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Updated: 18.12.2012 15:51
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Antwort auf die Unruhen - Die neuen Maßnahmen der Regierung im Einzelnen:

(1) Repressive Maßnahmen und (2) "soziales Begleitmenü"

Die Verhängung des Ausnahmezustands durch das Regierungskabinett unter Dominique de Villepin am Dienstag bezeichnet eine qualitativ neue Unstufe im Umgang mit den "sozialen Brennpunkten" der französischen Trabantenstädte. Dem Regierungsbeschluss, den Premierminister de Villepin am Montag abend in einer Fernsehansprache ankündigte, gingen 24 Stunden extremer Dramatisierung der jüngsten Unruhen in den Medien voraus. Erstmals seien zwei Polizisten durch Schüsse mit scharfer Munition schwer verletzt worden, hieß es, und man musste verstehen: lebensgefährlich. Mittlerweile erfuhr man, dass die Beamten nach 24 Stunden bereits wieder aus dem Krankenhaus entlassen wurden und nicht mit potenziell tödlicher Munition, sondern mit Schrot beschossen worden waren. Nicht sympathisch oder angenehm, aber eben auch nicht lebensbedrohend und von anderer "Qualität" als der Einsatz scharfer Munition.

Von einem Kriegsszenario sind die Unruhen weit entfernt. Dennoch fällt es auch schwer, in ihnen eine Perspektive vorwärts weisender Gesellschaftsveränderung zu erkennen. Dabei spielt vor allem der Mangel an sozialer Differenzierung eine Rolle: Angezündet wurden zumeist die Autos der - relativ oder absolut armen - Nachbarn innerhalb der Trabantenstädte, nicht die Güter von Wirtschaftsbossen oder Politikern. Innerhalb der Trabantenstädte äußert ein Großteil der Bevölkerung in den Hochhausvierteln (nicht in den benachbarten Reihenhaussiedlungen und Villenvierteln, die ebenfalls als als eingestreute Enklaven zur Banlieue gehören) Verständnis für die Motive der Jugendliche bei gleichzeitiger, oft scharfer Kritik an ihren konkreten Aktionsformen. Außerhalb der Banlieues dagegen herrscht eine Optik vor, die nicht mehr dahinter stehende Armut, sondern die Armen (oder jedenfalls deren Jugend) und ihr Verhalten als das vermeintliche Problem wahrnimmt. 73 Prozent der Franzosen sollen laut einer Umfrage des Instituts CSA, die am Mittwoch morgen bekannt wurde, angeblich die Verhängung des Ausnahmezustands über die besonders betroffenen Zonen begrüßen.

(1) Was bedeutet der Ausnahmezustand?

Am Abend des Montag, 7. November kündigte der französische Premierminister Dominique de Villepin die bevorstehende Verhängung einer Ausgangssperre über von den Unruhen betroffene Zonen aus. Eine eilig vorgezogene Kabinettssitzung beschloss am Dienstag früh, dazu ein altes Gesetz über den Ausnahmezustand vom 3. April 1955 wieder in Kraft zu setzen. Dieses Gesetz erteilt den Präfekten, den juristischen Vertretern des französischen Zentralstaats in den Départements und Regionen, die Vollmacht, ein allgemeines Ausgangsverbot zu bestimmten Zeiten zu verhängen. Es wurde damals im Zusammenhang mit dem 1954 begonnenen Kolonialkrieg in Algerien, und seinen Auswirkungen auch im französischen Kernland, verabschiedet. Seit dem Ende des Algerienkriegs wurde es in Frankreich nicht mehr angewandt. (Jedenfalls nicht auf dem Kontinent; im "Überseegebiet", wo Frankreich mit einer Unabhängigkeitsbewegung konfrontiert war, wurde es zuletzt im Dezember 1984 angewandt.)

Falls die Ausgangssperre über mehr als 12 Tage hinaus verlängert wird, muss dann die Zustimmung des Parlaments eingeholt werden. Eine entsprechende Vorlage an die Abgeordneten befindet sich derzeit in Vorbereitung. An einem entsprechenden Votum der Nationalversammlung würden aber wohl nur geringe Zweifel bestehen, da die konservative Rechte (die bei der Parlamentswahl 2002 von rund 40 Prozent der Teilnehmenden, aber nur 29 Prozent der Stimmberechtigten gewählt wurde) aufgrund des Mehrheitswahlrechts über fast zwei Drittel der Sitze verfügt.

