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       Zentrale Demo gegen den Kahlschlag der öffentlichen 
        Dienste 
      Bericht von Bernhard Schmid, derzeit Guéret, 
        mit vielen Bildern. Eine stärker gekürzte Fassung erscheint 
        am 10.März 2005auch in der Wochenzeitung (WoZ), Zürich 
        "Das 
        Treffen von Guéret gegen die französische Wüste" 
        kündigte die Pariser Tageszeitung Le Monde am vorigen Samstag an. 
        So wüstenhaft sieht die Gegend, um die es geht, freilich gar nicht 
        aus: Bäume wechseln sich ab mit Feldern, des öfteren sieht man 
        Kühe unter der Schneedecke grasen, und dazwischen liegen einige Sägewerke 
        oder Fleisch und Milch verarbeitende Betriebe. Der Bus der linken Postgewerkschaft 
        SUD PTT fährt von Paris aus quer durch das ländliche Zentralfrankreich, 
        abseits der Autobahn, die wegen heftiger Schneefälle und Glatteis 
        gesperrt ist  auf dem Weg nach Guéret, wo wir an diesem Samstag 
        nachmittag (6. März) erwartet werden. 
      Dort werden in wenigen Stunden über 6.000 Menschen 
        demonstrieren und drei Stunden lang durch den Schneesturm ziehen: "Gegen 
        die französische Wüste". Eine eher ungewohnte Erfahrung 
        an diesem Ort, die aber von vielen Ortsansässigen neugierig-positiv 
        aufgenommen wird, wenn sie sich nicht gleich dem Zug anschließen. 
        Aufgrund der Temperaturen erscheint eine andere Metapher, die am Vortag 
        von vielen Journalisten benutzt wurde, eher deplatziert: Sie hatten von 
        einem "kleinen Porto Alegre" gesprochen. 
       La Creuse 
       Guéret 
        mit knapp 15.000 BewohnerInnen ist die Bezirkshauptstadt des innerfranzösischen 
        Départements La Creuse. Die nächste größere Stadt 
        ist das regionale Zentrum Limoges, das weiter westlich liegt. La Creuse, 
        das sind heute etwa 124.000 Einwohner  gerade einmal halb so viel 
        wie vor 100 Jahren. Heute leben in dem Département nur noch durchschnittlich 
        23 Einwohner pro Quadratkilometer. Dem war nicht immer so, aber die in 
        Frankreich noch bis in die siebziger Jahre hinein anhaltende Landflucht 
        und die agrarische Krise haben zur Entvölkerung beigetragen. 
       Landflucht und die Politik der Bourgeoisie 
       Nach dem Zweiten Weltkrieg lebten in Frankreich noch 25 
        bis 30 Prozent der aktiven Bevölkerung von der Landwirtschaft, da 
        die Industrialisierung sich bis dahin noch weitgehend auf die städtischen 
        Ballungsräume rund um Paris, Lyon und Marseille beschränkte: 
        Die Regierenden hatten Angst vor zu vielen Arbeiterstädten, die als 
        potenzielle "Unruheherde" im ganzen Land verteilt wären 
        - und zogen es deswegen vor, die gesamte Industriearbeiterschaft in wenigen 
        Zonen zu konzentrieren. Die Früchte dieser Strategie sorgten einerseits 
        für die überdimensionierte Ausdehnung der Banlieues, also der 
        Vorstadtzonen oder Trabantenstädte der urbanen Zentren, in denen 
        sich heute zahlreiche soziale Probleme wie in einem Brennglas konzentrieren. 
      Andererseits aber blieben die ländlichen Zonen noch 
        bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts weitgehend unverändert. Dann 
        aber gerieten große Teile des Agrarsektors, aufgrund ihrer geringen 
        Rentabilität, in die Krise: Zahllose Bauern machten Pleite und mussten 
        ihre Höfe aufgeben. Um 1983 waren immer noch 13 Prozent der Bevölkerung 
        in der Landwirtschaft tätig, heute sind es nur noch ein Viertel davon. 
        Da aber das strukturelle Übergewicht etwa des Pariser Großraums 
        erhalten blieb und sich nach wie vor die Mehrheit der Jobangebote dort 
        konzentrierte, wanderten viele Franzosen aus dem Landesinneren noch bis 
        vor wenigen Jahren ab. 
       Kahlschlag bei den Services publics 
        Heute 
        ist es aber ein anderer Grund, der den Einwohnern des eher ländlichen 
        Départements zu schaffen macht und der eine jetzt immer lauter 
        werdende Kritik herausfordert. In jüngerer Zeit haben sich viele 
        öffentliche Dienste, aufgrund der Tendenzen zur Privatisierung bisheriger 
        Services publics (öffentlichen Dienste) oder - zumindest  ihrer 
        Unterstellung unter die überall Einzug haltenden Rentabilitätsansprüche, 
        aus den relativ schwach besiedelten Bezirken immer mehr zurückgezogen. 
