Kündigungen ohne Angabe von Gründen ausgesprochen werden könnte. Doch die "ersehnte Rechtssicherheit" trat daraufhin nicht ein. Denn die Arbeitsgerichte urteilten, sofern etwa der Verdacht auf grundsätzlich rechtswidrige Diskriminierungen vorliegen, könne den Lohnabhängigen eine juristische Kontrolle von Entlassungen nicht verwehrt werden. (Labournet berichtete ausführlich.) Der CNE ist inzwischen faktisch vom Tisch, da das Pariser Berufungsgericht im Juli 2007 urteilte, er sei faktisch mit internationalem Recht - mit den Konventionen der International Labour Organisation, ILO - nicht vereinbar. Aber die Lektion hat gesessen, und die Frustration über die erhoffte und nicht eingetretene "Rechtssicherheit" in Gestalt der Legalisierung jeglicher Arbeitgeberwillkür hat sich tief eingebrannt. Nunmehr wollen die Arbeitgeber nicht einfach den befristeten Arbeitsvertrag "opfern", sofern die Funktionsweise und Rechtsfolgen eines an seine Stelle tretenden neuen Instruments noch unklar sind.

Seinerseits hat der Arbeitgeberverband MEDEF nun bei der Verhandlungsrunde am Freitag, den 14. September einen neuen Vorschlag, provokanter Art, präsentiert. Die Arbeitgeber wollen demnach lieber über einen ziemlich "klassischen" Vorschlag diskutieren: Sie möchten (erstens!) eine Ausdehnung der bislang praktizierten Probezeiten. Bis zum jetzigen Zeitpunkt erlaubt das französische Recht, je nach Qualifikation, die Einfügung einer ein- bis sechsmonatige Probezeit in den Arbeitsvertrag. Nunmehr fordern die Arbeitgeber, diese Periode auf 6 bis 12 Monaten auszudehnen - mit der Begründung, dies sei ja immer noch erheblich weniger als beim "Neueinstellungsvertrag" CNE und dem 2006 geplanten und infolge von Massenprotesten zurückgezogenen "Ersteinstellungsvertrag" CPE (bis zu 24 Monate). Aber zum Zweiten fügt das Arbeitgeberlager noch einen weiteren Vorschlag hinzu: Nach dem Ende dieser Probezeit soll eine weitere Periode der Unsicherheit des Beschäftigungsverhältnisses beginnen, genannt "die wirtschaftliche Konsolidierungsphase". Während ihrer Dauer soll das Unternehmen sich von dem/der abhängig Beschäftigten trennen können, sofern die Fortsetzung des Beschäftigungsverhältnisse sich als "wirtschaftlich nicht tragbar" erweist. Damit enthielten die Arbeitsverträge faktisch eine doppelte Periode ohne Kündigungsschutz, oder mit erheblich abgeschwächtem Kündigungsschutz.

Handelt es sich bei diesen provokatorischen Vorschlägen um Nebelkerzen, die geworfen werden, um andere Vorhaben besser zu verschleiern? Oder aber (was nicht unwahrscheinlich ist) die Grenzen des "Sagbaren" und "Vertretbaren" so weit hinauszuschieben, dass hinterher jegliche - regressive - Vereinbarung noch als "vergleichsweise harmlos" durchgehen kann? Oder gar um eine Vorlage für das, was die Regierung dann später durchsetzen soll, falls bis zum Jahresende das Scheitern der Verhandlungen offenbar wird - für welchen Fall erklärterma ß en das Regierungslager selbst gesetzgeberisch aktiv werden will?

Auf jeden Fall hat die Diskussion sich nunmehr rund um den Vorschlag des Arbeitgeberverbands MEDEF, der den Verhandlungspartnern in Form eines dreiseitigen Arbeitspapiers präsentiert worden, kristallisiert. Die Gewerkschaften sind sich demgegenüber derzeit in ihrer Ablehnung einig. Kurz vor Aufnahme der Verhandlungen hatte, Anfang September, der Generalsekretär von FO (Force Ouvrière, d.h. des drittgrö ß ten französischen Gewerkschaftsbunds), Jean-Claude Maily, noch die "Offenheit" seiner Organisation für das eventuelle Herumschrauben am Kündigungsschutz signalisiert. In einem Gespräch mit der Wirtschaftstageszeitung ,Les Echos' erklärte Mailly damals, sein Dachverband lie ß e über eine "Verkürzung" und also Vereinfachung der Arbeitsgerichtsverfahren rund um Kündigungen mit sich reden. (Das aber würde faktisch höchstwahrscheinlich geringere Garantien implizieren, bzw. die Prozesse auf standardisierte Abfindungsformeln auf finanzieller Ebene hinauslaufen lassen.) Doch im Moment hat das Arbeitgeberlager die Ohren der mit ihm verhandelnden Gewerkschaftsführer mit seinen lautstark vorgetragenen Forderungen zugedröhnt.