Am Mittwoch früh um 00.00 trat das Regierungsdekret zum Ausnahmezustand in Kraft, und damit griff auch erstmals die Ausgangssperre, die durch die Präfekten (präventiv, d.h. noch vor Inkrafttreten der Verordnung) verhängt worden war. Dies war vor allem in einigen Zonen außerhalb des Großraums Paris, etwa in Amiens und seinen Vorstädten sowie in Orléans, der Fall. (Auch die mittelgroßen französischen Städte in der "Provinz" haben ihre Banlieues. Denn die Aufteilung des sozialen Raums im Sinne der Dreiteilung "Eigentliche Stadt - Banlieue - Land" galt im Frankreich der Nachkriegszeit Jahrzehnte lang als Patentrezept zur Verwaltung der "sozialen Frage.")

Im Ballungsraum Paris war die Ausgangssperre in der Stadt Le Raincy, nordöstlich von Paris, bereits ein paar Stunden früher in Kraft. Dort hatte der Bürgermeister Eric Raoult, Mitglied der konservativer Regierungspartei UMP und ehemaliger Städtebauminister der Regierung von Alain Juppé (1995 bis 97), eine solche Ausgangssperre eigenmächtig per Verordnung des Rathauses verhängt. Sie gilt für alle Minderjährigen in der Zeit zwischen 22 und 6 Uhr. Dabei hat Le Raincy überhaupt keine "sozialen Problemviertel", vielmehr bildet die Stadt ein bürgerliches Einsprengsel inmitten des (sub)proletarisierten Bezirks Seine-Saint Denis. Insgesamt wurden seit Beginn der Unruhen in Le Raincy lediglich drei Autos angekokelt, es fanden keinerlei sonstigen Ausschreitungen oder Übergriffe auf Gebäude statt. Dies bestätigt übrigens die Aussagen des Staatsanwaltschaft der Bezirkshauptstadt Bobigny, François Molets, der vor dem Hintergrund der an seinem Gerichtsstandort bereits gelaufenen Prozesse gegen Teilnehmer an den Unruhen (es setzte bisher 20 Verurteilungen zu Haft ohne Bewährung, bis zu einem Jahr), der angibt: "Die Jugendlichen zündeln da, wo sie wohnen. Der Wohnort und die Orte, wo die Festgenommenen aufgegriffen wurden, liegen fast immer sehr nahe beieinander. Es gibt keinerlei Organisation hinter den Unruhen. Im Gegenteil gibt es in den Vierteln, wo sich Mafiagruppen oder Islamisten festsetzen konnten, fast keine Unruhen, sie werden durch diese Gruppen (Anmerkung B.S.: die kein Interesse daran haben, die Polizei auflaufen zu sehen...) verhindert."

Obwohl in seiner "eigenen" Kommune kaum ein Risiko größerer Ausschreitungen besteht, beruft sich Eric Raoult darauf, dass die Leute aus den Nachbarstädten ein Risiko darstellen: "Die Bewohner von Clichy -sous-Bois und Montfermeil gehen/fahren hier durch, um nach Hause zu kommen". Dazu muss man wissen, dass Clichy-sous-Bois, von wo die Unruhen ausgingen, nicht einmal an das Netz der Vorortbahn angeschlossen ist. Clichy-sous-Bois weist eine Soziologe ähnlich einer Dritte-Welt-Stadt auf: 80 Prozent der Wohnungen liegen in Hochhäusern und Plattenbauten, 50 Prozent sind jünger als 25 Jahre, offiziell sind 25 Prozent arbeitslos. Selbstverständlich liegt dies nicht daran, dass auch einige Leute aus der Dritten Welt dorthin eingewandert sind, sondern daran, dass die französische Gesellschaft all ihre "Probleme" verwaltet, indem sie die Personen mit sozialen Problemen oder schlicht mit wenig Geld in solchen Örtlichkeiten konzentriert. Im Endeffekt erscheint dann der Wohnort als Kennzeichen dafür, dass die Menschen selbst "Träger von sozialen Problemen", wie etwa eines Bazillus, seien. Das widerspiegeln auch die Äußerungen von Bürgermeister und Ex-Minister Raoult.