       Der französische Service public unterscheidet sich 
        übrigens deutlich vom öffentlichen Dienst, seinem vermeintlichen 
        deutschen Synonym. Denn erstens wurde in Frankreich ein Kriterienkatalog 
        für den Begriff des Service public definiert, der einerseits vom 
        universalistischen Anspruch der Französischen Republik (ein Restbestand 
        ihres bürgerlich-revolutionären Erbes von einst) geprägt 
        ist. Andererseits hinterließ auch die Periode der antifaschistischen 
        Regierungskoalition unmittelbar nach der Befreiung von 1944 (unter Einschluss 
        der KP) ihre Spuren, denn damals wurden die öffentlichen Dienste 
        und die verstaatlichen Unternehmen als eine Art Vorwegnahme einer nicht-kapitalistischen 
        Gesellschaft betrachtet. Ja ja, lange ist¹s her... Zum strikt einzuhaltenden 
        Kriterienkatalog für einen Service public gehört also (theoretisch!) 
        die Nicht-Rentabilität, der gleiche Zugang für alle BürgerInnen 
        unabhängig von Einkommen oder geographischer Situation... Aber auch 
        der "péréquation" genannte Ausgleich zwischen 
        finanzschwachen und starken Regionen durch Finanzierung der nicht-rentablen 
        Regionen durch die rentableren.  
       Im 
        Übrigen gibt es in Frankreich kein Beamtenverhältnis im deutschen 
        Sinne, d.h. im Sinne eines auf besondere Loyalität zur Staatsmacht 
        verpflichteten Korps (mit Ausnahme der bewaffneten Staatsorgane). D.h., 
        dass alle Staatsbediensteten beispielsweise das Streikrecht haben. Sie 
        sind auch nicht wesentlich besser bezahlt als die Privatbeschäftigten, 
        sondern im Gegenteil: Häufig verdienen die Staatsangestellten wesentlich 
        schlechter als jene der Privatindustrie oder Dienstleistungs- unternehmen, 
        was mit dem (bisher) geringeren Entlassungsrisiko gerechtfertigt wird. 
      Den neoliberalen Regierungen sind die "Services publics 
        à la française" seit längerem ein Dorn im Auge. 
        1995 konnte im Laufe des Streikherbsts der Eisenbahner und anderer öffentlicher 
        Dienste ein Regierungsplan gerade noch verhindert werden, der vorsah, 
        6.000 Streckenkilometer der französischen Bahn stillzulegen. Dessen 
        Umsetzungen hätte ganze Regionen völlig vom Schienennetz abgekoppelt. 
        Aber heute geht dieselbe Entwicklung in verschiedenen Bereichen weiterhin 
        vor sich, nur eher "scheibchenweise" statt durch eine Art Generalangriff. 
        Einwohner müssen viele Kilometer zurücklegen, um in ein Krankenhaus, 
        zu einem Postbüros oder einer Außenstelle der Finanzamts zu 
        gelangen. 
       Spektakuläre Amtsniederlegungen 
       Es 
        war der Bezirk La Creuse, wo der massive Protest dagegen zum ersten Mal 
        landesweit von sich hören machte. Im Oktober des Vorjahres 2004 traten 
        dort 263 Bürgermeister und Gemeindeparlamentarier in einem spektakulären 
        Schritt gemeinsam zurück: Wenn man ihren Kommunen die Postämter 
        und Bahnhöfe dichtmache, sei das Leben für die Bevölkerung 
        des Bezirks unter der sich heute 34 Prozent RenterInnen befinden 
         immer weniger erträglich. 
      Dem Protest schlossen sich Stimmen aus den Nachbardépartements 
        an, etwa aus dem Bezirk von Angoulême. Den hatte man erst vor anderthalb 
        Jahren regierungsamtlich zum "Musterdépartement" erkoren, 
        um eine angeblich erfindungsreiche neue Politik zu testen: Statt verschiedene 
        Services publics in den einzelnen Kommunen zu behalten, sollten die unterschiedlichen 
        Dienstleistungen stattdessen in einem gemeinsamen "Haus der öffentlichen 
        Dienstleistung" fusioniert werden, wo man etwa gleichzeitig Briefmarken 
        kaufen und Steuern bezahlen könnte. Heute ist die Ernüchterung 
        allgemein. Nur eine Handvoll solcher Strukturen funktionieren, dafür 
        ging der allgemeine Abbau unvermindert weiter, wie Angereiste aus diesem 
        Nachbardépartement der Creuse erzählen  viele sind, mit 
        ihrem "Kollektiv zur Rettung der öffentlichen Dienste", 
        nach Guéret angereist. 
