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Updated: 18.12.2012 16:00
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Wenn Frankreich neben Madagaskar liegt...gibt es trotzdem (heftige) soziale Proteste

"Kennen Sie das 101. französische Département – also den 101. jener durch die Revolution und durch Napoléon geschaffenen Verwaltungsbezirke, von denen bis vor kurzem galt, dass es einhundert davon gibt? Nein? Macht nix. Er existiert auch erst seit dem 1. April dieses Jahres. Doch im Augenblick macht die Insel, die den Bezirk ausmacht, durch heftige soziale Unruhen über ihre geographischen und verwaltungsmäßigen Grenzen hinaus von sich reden" - so beginnt der aktuelle Beitrag "Mayotte: Äußerst heftige soziale Unruhen im französischen „Überseebezirk“" von Bernard Schmid vom 21. Oktober 2011

Mayotte: Äußerst heftige soziale Unruhen im französischen „Überseebezirk“

Kennen Sie das 101. französische Département – also den 101. jener durch die Revolution und durch Napoléon geschaffenen Verwaltungsbezirke, von denen bis vor kurzem galt, dass es einhundert davon gibt? Nein? Macht nix. Er existiert auch erst seit dem 1. April dieses Jahres. Doch im Augenblick macht die Insel, die den Bezirk ausmacht, durch heftige soziale Unruhen über ihre geographischen und verwaltungsmäßigen Grenzen hinaus von sich reden.

An jenem Tag im Frühjahr 2011 wurde die Insel im Indischen Ozean, die bislang einen Sonderstatus als „Überseegebiet“ hatte, zum französischen Département und damit – administrativ betrachtet – „festen Bestandteil des französischen Mutterlands“. Ähnlich wie bereits zuvor die Antillen (Karibikinseln) La Martinique und Guadeloupe sowie La Réunion, das 1.700 Kilometer südöstlich von Mayotte liegt. Letzteres gehört zur Inselgruppe der Komoren. Der Archipel, früher eine französische Kolonie und wurde im Jahr 1975 eine unabhängige Republik. Dem ging eine Volksabstimmung über die Alternativen „Unabhängigkeit“, Beibehaltung des Status Quo oder „Eingliederung in die französische Republik“ voraus. Die französische Kolonialmacht hatte zuvor in Aussicht gestellt, dass sie die Ergebnisse der Abstimmung respektieren werde. Nachdem jedoch überall auf dem Archipel eine Mehrheit für die Unabhängigkeit gestimmt, jedoch einzig auf Mayotte eine Mehrheit für einen Verbleib bei Frankreich votiert hatte, revidierte die französische Staatsmacht ihre ursprüngliche Position – statt die Komoren insgesamt in die Unabhängigkeit zu entlassen, gliederte sie nunmehr die Insel Mayotte aus dem Archipel aus und unterstellte sie, mit einem Sonderstatus (ähnlich dem Neukaledoniens im Westpazifik) versehen, der Französischen Republik. Aufgrund seiner Lage im Indischen Ozean, nördlich von Madagaskar und östlich der afrikanischen Küsten, hat Mayotte eine hohe strategische Bedeutung für Frankreich.

Am 29. März 2009 stimmte die Inselbevölkerung über ihre endgültige Angliederung an Frankreich ab. Und 99 % sagten „Ja“ dazu. Motiviert war dieses Votum, überwiegend, durch die (vermeintliche) Aussicht auf Rechtsgleichheit gegenüber den Bürger/inne/n im europäischen Festlandfrankreich: Reisefreiheit durch den Besitz eines europäischen Passes, Existenz einer sozialen Mindestabsicherung, von Krankenkasse und von Sozialleistungen, usw. Doch die Aussicht trog zumindest zum Teil: Den aktuellen „Sozialhilfe“satz in Frankreich (früher RMI, jetzt RSA = „Sozialhilfe“ kombinierbar mit Niedrigstlöhnen, je nach familiärer Situation 467 Euro respektive 600 Euro für eine Person ohne Kind) gibt es nunmehr zwar auch auf Mayotte – aber nur in Höhe von 25 % des im europäischen Kontinentalfrankreich geltenden Satzes. Ein Viertel. Gerechtfertigt wird dies durch „niedrigere Lebenshaltungskosten vor Ort, in einer anderen wirtschaftlichen und sozialen Umgebung“. Der geviertelte RSA existiert noch nicht einmal, sondern soll nunmehr zum 1. Januar 2012 eingeführt werden (vgl. http://www.outre-mer.gouv.fr/?mayotte-le-rsa-en-place-au-1er-janvier-2012-penchard.html ). Nach fünf Jahren – für diese Dauer ist der Satz blockiert – kann über seine eventuelle Erhöhung diskutiert werden. (Vgl. http://www.zinfos974.com/RSA-Mayotte-l-enfant-delaisse-de-la-France_a32125.html )