In den Zonen, wo die Unruhen in den Tagen zuvor extrem aufflammten und derzeit (jedenfalls im Großraum Paris) im Abflauen begriffen zu sein scheinen, dagegen wurde bisher noch keine formelle Ausgangssperre verhängt. Dies gilt etwa für die südlich von Paris gelegene Trabantenstadt Grigny und ihre besonders verrufene Plattenbausiedlung La Grande Borne, wo am frühen Sonntag Abend die Schrotflintenschüsse auf Bereitschaftspolizisten der kasernierten Einheit CRS abgegeben worden waren. Auch (bisher) ohne Verhängung einer Ausgangssperre war es dort in der Nacht vom Dienstag zum Mittwoch ruhig. In einer Radiosendung am Mittwoch früh zeigten sich Jugendliche sogar überzeugt, ein solches Ausgangsverbot habe dort bereits zu greifen begonnen, was juristisch jedenfalls nicht der Fall ist.

Statt von einem Erfolg der Ausgangssperre bei einer "Rückkehr zur Ordnung" kann daher wohl eher von einem Abflauen der Unruhen, der mit ihrer strategischen Perspektivlosigkeit (die der Form des teilweise selbstzerstörerischen Riots entspricht) und der Erschöpfung der Energien einhergeht.

Positionen und Äußerungen zur jüngst verhängten Ausgangssperre

Im Namen der Polizeigewerkschaft Alliance verkündete ihr Generalsekretär Jean-Luc Garnier am Montag abend, er sei "skeptisch" hinsichtlich einer solchen Entscheidung. Ihre Umsetzung erfordere eine hohe Anzahl und Konzentration von Einsatzkräften in den betroffenen Gebieten, und "wir kommen dann notwendigerweise mit ganzen Bevölkerungsgruppen in Konflikt, die überhaupt nichts mit den Unruhen zu tun haben". In besonders stark betroffene Örtlichkeiten wolle er den Sinn  einer solchen Maßnahme jedoch nicht ausschließen. In Radioberichten wurde kritisch angemerkt, eine solche Ausgangssperre drohe sich etwa auch gegen spät von ihrer Arbeit heimkehrende Einwohner der Banlieues zu richten. (Es sei denn, dass eine altersmäßige Differenzierung im Hinblick auf ihre "Zielgruppen" vorgenommen wird. Aber das erfordert dann wohl wiederum eine hohe Kontrolldichte.)

Seitens der französischen Sozialdemokraten erklärte ihr Parteivorsizender François Hollande am Montag abend lediglich, seine Partei werde "über den guten Gebrauch dieses Gesetzes wachen". Sein Parteifreund, der ehemalige "sozialistische" Premierminister Lionel Jospin (1997 bis 2002) erklärte am Dienstag in einem Radiogespräch, er halte die Reaktivierung von repressiven Bestimmungen aus dem Algerienkrieg für "kein sehr gelungenes Symbol". Wenn die Regierung sich aber sonst "nicht in der Lage" sehe, die Ordnung auf anderem Wege herzustellen, solle sie dies tun; er, Jospin, werde dann darauf achten, dass die Regierung diese Bestimmungen "mit Finesse anwendet" (sic). Ansonsten verhaspelte Jospin sich und sprach von "cessez-le-feu" (Waffenstillstand) statt, was richtig gewesen wäre, vom "couvre-feu" (Ausgangssperre).

Die Grünen kritisierten in einer ersten Stellungnahme vom Montag abend den "völlig überzogenen Charakter der Maßnahme" und warfen der Regierung vor, eine "Strategie der Spannung" zu verfolgen. Die trotzkistisch-undogmatische LCR sprach davon, die Regierung habe bisherige Vorschläge der extremen Rechten übernommen, deren alternder Chef Jean-Marie Le Pen schon vor 10 Jahren permanent solche Maßnahmen (aber auch die Entsendung der Armee in die Trabantenstädte, was die Regierung bisher noch verweigert, wenngleich sie es nicht definitiv ausschließen möchte) forderte.

Anlass überdramatisiert?

Dabei scheint es, dass man das Ereignis, das dem Beschluss zur Verhängung der Ausgangssperre um 24 Stunden voraus ging, offenkundig stark dramatisiert dargestellt hat.

Am Sonntag abend im Radio und Fersehen, am Montag früh in der Presse war viel von Schüssen aus "einem Jagdgewehr" und einer Pistole in der Hochhaussiedlung La Grande Borne, in Grigny, die Rede. Dort waren am frühen Abend des Sonntag etwa 60 Beamte der kasernierten Bereitschaft CRS und der weitgehend militarisierten Sondereinheit BAC in einen Hinterhalt von rund 200 Jugendlichen geraten. Im Zuge davon war von "zwei schwer verletzten Polizisten" im Krankenhaus die Rede. Man musste also verstehen, dass hier erstmals mit scharfer (d.h. potenziell tödlicher) Munition geschossen worden war, und dass zwei Beamte lebensgefährlich verletzt worden waren. Nunmehr, da sämtliche Aufmerksamkeit nur noch auf den Ausnahmezustand und die Ausgangssperre - und ihre Auswirkungen -gerichtet ist, klingt das aber plötzlich alles "eine Nummer kleiner". Das Gewehr war demnach in Wirklichkeit mit Schrotkugeln geladen, die zwar verletzen können, aber im Gegensatz zu Hartmantelgeschosse keineswegs eine potenziell tödliche Wirkung haben.