      Dort, wo man nur schwer für einen Samstag nach Guéret 
        anreisen konnte, wurde ebenfalls demonstriert. So fanden am 6. März 
        auch drei Demonstrationen gegen die Zerstörung der Services publics 
        im Département Französisch-Guyana statt (in Cayenne, Kourou 
        und Saint-Laurent-du-Maroni). 
       "In Stadt und Land, Ihr Arbeitsleute..." 
       Aber 
        nicht nur von dort, sondern aus dem ganzen Land sind UnterstützerInnen 
        zu der Protestdemo vom Samstag angereist. Aus dem Bezirk Seine-Saint-Denis, 
        der die nördlichen Trabantenstädte umfasst, ist eine größere 
        Solidaritätsdelegation erschienen, die selbst durch die (freilich 
        KP-geführte) Bezirksregierung unterstützt wird. Zur Begründung 
        erklären die Großstädter, auch die so genannten "sozialen 
        Brennpunkte" oder "Problemzonen" in ihrem Bezirk würden 
        als nicht rentabel für die Aufrechterhaltung öffentlicher Dienstleistungen 
        eingestuft, da die Kundschaft hier wenig finanzkräftig sei. 
      Die Postbank, die bisher keine finanzschwachen KundInnen 
        abweisen darf (für die Zukunft wird das Gegenteil befürchtet, 
        da sie nach einem derzeit im Parlament anhängigen Gesetzentwurf in 
        ein eigenständiges Kreditinstitut umgewandelt werden soll) ist der 
        größte Finanzdienstleister in dem 
        Département nördlich von Paris. Die Privatbanken erheben für 
        zahlreiche Menschen dort zu hohe Gebühren, auch wenn ihr Service 
        besser ist. Aber auch in Seine-Saint-Denis befürchtet man für 
        die Zukunft einen Kahlschlag bei den "nicht rentablen" Services 
        publics. 
       Bereits 
        heute allerdings ist die Lage für die Einwohner des insgesamt "finanzschwachen" 
        Départements nicht rosig und drückt sich u.a. in oft extrem 
        langen Warteschlangen an den Postschaltern aus. Denn bereits heute (wo 
        La Poste noch immer ein Service public ist und noch nicht vollständig 
        wie ein Privatunternehmern verwaltet wird) richtet sich die Zahl der an 
        einem Ort oder in einem Stadtteil geöffneten Postbüros nach 
        dem Kriterium des Umsatzes in Geld, nicht nach der Anzahl der Köpfe 
        der Einwohnerschaft oder jener der registrierten PostkundInnen. Deswegen 
        gibt es im relativ menschenarmen und superteuren 8. Arrondissement von 
        Paris kaum Warteschlangen, da dort viele größere Unternehmen 
        ihren Sitz haben  und die bestehen auf "ihrem" Service, 
        ohne Verzögerung durch lästiges Warten! In den ärmeren 
        Stadtteilen von Paris oder gar in den Banlieues sieht die Lage dagegen 
        völlig anders aus. (Das ist übrigens auch ein Problem hinsichtlich 
        der Schaffung politischen Bewusstseins für die Gefahr der Privatisierung 
        öffentlicher Dienste. Denn wenn man in öffentlichen Aktionen 
        darauf aufmerksam macht, wie ATTAC sie in der Vergangenheit unternahm 
        und derzeit Gegner der neoliberalen EU-Verfassung sie vornehmen, dann 
        bekommt man mitunter von  verständlicherweise entnervten  
        Postkunden in den langen Warteschlangen zu hören: "Na, er ist 
        wirklich toll, Euer Service public! Und das soll ich verteidigen? Geschieht 
        denen ganz recht!") 
       Regierung versucht Gemüterberuhigung 
       Die 
        Regierung von Jean-Pierre Raffarin versuchte in den letzten Wochen bereits 
        die Gemüter zu beruhigen. Anlässlich des Beginns der Parlamentsdebatte 
        um das neue Postgesetz Ende Januar 05 erklärte er, nirgendwo würden 
        zukünftig Postbüros einfach so geschlossen  stets werde 
        für Ersatz durch so genannte "Points de service" gesorgt, 
        darauf werde die Regierung achten. 