In seinen beiden gro ß en Ansprachen zu sozial- und wirtschaftspolitischen Themen von voriger Woche (vgl. http://www.labournet.de/internationales/fr/reformterror2.html ) sprach Nicolas Sarkozy sich dafür aus, neue Formen einer "freundschaftlichen Trennung" ( Rupture à l'amiable ) im Falle eines Bruchs des Arbeitsverhältnisses zu finden. Daran zu denken wäre in dieser Hinsicht etwa, dass vorab festgelegte Abfindungsmodalitäten ausgehandelt werden und eine gerichtliche Kontrolle von Kündigungen folglich ausbleibt oder auf ein Minimum reduziert wird. Ob dies die Richtung vorgibt, in welcher der Hase letztlich laufen wird, oder aber nur eine weitere zusätzliche Möglichkeit zum "Reformieren" anspricht, ist im Augenblick noch unklar.

Arbeitslose: Kurzfristig mehr Geld, aber stärkerer Druck

Vorige Woche hat Nicolas Sarkozy noch eine weitere "Reform"piste in den Vordergrund gerückt: Sowohl in seiner Ansprache im Senat vom Dienstag als auch in seiner Fernsehrede vom Donnerstag sprach er davon, die bisher getrennten Organismen UNEDIF (Arbeitslosengeldkasse, durch die "Sozialpartner" paritätisch verwaltet) und ANPE (Arbeitsagentur, staatlich) würden in Bälde miteinander fusioniert werden.

Dabei wird die Stellung der Gewerkschaften, die bislang im Aufsichtsrat der Arbeitslosengeldkasse UNEDIC - von welcher die lokalen Zahlstellen, ASSEDIC, abhängen - sitzen und mit entscheiden, neu diskutiert werden müssen. Bislang halten die Gewerkschaften dort 50 Prozent der Sitze, aber die sozialdemokratisch-neoliberale CFDT "regiert" die Kassenpolitik in einer Koalition u.a. mit dem Arbeitgeberverband MEDEF. Sarkozy kündigte an, die Gewerkschaften könnten über die geplante Fusion hinaus auch weiterhin Einfluss auf die "gro ß en Linien" der Arbeitslosenpolitik nehmen. Damit versuchte er diesen Organisationen das Vorhaben schmackhaft zu machen.

Im Umgang mit den Erwerbslosen selbst wird sich vor allem ändern, dass damit künftig die Zahlstelle einerseits und die Kontrollbehörde (die bei der Arbeitssuche behilflich zu sein hat, dabei aber zugleich mangelnde Initiative oder das Fortbleiben bei Vorladungen oder - nützlichen ebenso wie nutzlosen - "Fortbildungsterminen" sanktionieren kann) andererseits zusammengeschlossen werden. Dies würde das Verhängen von Sanktionen erheblich erleichtern. Diese müssen bislang durch die staatliche Arbeitsagentur ANPE auf dem Kommunikationswege den Zahlungsstellen (ASSEDIC) übermittelt werden.

Nicolas Sarkozy schlug in seiner donnerstäglichen Ansprache an die Nation auch vor, künftig könnten die Arbeitslosen zwar (für kurze Zeit) höhere Bezüge erhalten, aber die Bezugsdauer solle gleichzeitig verringert werden. Auch im Wahlkampf hatte er bereits einen entsprechenden Vorschlag unterbreitet. Damit könnten die Erwerbslosen, oder ein Teil von ihnen, möglicherweise geködert werden - mit der Sicht auf eine bessere finanzielle Ausstattung sowie darauf, dass man sich verstärkt um sie "kümmern" wird. Aber de facto würde dies auch gleichzeitig bedeuten, dass die Betroffenen noch schneller und energischer in Beschäftigungsverhältnisse, auch in unerwünschte und/oder mit schlechten Bedingungen ausgestatte, hinein gezwungen werden. Aber der zweiten Ablehnung eines Jobangebots oder beim Ausschlagen eines Fortbildungsprogramms soll so das Messer angesetzt werden können, so Sarkozy. (Anmerkung)

Gleichzeitig ist es auch Bestandteil des vergangene Woche enthüllten Programms von Sarkozy, dass "Betrüger" beim Empfang von Sozialleistungen (Arbeitslosenkohle, Wohngeld, Familienunterstützung.) mit einem vollen Jahr, ja einer "mehrjährigen" Sperre rechnen müssen.