Sämtliche Polizisten, die verletzt worden sind, also auch die beiden als schwerverletzt bezeichneten, waren schon am Montag abend, also spätestens 24 Stunden nach den Schüssen, wieder aus dem Krankenhaus entlassen worden (wie "Libération" vom Dienstag, in einem kleineren Artikel, schreibt). Allerdings sind sie für zwei Wochen krankgeschrieben. Nun wird man es keineswegs als toll, angenehm oder sympathisch betrachten dürfen, Schüsse mit Schrotmunition auf Personen - und seien sie Polizisten - abzugeben. Aber vom Einsatz von Kriegswaffen und potenziell tödlicher Munition war die Szene am Sonntag doch offenkundig noch ziemlich weit entfernt. Die breite Medienberichterstattung über diese Schüsse, und ohne diese Präzisierungen, hat 24 Stunden vor dem Beschluss über die Verhängung des Ausnahmezustands einen Eindruck erweckt, als stünde Frankreich wirklich in einer Situation, wo Kriegswaffen von den "Aufrührern" eingesetzt werden.

In Grigny und an anderen Orten wurden mittlerweile Lehrerinnen und Lehrer, Kindergartenpersonal und andere Bürger selbst aktiv, unter anderem um Schulen und Einrichtungen für Kinder vor Zerstörungen zu beschützen. An einer Reihe von Orten wurden auch diese zu Zielscheiben von Attacken, da sie den jugendlichen Aufrührern als Staatssymbole erscheinen, auf diesen Gebäuden flattert zumeist eine Trikolorefahne. An vielen Orten haben diese "Besetzungen" von Gebäuden, um sie zu beschützen, rein defensiven Charakter wie in Grigny. Auch in Drancy nördlich von Paris beschränkten sich die Teilnehmer bei den selbstorganisierten "Wachen" darauf, Randalierer von Zerstörungen abzuhalten. In zwei Fällen wurden sie der Polizei übergeben. Andernorts, etwa in Asnières (nicht in Argentueil, wie zunächst fälschlich geschrieben), sprechen Berichte dagegen mittlerweile von richtigen "Bürgerwehren", von denen möglicherweise ihrerseits eine gefährliche Dynamik ausgehen könnte. Im Fall von Asnières wurde diese durch die Stadtregierung mit Funkgeräten und anderer Logistik ausgestattet.

(2) Soziales Begleitmenü

Ferner kündigte Dominique de Villepin als "soziale Begleitmaßnahmen" an, die öffentlichen Finanzierungshilfen für die associations (Bürgerinitiativen, Vereine) in den sozialen Brennpunkten wieder herzustellen; sie waren durch autoritäre Sparmaßnahmen in diesem Jahr um 20 bis 30 Prozent amputiert worden.

Außerdem soll die bis zum Alter von 16 geltende gesetzliche Schulpflicht verkürzt werden, um Jugendlichen zu erlauben, bereits ab 14 Jahren in ein Lehrverhältnis einzutreten. Die Lehrergewerkschaften zeigen sich äußerst kritisch dazu. So erklärte die mit Abstand größte Gewerkschaft im Bildungswesen, die FSU (durch den Mund ihres Generalsekretärs Gérard Aschieri), eine solche Maßnahme drohe "die Jugendlichen noch tiefer in die Prekarität hinein zu drücken". da sie so auf Dauer gering qualifiziert blieben. In Frankreich besteht kein zweigliedriges Schulsystem, und höhere berufliche Qualifikationsgrade setzen ein höheres allgemeines Schulbildungsniveau voraus. Im übrigen löse die Maßnahme nicht das zentrale Problem der Diskriminierungen gegen Migrantenkinder und Banlieuebewohner auf dem Arbeitsmarkt. Die Lehrergewerkschaft UNSA-Education sprach von "einer frühen schulischen und beruflichen Segregation jetzt schon ab 14 Jahren".

