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Updated: 18.12.2012 15:51
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Sag' es mit Parfum: OberschülerInnen protestieren in Frankreich - Und demnächst nun endlich auch die Gewerkschaften

Drück' es mit Parfum aus: Auf ungewöhnliche Weise wurde am Donnerstag, 18. Dezember eine stellvertretende Schuldirektorin in Orléans verletzt. Die Dame erhielt leichte Verletzungen, als ihr von rebellierenden Oberschülern ein - kleines - Parfumfläschchen an den Kopf geworfen wurde. (Klonk!) Bislang hat sie keine Strafanzeige gegen die jungen Übeltäter erstattet, obwohl ihr dies durch ihre Vorgesetzten - aus Prinzip - nahe gelegt worden war. Eine Krankschreibung hatte sich bei einer ärztlichen Untersuchung als unnötig erwiesen. (Vgl. den Artikel externer Link)

An demselben Donnerstag demonstrierten und ganz Frankreich rund 150.000 Oberschülerinnen und Oberschüler. (ANMKERkUNG: Der deutsche Begriff "Gymnasiasten" trifft übrigens nicht zu, da es in Frankreich kein dreigliedriges Schulwesen wie in Deutschland gibt: Bis zum Erreichen eines Niveaus, das in Deutschland dem Realschulabschluss entspräche, bleiben alle Schülerinnen und Schüler zusammen. Erst danach findet eine Trennung statt dadurch, dass ein Teil der Schüler einen weiteren Abschluss anstrebt und ein anderer nicht. Über 60 % eines Jahrgangs machen das ,Bac' - französisches Äquivalent zum deutschen Abitur. Insofern ist das französische Schulwesen wesentlich "durchlässiger", und weniger stark auf soziale Trennung ausgelegt, als das deutsche.)

Vor allem in Lyon, wo die Polizei um die 40 Demonstrationsteilnehmer festnahm und ein Auto brannte, fielen die Proteste teilweise militant aus. In der Hauptstadt Paris, wo rund 10.000 Personen sich an der Oberschülerdemo beteiligten, kam es zu keinen grö b eren Zwischenfällen. Aber starke Polizeikräfte umstellten den Protestmarsch gegen Ende und nahmen ihn in ein enges Spalier, was in Frankreich bei Demonstrationen sozialer Bewegungen eher ungewöhnlich ist. Bereits in den ersten Dezembertagen hatte es Demonstrationen der Oberschüler mit teilweise militanten Begleiterscheinungen gegeben. Nicht so sehr in den Metropolen wie Paris und Lyon; ihr geographischer Schwerpunkt lag anfänglich vor allem in westfranzösischen Gro b städten wie Brest - wo in den Tagen vom 5. bis 9. Dezember grö b ere Gruppen den Tränengaseinsatz durch die Polizei mit Steinen und anderen Wurfgeschossen beantworteten -, Nantes und Saint-Nazaire. (Vgl. zu Nantes, den Forderungskatalog externer Link) und einen Artikel zur Demo vom 9. November externer Link)

In Nantes hatte es schon Ende November massive Proteste gegeben, nachdem Bildungsminister Xavier Darcos am 15. November die zweite Etappe der so genannten Reform des Bildungswesens verkündet hatte. Sie wird als die Sekundarstufe betreffen. Die Reform der Grundschule ist bereits im Gange, wird aber infolge massiven Protests von Eltern und Lehrern möglicherweise noch modifiziert werden.

Drei Tage vor den Demonstrationen, am Montag, den 15. Dezember, hatte Bildungsminister Xavier Darcos noch eine Verschiebung der geplanten Sekundarstufen-Reform um ein Jahr in Aussicht gestellt. Erst sollten noch weitere Sondierungsgespräche mit Schülerverbänden, Elternvertretungen und Lehrergewerkschaften stattfinden. Am Dienstag - schon ängstlicher geworden - sprach Darcos dann nicht nur von einer Verschiebung, sondern auch davon, die Reform werde "von Null auf" neu begonnen. Allerdings zitierten die Nachrichtenagenturen am selben Tag Präsident Nicolas Sarkozy, der darauf insistierte, er wolle unbedingt seine Bildungsreform. Am Donnerstag kündigte der zuständige Darcos dann "Generalstände des Bildungswesens" an, also einen gro b en Kongress, um zumindest den Eindruck eines vermeintlich ergebnisoffenen Beratungsprozesses zu erwecken. Aber die Oberschüler sind ebenso misstrauische wie die Gewerkschaften der Lehrer und die Elterverbände. Sie rufen inzwischen gemeinsam zu neuen Demonstrationen am 17. Januar auf.