Artikel von Bernard Schmid, Paris, vom 24.09.2007

Anmerkung:

Grundsätzlich hat Präsident Nicolas Sarkozy seinem Arbeits- und Sozialminister Xavier Bertrand in seiner Aufgabendefinition (lettre de mission) vom Juli dieses Jahres zum Ziel erhoben, in den nächsten fünf Jahren "die Vollbeschäftigung" (le plein emploi) anzustreben.

Dass es nach Ablauf dieser Periode keine Erwerbslosen mehr geben würde, ist zwar reichlich unrealistisch. Allerdings trifft es zu, dass die geplante bzw. anlaufende neoliberale Umwälzung tatsächlich neue Beschäftigungsverhältnisse aufgrund der Durchsetzung neuartiger Bedingungen - erheblich erleichterte Kündigungsmöglichkeiten, extreme Prekarisierung, geringe Bezahlung - schaffen und die widerstrebenden (potenziellen) Arbeitskräfte nunmehr in diese Beschäftigungsverhältnisse hinein zwingen wird. Dieses Phänomen eines Rückgangs der Erwerbslosigkeit, bei gleichzeitiger Zunahme prekarisierter Beschäfigungsverhältnisse, ist ein EU-weit allgemein festzustellendes Phänomen (vgl. dazu aktuell http://jungle-world.com/seiten/2007/31/10348.php  externer Link). Das typische Profil eines Erwerbsverhältnisses, das derzeit in Frankreich vom durchschnittlichen "Langzeitarbeitslosen (ab ein Jahr)" bei geringer Qualifizierung eingegangen wird, sieht derzeit so aus: Teilzeitarbeit bei Entlohnung mit der Hälfte des gesetzlichen Mindestlohns (d.h. der Hälfte des monatlichen Mindestlohns, der bei Vollzeitarbeit garantiert wird). Das bedeutet netto rund 500 bis, mit Überstunden, circa 600 Euro pro Monat.

Am 1. August dieses Jahres vermeldet die Pariser Abendzeitung ,Le Monde' bereits auf ihrer Titelseite: "Die Arbeitslosigkeit war seit 25 Jahren noch nie so tief" (wie heute). Laut offiziellen Angaben beträgt die Arbeitslosenrate derzeit 8 Prozent, auch wenn diese Berechnung nach wie vor umstritten ist. Im März dieses Jahres hatte das Nationale Statistikamt INSEE, nach heftigem Streit vorab (die Gewerkschaften hatten den politisch Verantwortlichen eine Manipulation der Zahlen vorgeworfen), darauf verzichtet, wie alljährlich im März ihre jährliche Studie zum Thema Arbeitsverhältnisse & Arbeitslosigkeit vorzulegen. Alljährlich werden normalerweise im März die Arbeitslosenstatistiken aufgrund der Ergebnisse dieser Studie revidiert. Aber in diesem Jahr ging es darum, wenige Wochen vor der Präsidentschaftswahl eine spürbare Korrektur nach oben (von gut 8 Prozent auf rund 9 Prozent) zu verhindern. Nunmehr soll die jährliche INSEE-Studie im Herbst 2007 nachträglich veröffentlicht werden.

Tatsache ist aber anscheinend, dass die Anzahl der registrierten Arbeitslosen wirklich gesunken ist. Diese liegt seit Mai 2007nunmehr erstmals seit langen Jahren unterhalb der Zwei-Millionen-Grenze, mit 1,962 registrierten und amtlich als solchen anerkannten Erwerbslosen im Juni dieses Jahres. Allerdings hängen nur rund 25 Prozent der Abgänge aus der Arbeitslosenstatistik mit der erklärten (Wieder-)Aufnahme eines Beschäftigungsverhältnisses zusammen. Der größere Teil des Rückgang der Erwerbslosenzahlen hängt vielmehr mit den ,Radiations', also dem amtlich verfügten Hinauswurf aus der Arbeitslosenstatistik zusammen. ,Le Monde' vom 1. August zitiert diesbezüglich folgende Zahlen, bei denen leider nicht angegeben wird, auf welchen Zeitraum sie sich beziehen (mutmaßlich aber das erste Halbjahr 2007): "151.555 Fälle von Abwesenheit bei Kontrollen bzw. Nicht-Rückmeldungen sowie 44.185 Streichungen aus der Arbeitslosenstatistik (als Sanktion). Die ,Erklärungen der Wiederaufnahme eines Arbeitsverhältnisses' bilden nur ein Viertel der registrierten Motive für die Streichung (einer Person) beim Arbeitsamt."