Die Regierung beruft sich hingegen darauf, ihr Beschluss erlaube es, sich um die wachsende Zahl von "Schulversagern" und -abbrechern zu kümmern. Damit spricht sie ein reales Problem an, das auch von vielen Lehrkräften angesprochen wird, die das bisherige System (aus Schulpflicht bis 16 Jahre plus eingliedrigem Schulsystem bis zum Eintritt in die Oberstufe) als auf hehren, aber sehr theoretischen Ansprüchen basierend ansehen. Die Bildungsgewerkschaften antworten darauf aber, dass endlich mehr für das marode und an gravierenden Mängeln leidende Schulsystem in den sozialen Brennpunkten getan werden müsse. Sie warnen seit Jahren vor den Auswirkungen. Im März 1998 hatte die Lehrerschaft des Départements Seine-Saint Denis - jenes nördlich und östlich an die Hauptstadt Paris angrenzenden Bezirks, der Ausgangsort und Schwerpunkt der jüngsten Unruhen war - mehrere Wochen lang für ausreichende Mittel gestreikt. Ab Ende März 2003 war es wiederum die Lehrerschaft in jenem Département, die zur "Lokomotive" des flächendeckenden Ausstands im Bildungswesens wurde, der sechs Wochen später auch im übrigen Frankreich begann und sich u.a. gegen die von der konservativen Regierung geplante "Dezentralisierung" im Bildungswesen richtete. Von dieser "Dezentralisierung", die mit der Abwälzung der Verantwortung vom Zentralstaat auf die - wirtschaftlich sehr ungleich gestellten - Départements und Regionen gleichbedeutend war, befürchteten die Beschäftigten im Bildungswesen eine weitere dramatische Verschärfung der Ungleichheiten, auf Kosten der Schulen in sozialen Brennpunkten. Da der mehrmonatige Streik im Frühsommer 2003 im Wesentlichen mit einer Niederlage endete, konnten die gefürchteten Entwicklungen nur teilweise aufgehalten werden.

Am Dienstag im Parlament verkündete Premierminister Dominique de Villepin ansonsten, seine Regierung werde zusätzliche « zones franches » (ungefähr : Sonderzonen, wirtschaftliche « Freizonen ») in den Banlieues einrichten. Diese "Freizonen", deren Schaffung Mitte der 90er Jahre durch die konservative Regierung von Alain Juppé begonnen wurde, sollen der Schaffung von Arbeitsplätzen dienen. Konkret eröffnen sie denjenigen Unternehmen, die sich dort ansiedeln und mindestens ein Drittel dort lebender Arbeitskräfte einstellen, die Option auf weitgehende Steuerbefreiung und Reduzierung von Sozialabgaben. Bisher gibt es bereits 85 solcher Sonderzonen, die Regierung Villepin hat jetzt die Schaffung von15 weiteren angekündigt. Dass dies die soziale Misere reduzieren wüde, ist kaum ernsthaft anzunehmen. Seitens des Arbeitgeberverbands MEDEF haben Unternehmer, die in der Vereinigung "Croissance Plus" (welche der neuen MEDEF-Präsidentin Laurence Parisot nahe steht) zusammen geschlossen sind, am Mittwoch früh erklärt, dieser Beschluss werde sie nicht zur Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze in den Trabantenstädten bewegen. Dem stehe ein "Imageproblem" für die Unternehmen, die sich dort ansiedeln, aber auch die schlechte Transportanbindung der besonders heruntergekommenen Trabantenstadtsiedlungen entgegen.

Schließlich hat Premierminister de Villepin auch noch angekündigt, alle jungen Nichtbeschäftigten aus den Trabantenstädten, die dies wünschten oder beantragten, würden in den kommenden drei Monaten zu Gesprächen bei den Arbeitsämtern (ANPE) vorgeladen. Bisher können junge Leute, die noch nie einen Arbeitsvertrag besaßen, sich nicht bei den Arbeitsämtern einschreiben und vor dem Alter von 25 Jahren auch keine Sozialhilfe (die, nach unten hin, altersbegrenzt ist) beantragen. Ihnen bleibt daher nur, ohne eigenes Geld in den vier Wänden der Eltern zu bleiben oder aber sich in der "Parallelökonomie" an illegalen Aktivitäten zu versuchen. De Villepin verkündete, diesen Jugendlichen aus den "sozialen Problemvierteln" würden nunmehr bei den Arbeitsämtern "Arbeits- oder Ausbildungsvorschläge" zuteil werden. Ob dies mehr als ein Krisenverwaltungs-Placebo bringen wird, bleibt abzuwarten...

Bernhard Schmid (Paris). 09. November 2005


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