Beide Stufen der "Reform" des Bildungswesens sind Bestandteile der "Allgemeinen Revision der Politik der öffentlichen Hand", die auch unter ihrem Kürzel RGPP bekannt geworden ist. Dabei geht es darum, alle Sektoren der staatlichen Politik betriebswirtschaftlichen Rentabilitätskriterien zu unterstellen, um Mittel einzusparen und das staatliche Handeln so "effizienter" zu gestalten.

Seit der Wahl Nicolas Sarkozys zum Staatspräsidenten vor anderthalb Jahren ist es diesem Rahmen zur Maxime erhoben worden, jeden zweiten altersbedingten Abgang in den öffentlichen Diensten nicht zu ersetzen und so Personal einzusparen. Besonders davon betroffen ist das öffentliche Bildungswesen, während - auf dem Umweg über kaputte oder mittelarme Familien - alle sozialen Probleme ihre massiven Auswirkungen auf das Schulwesen zeitigen. Die Schule muss ihre Effekte wie psychologische Probleme der Kinder und Jugendlichen, Lernschwierigkeiten, "Bildungsferne" der Elternhäuser und andere bewältigen. Nichtsdestotrotz wurden im laufenden Schuljahr 11.500 Lehrerstellen eingespart, im kommenden Schuljahr sollen es 13.500 werden. Zwar argumentiert die Regierung mit sinkenden Schülerzahlen in den nachwachsenden Jahrgängen. Aber würde die Schülerzahl im kommenden Jahr gleich bleiben, entspräche dies dennoch dem Wegfall von 10.000 Stellen. Im Grundschulwesen etwa wird massiv bei den Unterstützungskursen für "lernschwache" Schüler eingespart. Diese werden zukünftig nicht mehr in kleinen Gruppen angeboten, sondern sollen nur noch ganze Schulklassen betreffen. Dies aber führt das Prinzip einer besonderen Unterstützung für Kinder mit speziellen Lernhindernissen ad absurdum.

Gleichzeitig soll der Fächerkanon umgestaltet werden. Bisherige Fachrichtungen des Abiturs - die literarische, natur- oder sozialwissenschaftliche Ausrichtung - sollen zugunsten eines einheitlichen "Grundstocks" verschwinden. Die Regierung argumentiert mit einer stärkeren individuellen Wahlfreiheit jenseits dieses "Grundstocks", den ein neues Kurssystem bieten soll. Doch der Abbau von Lehrkräften wird diese Wahlfreiheit schnell wieder einschränkt. Der dahinter stehende Plan ist, in Form des "Grundstocks" jenes Fachwissen aufzuwerten, das die Wirtschaft dringend nachfragt. So soll die Wirtschaftswissenschaft aus der bisherigen Fächerverbindung mit den Sozialwissenschaft losgelöst und zum eigenständigen Pflichtfach werden, da die Regierung die "linkslastige Lehrerschaft" verdächtigt, zu viel Sozialwissenschaft zu Lasten der Betriebswirtschaft zu lehren.

Das momentane Aussetzen der Reform, an der die Staatsspitze jedoch eisern festhalten will, erklärt sich aus der Furcht, dass die Lage an den Schulen schnell explosiv werden und sich mit dem breiter werdenden, allgemeinen sozialen Unmut verbinden könnte. Dabei fürchtet die Regierung weniger die "Gewerkschaften" der Oberschüler - FIDL und UNL -, die beide jeweils von bestimmten Flügeln der französischen Sozialistischen Partei kontrolliert werden. Vielmehr fürchtet sie erklärterma b en, dass beispielsweise die besonders benachteiligte und potenziell unruhige Jugend der Banlieues sich unter die Proteste mischen könnte. Anders als in der Vergangenheit, bei den Schülerprotesten 2005, drückt ihre Frustration sich bislang überhaupt nicht in Angriffen gegen die - "wei b eren" und vermeintlich bessergestellten - Schüler aus den Kernstädten aus. Vielmehr nahmen etwa am Donnerstag in Paris auffällig viele Mädchen aus Familien mit Migrationshintergrund an den Demonstrationen teil und füllten die aus den Banlieues kommenden Métrozüge. Sie demonstrierten in ihrer Eigenschaft als besonders benachteiligte Schülerinnen und zeigten sich sehr selbstbewusst.

Die Oberschülerproteste flammten, besonders in Westfrankreich, erstmals vor dem jüngsten Aufstand in Griechenland auf. Insofern resultieren die Proteste als solche nicht aus einer Nachahmung der griechischen Ereignisse. Wohl aber könnte - so fürchtet jedenfalls die Regierung - ein "Spiegelbildeffekt" eintreten, indem viele Jugendliche in Frankreich sich im Vorgehen ihrer griechischen Altersgenossen wieder erkennen. Auch die in mehreren französischen Städten zu verzeichnende Militanz vieler Oberschüler setzte kurz vor den Bildern aus Griechenland ein, setzte sich aber danach in verstärktem Ausma b - von Brest bis Lyon - fort. Allem Anschein nach wurde sie keineswegs nur von vorhandenen anarchistischen oder linksradikalen Gruppen getragen, sondern konnte sich auf einen breiteren Teil der protestierenden Schülerschaft stützen.