Aber billig ist das Leben vor Ort dennoch nicht: Wie in vielen französischen „Überseegebieten und –bezirken“ existiert eine Art „Konsumkorridor mit der Metropole“. Das bedeutet, dass viele Waren und besonders Industrie- und Fertigprodukte nicht mit der näheren geographischen Umgebung – das wären in diesem Falle etwa die übrigen Komoreninseln (die keine Industrie, sondern eine vor allem landwirtschaftlich geprägte Exportökonomie aufweisen), Madagaskar und Ostafrika – ausgetauscht, sondern aus dem europäischen Frankreich importiert werden. Und entsprechend teuer sind. Dies sorgte immer wieder für soziale Unruhen, etwa in der „französischen Karibik“, wo französische Staatsbeamte (die oft aus der Metropole kommen) deswegen 40 % Gehaltszuschlag als „Teuerungsausgleich“ beziehen, den lokale Arbeitskräfte jedoch nicht automatisch erhalten. In vielen „Überseegebieten und –bezirken“ wurden deswegen zumindest Preisobergrenzen fixiert, Höchstpreis für Importwaren aus der französischen „Metropole“.

Auf Mayotte jedoch waren bislang viele Waren noch erheblich teurer als auf der Insel La Réunion, dem geographisch nächst gelegenen französischen Verwaltungsbezirk. Eine Zwölf-Liter-Gasflasche (wie sie zum Kochen benutzt werden) kostet etwa 31 Euro gegenüber 24 in den anderen „Überseebezirken“. Manche Nahrungsmittel kosten drei mal so viel wie in Festlandfrankreich.

Am 27. September begann eine soziale Bewegung „gegen das teure Leben“ (contre la vie chère), nach Vorbild jener sozialen Protestbewegungen, die es seit 2008 – und dem damaligen Anstieg der Grundnahrungsmittelpreise in ganz Afrika – in großen Teilen des afrikanischen Kontinents gegeben hatte. Ausgelöst worden war die Bewegung durch die örtlichen Ableger der beiden Gewerkschaftsverbände CGT und CFDT, denen sich alsbald die Gewerkschaften FO und CGC (leitende Angestellte) sowie drei lokale Verbraucher/innen/verbände hinzugesellten. Schon bei den ersten Demonstrationen rappelt es im Karton (vgl. http://www.lefigaro.fr/flash-actu/2011/09/27/97001-20110927FILWWW00774-heurts-lors-de-manifs-a-mayotte.php ). Wochenlang kam es zu vielfachen Demonstrationen und Protestversammlungen. Es schepperte derart, dass etwa die französische Sozialdemokratie ihre Mitgliederabstimmung – zur Ernennung ihres Präsidentschaftskandidaten – vom 09. und 16. Oktober d.J. auf der Insel absagen musste. (Vgl. http://www.lemonde.fr/primaire-parti-socialiste/article/2011/10/08/la-primaire-ps-annulee-a-mayotte-en-raison-de-la-situation-tendue_1584590_1471072.html )

Am Montag dieser Woche scheiterten, vorläufig, die vorgenommenen Verhandlungen über eine Einigung zur Preisbegrenzung (vgl. http://www.lemonde.fr/societe/article/2011/10/17/mayotte-les-negociations-au-point-mort_1589361_3224.html ) Vor allem jedoch wurde am Mittwoch dieser Woche ein 39jähriger Demonstrant, Ali Elanziz, getötet. (Vgl.
http://www.lefigaro.fr/flash-actu/2011/10/19/97001-20111019FILWWW00454-mayotte-mort-d-un-manifestant.php ) Die Präfektur spricht davon, er sei an Herzversagen gestorben, weil er zuvor eine unsachgemäße Behandlung – falsche Herzmassagen – erhalten habe. (Vgl. http://www.lefigaro.fr/flash-actu/2011/10/20/97001-20111020FILWWW00700-mort-a-mayotte-soins-en-cause.php) Die Protestierenden vermuten eher einen schädlichen Einfluss des eingeamteten Reiz- oder Tränengases, und fordern jetzt den Rücktritt des Präfekten. Dieses traurige Ereignis schüttet nochmals Öl ins Feuer der sozialen Wut.

Labournet wird seine Leser/innen in den kommenden Tagen detailliert über den Fortgang der Ereignisse berichten.

Artikel von Bernard Schmid vom 21.10.2011


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