Nun können sich hinter einem Teil der Nicht-Rückmeldungen beim monatlichen Rückmeldeverfahren sowie der Abwesenheit bei Kontrollen oder bei Vorladungen zum Arbeitsamt ebenfalls "Fälle" verbergen, in denen Personen erneut eine Lohnarbeit gefunden bzw. aufgenommen haben. Denn normalerweise muss die Wiederaufnahme einer Arbeit innerhalb von drei Tagen beim Arbeitsamt (französisch ANPE) angegeben werden. Viele Betroffene versäumen dies, melden sich dann aber nicht zurück und fliegen deshalb nach dem monatlichen Rückmeldeverfahren aus der Statistik. Unzweifelhaft bilden die Rauswürfe jedoch ebenfalls einen wachsenden Anteil an den Abgängen aus der Arbeitslosenstatistik.

Just eine halbe Woche zuvor, am 26. Juli, hatte die Wirtschaftstageszeitung ,Les Echos' auf ihrer Seite Eins getitelt: "Kontrolle der Arbeitslosen: Die Sanktionen nehmen um ein Vielfaches zu." Ihrem Bericht zufolge hat sich die Zahl der verhängten Sanktionen - Sperren des Arbeitslosengelds ab zwei Monaten und/oder Streichung von der Liste der registrierten Arbeitslosen - in 2006 gegenüber dem Vorjahr 2005 verdreifacht. Erleichtert worden ist dies dadurch, dass ein Dekret vom 2. August 2005 die Sanktionen nunmehr staffelt und den Arbeitsämtern eine größere Palette von Strafmaßnahmen zur Verfügung stellt: Es gibt nun nicht mehr länger nur "die definitive Streichung oder nichts", sondern eine ganze Spannbreite von Sanktionen ab der zweimonatigen Sperre (bei der die Person ebenfalls vorübergehend aus der Statistik herausfällt) aufwärts. Deshalb zögern die Bediensteten der Arbeitsämter immer weniger, solche Sanktionen auch real zu verhängen und das vorhandene Instrumentarium anzuzwenden. ,Les Echos' zufolge wurden zuvor in 18 Prozent der Fälle "verdächtiger Dossiers" Sanktionen verhängt, nunmehr (2006) aber in 57 Prozent der Fälle. Ursächlich dafür sind sowohl versäumte Vorladungen als auch bspw. das Ablehnen einer "angebotenen" Arbeits- oder Ausbildungsverhältnisses.

Da neben den Arbeitsämtern selbst auch die Präfekten (die juristischen Vertreter des Zentralstaats in den Départements, u.a. Chefs der Polizei- und Ausländerbehörden und Inhaber der Rechtsaufsicht über die Kommunen) nunmehr Sanktionen gegen Erwerbslose verhängen können, ist die o. zitierte Zahlenangabe noch unvollständig. So stieg die Anzahl der durch die Arbeitsämter verhängten Strafen im Jahr 2006, ,Les Echos' zufolge, von zuvor 7.200 auf nunmehr 24.800. Die Gesamtzahl der verhängten Sanktionen beträgt demnach jedoch 41.700. Derselben Quelle zufolge erwägt Nicolas Sarkozy eine Intensivierung der Kontrollen, die durch die Gewerkschaften jedoch abgelehnt werde. Letztere beriefen sich darauf, dass die Gesamtzahl der Sanktionierten (anteilsmäßig rund 2 %) gegenüber jener der registrierten Arbeitslosen noch immer gering sei, so dass kein genereller Betrugsverdacht gegenüber den Beziehern von Arbeitslosengeld ausgesprochen werden könne. Aufgrund des registrierten Rückgangs der Arbeitslosenzahl, so ,Les Echos', seien jedoch auch die Kontrollen tendenziell eher im Rückfluss befindlich.


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