      Das ist freilich eine Mogelpackung, denn diese Servicepoints 
        werden in der Regel aus einem Briefmarkenverkauf beim Einzelhändler 
        bestehen, der dazu durch die Post ermächtigt wird. Dort wird man 
        aber weder Pakete und Einschreiben abschicken noch Postbankoperationen 
        vornehmen können; allenfalls ist in den Auflagen das Abheben von 
        maximal 150 Euros vom Postsparbuch "zur Nothilfe" (pour dépannage) 
        vorgesehen. Die linke Postgewerkschaft SUD PTT hat im Übrigen auf 
        einem vierseitigen Faltblatt, das in der Demo verteilt wird, haargenau 
        aufgelistet, welche "opérations" (Dienstleistungen) in 
        einem Postbüro möglich sind  und welche an einem "Point 
        de service" nur noch angeboten werden. Ein tragbarer "Point 
        Poste" wird symbolisch in den Reihen der SUD-Basisgewerkschafter 
        mit herumgetragen. 
       Die Linke ist dabei, aber Sozi-Oberkarnickel 
        stößt auf kalten Empfang 
       Neben 
        den Kollektiven für den Erhalt der Services publics aus vielen Départements 
        sind auch aus mehreren Teilen Frankreichs Gewerkschafter der CGT, der 
        Lehrergewerkschaft FSU und (mit dem wohl stärksten Block dabei) der 
        linksalternativen SUD-Gewerkschaften angereist. 
      Auch politische Vertreter aus der gesamten Linken sind dabei. 
        Das Spektrum reicht von den undogmatischen Trotzkisten (mit dem "Briefträger", 
        dem ehemaligen Präsidentschaftskandidaten der LCR und SUD-Gewerkschafter, 
        Olivier Besancenot) bis hin zum Chef des Parti Socialiste (PS): François 
        Hollande. Der bekommt freilich eine Ladung Schneebälle aus der Demonstration 
        ab, von GegnerInnen der neoliberalen EU-Verfassung die durch Hollande 
        ebenso wie durch die regierende bürgerliche Rechte unterstützt 
        wird: Ein flagranter Widerspruch zu seinem Eintreten gegen die Folgen 
        neoliberaler Politik in der Creuse, meinen viele Demonstranten. Auch einige 
        PS-Mitglieder stimmen zu. 
       Die 
        KP ihrerseits hat recht massiv mobilisiert und hält 30 Minuten vor 
        Demobeginn eine Pressekonferenz im Obergeschoss des Rathauses von Guéret 
        ab  ohne Beteiligung der anderen Kräften, was man als leichte 
        Vereinnahmung betrachten mag. Zusammen mit der KP-Chefin Marie-George 
        Buffet treten mehrere örtliche Bürgermeister und Bezirksparlamentarier 
        der KP auf. Ich 
        schmuggele mich in die Pressekonferenz ein, zusammen mit meinem Kumpel 
        Rafiq. (Das ist der, der an nur einem Wochenende 60 mal hintereinander 
        in die französische KP eintrat. Doch doch: Auf dem jährlichen 
        KP-Fet "Fête de 'Humanité" gibt es nämlich 
        für jedes Neumitglied Freibier. Am Ende übernachtete er unter 
        dem Tisch im Bierzelt...) Marie-George Buffet verknüpft das Nein 
        zum Kahlschlag bei den Services publics mit dem Nein zur neoliberalen 
        EU-Verfassung, über die Frankreich am 29. Mai abstimmen wird. Einer 
        von den lokalen KP-Bezirksparlamentariern ergreift das Wort: "Sie 
        konnte alle die schöne Landschaft hier bewundern. Wir wollen auch 
        die gute 
        Luft und die Landschaft hier erhalten, aber deswegen wollen wir nicht 
        in einem Museum leben, wo am Ende nur noch wenige Rentner für die 
        Besucher ausgestellt sind." 
      Die örtliche Rechte war dagegen wenig begeistert von 
        der Mobilisierung für die Belange der Services publics in der Creuse, 
        ebenso wenig wie der lokale Ableger des Unternehmerverbands MEDEF ("Das 
        schafft ein schlechtes Image für die Region"). Unterwegs gibt 
        es bei einem UMP-Büro in Guéret leichten Glasschaden  
        ja, schlimm, erschröcklich. 
       Ausblick auf eine bewegte Woche und - heute 
       Die 
        Demo von Guéret bildete nur den Auftakt zu einer insgesamt bewegten 
        sozialen Woche. Am Dienstag und Donnerstag mobilisieren erneut die französischen 
        SchülerInnen, zusätzlich am Donnerstag die Gewerkschaften, die 
        gegen Lohnverlust und Arbeitszeitverlängerung protestieren. Regierung 
        und Patrioten fürchten, dass darüber die Pariser Bewerbung für 
        die Olympischen Spiele von 2012 ins Wasser fallen dürfte. Denn just 
        am Donnerstag kommt das Internationale Olympische Komitee zu Besuch. Echtes 
        Pech. 
        
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