Sie resultiert, neben einem sicherlich ebenfalls vorhandenen Einfluss des griechischen Beispiels, auch aus der Erfahrung des vergangenen Jahres. Hatte doch im Herbst 2007 die Regierung die über drei Monate währenden Proteste von Oberschülern wie von Studierenden - gegen die neue Hochschulverfassung, die eine finanzielle "Autonomie der Hochschulen" und damit den Zwang zu ihrer Rentabilität vorsieht - damals einfach "ausgesessen". Letztere hatten sich in der Weihnachtspause vor einem Jahr "totgelaufen", nachdem ein Vierteljahr des Hochschulstreiks und der Demonstrationen fast nichts bewegt hatten. Damals hatten die Studierenden zunächst auch darauf gebaut, dass der Streik der Eisenbahner im November sich, ähnlich wie 1986 und 1995, mit ihrem Ausstand zeitlich verbinden werde und so ein anständiges Kräfteverhältnis zustande kommen werde. Die Apparate der beiden grö b ten Gewerkschaftsverbände, CGT und CFDT, hatten den Ausstand jedoch - in unterschiedlicher Form und mit unterschiedlichen Zielen - viel schneller als erwartet beendet, ohne viel erreicht zu haben. So brach das Kräfteverhältnis auch für die Schüler und Studenten weg. In den ersten Jahresmonaten 2008 lief die wieder aufflammende Protestbewegung der Oberschüler/innen, die ihren Höhepunkt mit massiven Demonstrationen Ende März des Jahres erreichte, ebenfalls - mangels eines günstigen Kräfteverhältnisses und ausreichend entfalteten Drucks - gegen die Wand. Nunmehr sind viele Oberschüler entschlossen, diese Erfahrung sich nicht wiederholen zu lassen.

Die Gewerkschaften ihrerseits fangen nun, nachdem ihr "Wahlkampf" zu den Arbeitsgerichtswahlen vorbei ist, ebenfalls an sich zu regen. Am 29. Januar 2009 soll nun ein von breiten Protesten getragener Streik- und Aktionstag mit Demonstrationen in über 100 französischen Städten stattfinden. Dazu rufen inzwischen alle bedeutenden französischen Gewerkschaftsorganisationen gemeinsam auf: Sechs Dachverbände sowie die Union syndicale Solidaires - der lose Zusammenschluss der linken Basisgewerkschaften vom Typ SUD - und die Lehrergewerkschaft FSU.

Vor den Arbeitsgerichtswahlen von Anfang Dezember hatte sich vor allem die rechtssozialdemokratische CFDT gegen einen Streiktermin gesträubt. Doch dieser zweitstärkste gewerkschaftliche Dachverband musste bei den "Sozialwahlen" beträchtlich Federn lassen: Die CFDT fiel von zuvor 25 auf 22 Prozent der Stimmen, aufgrund ihrer Unterstützung für die Regierung bei zentralen Einschnitten wie der "Rentenreform" von 2003 und 2008.

Hingegen konnte die Union syndicale Solidaires - die nicht flächendeckend antrat - ihren Anteil im nationalen Durchschnitt von zuvor 1,5 Prozent auf knapp 4 Prozent steigern. Auch die CGT, die trotz der Strategie ihres Apparats, die in den letzten Jahren soziale Kämpfe eher lähmte, in den Augen vieler Lohnabhängiger als kämpferisch gilt, kletterte von 32 auf knapp 34 Prozent. Insofern verzeichneten die jüngsten "Sozialwahlen" einen gewissen Linksruck zugunsten der mehr oder minder kämpferischen Gewerkschaften. Auch wenn dieses Ergebnis, aufgrund der auch bei diesem Mal hohen Enthaltung - nur ein Viertel der Lohnabhängigen beteiligten sich an der Wahl -, nur begrenzten Aussagewert hat.

Aufgrund der unterschiedlichen Orientierung der aufrufenden Gewerkschaften und der Tatsache, dass nur Sektor für Sektor über einen Streikaufruf entschieden - also nicht zum landesweiten Generalstreik aufgerufen - wird, dürfte der Aufruf zum Aktionstag am 29. Januar allein das soziale Kräfteverhältnis noch nicht umwälzen. Doch derzeit wird mit einer sehr massiven Beteiligung gerechnet, zumal vergangenen Woche gro b e Entlassungspläne in vielen - vor allem industriellen - Wirtschaftsbranchen angekündigt worden sind. Im Falle eines Streikerfolges könnten sich danach soziale Widerstände in einigen Sektoren bündeln.

Bernard Schmid, Paris, 05.01.2009


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